Nele
Als ich völlig verspannt, mit hämmernden Schläfen nach meinem Schlüssel fischte, fiel mir siedend heiß ein, dass heute mein VHS-Yoga-Kurs anfing. Statt mich zu freuen, warf ich einen gehetzten Blick auf mein Handy und stellte fest, dass ich in zehn Minuten losgehen musste. Mein Magen rebellierte laut. Mist. Ich sperrte die Tür auf und warf meinen Rucksack auf den Boden, kickte die Schuhe in die Ecke und stolperte die Treppe hoch. „MAMA!“ Freja lief mir mit Lätzchen um den Hals entgegen. „Kommst du von der Arbeit? Ich hab’ eine Brezel bekommen! Komm! Komm!“ Sie schnappte meine Hand und zog mich in die Küche. Mein Herz brach ein wenig. Ich wollte gerne bleiben. Andererseits wollte ich auch zum Yoga! Gleich den ersten Termin zu verpassen, wäre kein guter Start.
Anton saß auf der Eckbank und las in einer bereits zerfledderten Ausgabe der ZEIT. Sein Lächeln wirkte müde – Freja war heute bestimmt wieder anstrengend gewesen. Ich drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ich muss leider gleich wieder weg. Mein Yoga-Kurs fängt heute an.“ Kurz bildete sich eine Falte zwischen Antons Augen. Dann nickte er ergeben. „Klar. Magst du noch was essen?“ Freja zerrte an meinem Arm. „Guck Mama: Ich hab’ eine Brezel bekommen!“ Ich nickte. „Toll, Freja – ja, ich hab’ mega Hunger, aber ich muss in fünf Minuten los und vorher noch meine Sachen packen.“ Ich seufzte. „Heute war so anstrengend wieder… ich erzähl’s dir später.“ Anton zog mich an sich und drückte meine Taille. „Such deine Sachen, ich mach dir ein Brot.“ Ich lächelte ihn an. „Danke, das ist lieb! Seid ihr ok? Wie war’s heute?“ Freja brüllte: „Nein! Geh weg, Papa!“ Sie rupfte an Antons Arm um meine Hüfte. „He, Freja, lass das“, wandte ich ein. „Du sollst gucken, Mama! Guck, ich hab’ selber Frischkäse auf die Brezel gemacht! Guck!“ Ich wandte mich Frejas Teller zu. „Super, Freja. Du, ich muss jetzt los. Ich geh noch zum Yoga.“ Sie schaute mich enttäuscht an. Kinder können ihre Gefühle schlecht verbergen. „Aber DU bringst mich heute ins Bett! DU bringst mich ins Bett!“ Ich streichelte ihr den Kopf. „Tut mir Leid, Freja. Ich kann heute nicht. Papa bringt dich ins Bett, ok? Schau, ich muss jetzt auch los, sonst komm ich zu spät.“ Anton wandte sich an Freja: „Wir können noch ein Buch zusammen lesen, ok? Wir machen’s uns ganz schön, wir beide, ja?“ „NEIN!“ Freja bekam einen Wutanfall. „Geh einfach“, Anton scheuchte mich wedelnd nach draußen. Mit einem engen Gefühl in der Brust sammelte ich meine Jogginghose und eine Isomatte ein, füllte mir eine Flasche ab und schnappte mir noch eine Banane. Als ich das Haus verließ, brüllte Freja immer noch wie am Spieß.
Der Weg zum Kindergarten, in dessen Räumen das Yoga stattfand, war weiter als gedacht. Ich joggte ein wenig schneller und versuchte, während des Laufens die Banane in mich reinzufuttern. Gefühlt blieb alles auf halber Strecke im Hals hängen. Ich spülte einen Schluck Wasser hinterher und verschluckte mich prompt. Hustend und prustend stolperte ich weiter, meine Isomatte unbeholfen unter den Arm geklemmt, und folgte dem GPS auf meinem Handy. Schließlich fand ich meinen Weg durch ein dunkles Tor und ein leeres Speisezimmer, mit winzigen Tischen und Stühlen, in den Mehrzweckraum. Als ich den Blick hob, schauten mich knapp zehn mittelalte Frauen an. Unter ihren neugierigen Blicken suchte ich mir ein freies Plätzchen und rollte meine Matte aus. Ich hatte Seitenstechen und mein Hals brannte. Die betont gut gelaunte und in sich ruhende Yoga-Lehrerin kam gleich zu mir rüber und hieß mich willkommen. Scheinbar war ich der einzige Neuzugang der Truppe.
Als ich mich schon auf meine Matte in den Lotus-Sitz niedergelassen hatte und den Blick ein wenig aufmerksamer wandern ließ, entdeckte ich doch noch ein etwas jüngeres Gesicht. Das mir auch vage bekannt vorkam. Kannten wir uns aus der Kita? Die Frau lächelte und nickte mir zu. Ja, sie war mir schon früher aufgefallen: extrem hübsch, blond, super lange Wimpern, tolle Figur. Sie und ihre Tochter waren immer komplett durchgestylt – das Mädchen mit passendem Haarschmuck zum Kleid, die Mutter geschminkt und frisiert, beide modisch angezogen. Ich lächelte zurück und dachte an die Strubbelmähne, mit der ich Freja jeden Morgen in die Kita brachte. Kämmen machte bei Freja einfach keinen Spaß, weshalb wir es genau wie Haarewaschen auf einmal pro Woche beschränkt hatten. Unter großem Protest und Geschrei rupften wir dann abwechselnd die Vogelnester aus Frejas Haaren mit der ständigen Drohung, alles ratzekahl abzuschneiden. Die Vorteile einer gegenderten Welt, in der selbst eine knapp Dreijährige begriff, dass Mädchen lange Haare haben mussten.
Nach dem Yoga fühlte ich mich tatsächlich entspannter. Meine Schnappatmung hatte sich während der eineinhalb Stunden beinahe in ein tiefes Bauchatmen verwandelt. Das Seitenstechen war verschwunden und meine Kehle brannte nur noch ein bisschen. Meine Muskeln mochten die ungewohnten Bewegungen und mein Kopf war in der Endentspannung tatsächlich freier geworden. Jedenfalls wäre ich um ein Haar eingeschlafen. Als ich meine Isomatte gerade umständlich zusammenrollte und mit Gummibändern fixierte, kam die andere Mami aus der Kita herüber. Sie hatte natürlich eine professionelle Yoga-Matte, die sie lässig über der Schulter trug. „Hey, wir kennen uns doch aus der Kita! Du bist die Mutter von Freja, oder? Ich bin Isabel, die Mama von Sophie.“ Sie streckte mir die Hand entgegen und ich schüttelte sie. „Hi! Ja, genau. Ich heiße Nele.“ Sophie. Stimmt. Sie hatte das Schuhfach neben Freja. Mit dem Schmetterling drauf. Ich konnte die Namen immer nicht richtig zuordnen.
Wir gingen gemeinsam aus dem Kindergarten auf den dunklen Parkplatz. Es nieselte. „Seid ihr beim Frühlingsnachmittag morgen dabei?“, fragte Isabel. „Ich hatte heute leider nicht so viel Zeit etwas vorzubereiten.“ „Ja, geht mir ähnlich“, pflichtete ich ihr bei. „Anton geht wahrscheinlich. Ich muss dienstags arbeiten.“ „Oh“, sagte sie und lächelte. „Ich glaube, dann ist er der erste Mann beim Bastelnachmittag. Soll ich dich eigentlich mitnehmen?“ Wir standen mittlerweile vor Isabels Auto. Ein brandneuer SUV. Der Regen wurde allmählich stärker. „Ich wohne in der Nähe vom Markt“, begann ich zögernd, „wo musst du denn hin?“ „Ach, das passt perfekt, wir wohnen in der Werderstraße – ganz in der Nähe!“ Ich kletterte also in das Auto, froh, dem Regen zu entkommen, der meine entspannten Glieder langsam wieder steif werden ließ. Isabel parkte lautlos aus und fuhr geschmeidig auf die Straße. Wahrscheinlich Elektrobetrieb. Ich genoss kurz den Luxus, mit dem Auto zu fahren. Obwohl es schon abartig war – von hier lief man zu Fuß keine zehn Minuten in die Werderstraße. „Ist das ein Hybrid?“, fragte ich mit Blick auf die dezent leuchtenden Armaturen. „Ja, wir haben den Wagen ganz neu! In der Stadt fahren wir jetzt rein elektrisch.“ „Cool“, kommentierte ich und überschlug im Kopf, was so ein Wagen wohl kostete. Viel, schloss ich. „Anton und ich haben ja kein Auto. Aber wir brauchen es auch nicht, hier in der Stadt“, plapperte ich, um Konversation zu machen. Isabel lachte. „Ja, das ist natürlich die umweltverträglichere Lösung, schätze ich. Aber wenn man sich erst einmal an ein Auto gewöhnt hat… Und gerade mit Sophie ist es unschlagbar praktisch. Wie macht ihr das denn mit Freja?“ „Ach, ich hab’ einen Fahrradsitz für sie, das geht eigentlich ganz gut. Leider ist der bald kaputt, er wackelt schon ganz schön. Ich muss unbedingt mal einen neuen besorgen.“ „Echt, er wackelt?“ Isabel beäugte mich von der Seite. „Dann würde ich Freja da aber nicht mehr reinsetzen. Weißt du was?“ Sie bog in eine Straße ein. „Wir haben auch noch einen Fahrradsitz, den wir gar nicht mehr benutzen. Wir haben jetzt ein Lastenfahrrad gekauft mit E-Antrieb.“ Natürlich. Isabel parkte geschickt am Straßenrand und wandte sich mir zu. „Ist echt kein Problem. Der steht bei uns sowieso nur in der Garage. Ok?“ Ich war überrumpelt. Klar, ein neuer Fahrradsitz wäre eine gute Sache. Aber ich kannte diese Frau eigentlich gar nicht. Ich bemerkte, dass mein Schweigen unhöflich war und nickte. „Öhm ja, warum nicht. Total lieb von dir.“ Isabel zog den Schlüssel ab. „Komm doch einfach kurz mit rein, ja? Ich muss den Sitz erst raussuchen. Wir haben so viel Zeug in der Garage!“ Ich nickte und schnallte mich ab. „Aber schau nicht so genau hin, bitte. Bei uns ist nicht aufgeräumt.“
Als ich hinter Isabel ihre Wohnung betrat, verkrampften sich meine Eingeweide. Nicht aufgeräumt. Von wegen. Der Eingangsbereich war blitzblank gewischt. Ein weißes geschlossenes Regal enthielt nicht nur die Schuhe der Hausbewohner, sondern auch diverse Paare Hausschuhe für unerwartete nächtliche Besucher*innen. Ich wurde ins Wohnzimmer geführt. Die Wände hingen voller gerahmter Bilder, farblich aufeinander abgestimmt. Bis auf eine Puppe lag kein Spielzeug auf den weißen Sofas oder dem blank gewienerten Glastisch. Der Holzboden war komplett staubfrei. Isabel wuselte in die angrenzende Küche. „Möchtest du was trinken? Saft? Tee? Wasser?“ „Öhm, gerne Wasser“, antwortete ich. Ich traute mich nicht, mich auf das Sofa zu setzen und folgte Isabel. Sie reichte mir ein Glas eiskalten Sprudel und fegte etwas von der Granit-Arbeitsfläche in ihre Hand. „Wir haben vorhin noch schnell Muffins gemacht“, sagte sie entschuldigend. Ich erspähte hinter ihr zwei Bleche voll, liebevoll mit blauen Zuckerkugeln und pinken Streuseln dekoriert. Mein Herz sank ein wenig tiefer. Freja würde morgen wieder nur ein paar Brezeln zum Frühlings-Nachmittag-Buffet beitragen. „Eigentlich wollte ich eine Torte backen, aber mir hat heute einfach die Zeit gefehlt. Naja. Magst du mitkommen in die Garage? Vielleicht haben wir ja noch etwas, was ihr brauchen könnt? Wir sind wirklich froh, etwas loszuwerden, glaube mir!“ Ich fragte mich zum ersten Mal, wie Isabel mich, Anton und Freja wohl wahrnehmen musste. Dachte sie, wir konnten uns keine Sachen für Freja leisten? Zugegeben lief sie meistens in recht abgetragenen, oft auch fleckigen Second-Hand-Klamotten rum. Aber ich sah auch keinen Grund, ihr neue Sachen zu kaufen, solange sie sich selbst nicht darum scherte. Mit dem Wasser in der Hand folgte ich Isabel über die Treppe und in die Garage. Hier war tatsächlich Unordnung. Dominiert wurde der kahle Raum von Sophies Fuhrpark: Bobbycars, Dreiräder, ein Bagger mit Anhänger, das pinke Laufrad, das ich aus der Kita kannte, ein Roller. Mehrere Fahrräder lehnten an der rechten Wand. Eins war klitzeklein und rosa mit Fahrradkorb und Fähnchen. Das schwarze Lastenfahrrad nahm den meisten Platz ein. Der Kindersitzbereich hatte sogar ein Dächlein. Wie eine Kutsche. An der linken Wand stapelten sich Umzugskartons. Isabel lugte in ein paar Kisten, ich stand etwas verloren in der Mitte der Garage und nippte an meinem Wasser. „Freja kommt jetzt auch bald in den Kindergarten, oder? Wo geht sie denn hin?“ „In den Städtischen. Der ist bei uns vor der Haustür“, fügte ich rechtfertigend hinzu. Isabel warf mir einen kurzen Blick zu. „Ja, das ist natürlich praktisch. Sophie kommt in den Montessori-Kindergarten in Rohrbach. Wir haben auch im Waldkindergarten mal hospitiert, aber das ist nicht so Sophies Ding. Sie macht sich nicht gern schmutzig.“ Rohrbach. Zwanzig Minuten mit Elektroantrieb. Isabel zog aus einem großen Karton einen kaum benutzen Römer-Kindersitz mit rosa Polstern. „Ah hier ist er ja! Der ist super praktisch, man kann die Lehne stufenlos verstellen und er hat extra einen Fünfpunkt-Sicherheitsgurt und das Ein-Klick-Stecksystem.“ Klar. Ich nahm benommen den Sitz entgegen. „Super, vielen Dank!“ Isabel lächelte ob ihres Altruismus. „Bist du sicher, dass ihr sonst nichts braucht?“ „Ne, ne, alles gut. Ich muss dann auch mal nach Hause. Aber vielen Dank, Isabel. Das ist wirklich super lieb!“ Isabel strahlte. „Wir können uns ja mal auf dem Spielplatz verabreden. Ich glaube, Sophie und Freja könnte das gefallen. Die beiden sind ja etwa im selben Alter!“ Ich war etwas überrumpelt. „Ja, klar. Gerne.“ Auf dem Weg nach draußen musterte ich Isabel verstohlen von der Seite. Eigentlich war sie ja echt nett und alles. Vielleicht sollte ich ihr tatsächlich eine Chance geben. Irgendwann mal.