Kapitel 6

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Nele

Als ich völlig verspannt, mit hämmernden Schläfen nach meinem Schlüssel fischte, fiel mir siedend heiß ein, dass heute mein VHS-Yoga-Kurs anfing. Statt mich zu freuen, warf ich einen gehetzten Blick auf mein Handy und stellte fest, dass ich in zehn Minuten losgehen musste. Mein Magen rebellierte laut. Mist. Ich sperrte die Tür auf und warf meinen Rucksack auf den Boden, kickte die Schuhe in die Ecke und stolperte die Treppe hoch. „MAMA!“ Freja lief mir mit Lätzchen um den Hals entgegen. „Kommst du von der Arbeit? Ich hab’ eine Brezel bekommen! Komm! Komm!“ Sie schnappte meine Hand und zog mich in die Küche. Mein Herz brach ein wenig. Ich wollte gerne bleiben. Andererseits wollte ich auch zum Yoga! Gleich den ersten Termin zu verpassen, wäre kein guter Start.

Anton saß auf der Eckbank und las in einer bereits zerfledderten Ausgabe der ZEIT. Sein Lächeln wirkte müde – Freja war heute bestimmt wieder anstrengend gewesen. Ich drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ich muss leider gleich wieder weg. Mein Yoga-Kurs fängt heute an.“ Kurz bildete sich eine Falte zwischen Antons Augen. Dann nickte er ergeben. „Klar. Magst du noch was essen?“ Freja zerrte an meinem Arm. „Guck Mama: Ich hab’ eine Brezel bekommen!“ Ich nickte. „Toll, Freja – ja, ich hab’ mega Hunger, aber ich muss in fünf Minuten los und vorher noch meine Sachen packen.“ Ich seufzte. „Heute war so anstrengend wieder… ich erzähl’s dir später.“ Anton zog mich an sich und drückte meine Taille. „Such deine Sachen, ich mach dir ein Brot.“ Ich lächelte ihn an. „Danke, das ist lieb! Seid ihr ok? Wie war’s heute?“ Freja brüllte: „Nein! Geh weg, Papa!“ Sie rupfte an Antons Arm um meine Hüfte. „He, Freja, lass das“, wandte ich ein. „Du sollst gucken, Mama! Guck, ich hab’ selber Frischkäse auf die Brezel gemacht! Guck!“ Ich wandte mich Frejas Teller zu. „Super, Freja. Du, ich muss jetzt los. Ich geh noch zum Yoga.“ Sie schaute mich enttäuscht an. Kinder können ihre Gefühle schlecht verbergen. „Aber DU bringst mich heute ins Bett! DU bringst mich ins Bett!“ Ich streichelte ihr den Kopf. „Tut mir Leid, Freja. Ich kann heute nicht. Papa bringt dich ins Bett, ok? Schau, ich muss jetzt auch los, sonst komm ich zu spät.“ Anton wandte sich an Freja: „Wir können noch ein Buch zusammen lesen, ok? Wir machen’s uns ganz schön, wir beide, ja?“ „NEIN!“ Freja bekam einen Wutanfall. „Geh einfach“, Anton scheuchte mich wedelnd nach draußen. Mit einem engen Gefühl in der Brust sammelte ich meine Jogginghose und eine Isomatte ein, füllte mir eine Flasche ab und schnappte mir noch eine Banane. Als ich das Haus verließ, brüllte Freja immer noch wie am Spieß.

Der Weg zum Kindergarten, in dessen Räumen das Yoga stattfand, war weiter als gedacht. Ich joggte ein wenig schneller und versuchte, während des Laufens die Banane in mich reinzufuttern. Gefühlt blieb alles auf halber Strecke im Hals hängen. Ich spülte einen Schluck Wasser hinterher und verschluckte mich prompt. Hustend und prustend stolperte ich weiter, meine Isomatte unbeholfen unter den Arm geklemmt, und folgte dem GPS auf meinem Handy. Schließlich fand ich meinen Weg durch ein dunkles Tor und ein leeres Speisezimmer, mit winzigen Tischen und Stühlen, in den Mehrzweckraum. Als ich den Blick hob, schauten mich knapp zehn mittelalte Frauen an. Unter ihren neugierigen Blicken suchte ich mir ein freies Plätzchen und rollte meine Matte aus. Ich hatte Seitenstechen und mein Hals brannte. Die betont gut gelaunte und in sich ruhende Yoga-Lehrerin kam gleich zu mir rüber und hieß mich willkommen. Scheinbar war ich der einzige Neuzugang der Truppe.

Als ich mich schon auf meine Matte in den Lotus-Sitz niedergelassen hatte und den Blick ein wenig aufmerksamer wandern ließ, entdeckte ich doch noch ein etwas jüngeres Gesicht. Das mir auch vage bekannt vorkam. Kannten wir uns aus der Kita? Die Frau lächelte und nickte mir zu. Ja, sie war mir schon früher aufgefallen: extrem hübsch, blond, super lange Wimpern, tolle Figur. Sie und ihre Tochter waren immer komplett durchgestylt – das Mädchen mit passendem Haarschmuck zum Kleid, die Mutter geschminkt und frisiert, beide modisch angezogen. Ich lächelte zurück und dachte an die Strubbelmähne, mit der ich Freja jeden Morgen in die Kita brachte. Kämmen machte bei Freja einfach keinen Spaß, weshalb wir es genau wie Haarewaschen auf einmal pro Woche beschränkt hatten. Unter großem Protest und Geschrei rupften wir dann abwechselnd die Vogelnester aus Frejas Haaren mit der ständigen Drohung, alles ratzekahl abzuschneiden. Die Vorteile einer gegenderten Welt, in der selbst eine knapp Dreijährige begriff, dass Mädchen lange Haare haben mussten.

Nach dem Yoga fühlte ich mich tatsächlich entspannter. Meine Schnappatmung hatte sich während der eineinhalb Stunden beinahe in ein tiefes Bauchatmen verwandelt. Das Seitenstechen war verschwunden und meine Kehle brannte nur noch ein bisschen. Meine Muskeln mochten die ungewohnten Bewegungen und mein Kopf war in der Endentspannung tatsächlich freier geworden. Jedenfalls wäre ich um ein Haar eingeschlafen. Als ich meine Isomatte gerade umständlich zusammenrollte und mit Gummibändern fixierte, kam die andere Mami aus der Kita herüber. Sie hatte natürlich eine professionelle Yoga-Matte, die sie lässig über der Schulter trug. „Hey, wir kennen uns doch aus der Kita! Du bist die Mutter von Freja, oder? Ich bin Isabel, die Mama von Sophie.“ Sie streckte mir die Hand entgegen und ich schüttelte sie. „Hi! Ja, genau. Ich heiße Nele.“ Sophie. Stimmt. Sie hatte das Schuhfach neben Freja. Mit dem Schmetterling drauf. Ich konnte die Namen immer nicht richtig zuordnen.

Wir gingen gemeinsam aus dem Kindergarten auf den dunklen Parkplatz. Es nieselte. „Seid ihr beim Frühlingsnachmittag morgen dabei?“, fragte Isabel. „Ich hatte heute leider nicht so viel Zeit etwas vorzubereiten.“ „Ja, geht mir ähnlich“, pflichtete ich ihr bei. „Anton geht wahrscheinlich. Ich muss dienstags arbeiten.“ „Oh“, sagte sie und lächelte. „Ich glaube, dann ist er der erste Mann beim Bastelnachmittag. Soll ich dich eigentlich mitnehmen?“ Wir standen mittlerweile vor Isabels Auto. Ein brandneuer SUV. Der Regen wurde allmählich stärker. „Ich wohne in der Nähe vom Markt“, begann ich zögernd, „wo musst du denn hin?“ „Ach, das passt perfekt, wir wohnen in der Werderstraße – ganz in der Nähe!“ Ich kletterte also in das Auto, froh, dem Regen zu entkommen, der meine entspannten Glieder langsam wieder steif werden ließ. Isabel parkte lautlos aus und fuhr geschmeidig auf die Straße. Wahrscheinlich Elektrobetrieb. Ich genoss kurz den Luxus, mit dem Auto zu fahren. Obwohl es schon abartig war – von hier lief man zu Fuß keine zehn Minuten in die Werderstraße. „Ist das ein Hybrid?“, fragte ich mit Blick auf die dezent leuchtenden Armaturen. „Ja, wir haben den Wagen ganz neu! In der Stadt fahren wir jetzt rein elektrisch.“ „Cool“, kommentierte ich und überschlug im Kopf, was so ein Wagen wohl kostete. Viel, schloss ich. „Anton und ich haben ja kein Auto. Aber wir brauchen es auch nicht, hier in der Stadt“, plapperte ich, um Konversation zu machen. Isabel lachte. „Ja, das ist natürlich die umweltverträglichere Lösung, schätze ich. Aber wenn man sich erst einmal an ein Auto gewöhnt hat… Und gerade mit Sophie ist es unschlagbar praktisch. Wie macht ihr das denn mit Freja?“ „Ach, ich hab’ einen Fahrradsitz für sie, das geht eigentlich ganz gut. Leider ist der bald kaputt, er wackelt schon ganz schön. Ich muss unbedingt mal einen neuen besorgen.“ „Echt, er wackelt?“ Isabel beäugte mich von der Seite. „Dann würde ich Freja da aber nicht mehr reinsetzen. Weißt du was?“ Sie bog in eine Straße ein. „Wir haben auch noch einen Fahrradsitz, den wir gar nicht mehr benutzen. Wir haben jetzt ein Lastenfahrrad gekauft mit E-Antrieb.“ Natürlich. Isabel parkte geschickt am Straßenrand und wandte sich mir zu. „Ist echt kein Problem. Der steht bei uns sowieso nur in der Garage. Ok?“ Ich war überrumpelt. Klar, ein neuer Fahrradsitz wäre eine gute Sache. Aber ich kannte diese Frau eigentlich gar nicht. Ich bemerkte, dass mein Schweigen unhöflich war und nickte. „Öhm ja, warum nicht. Total lieb von dir.“ Isabel zog den Schlüssel ab. „Komm doch einfach kurz mit rein, ja? Ich muss den Sitz erst raussuchen. Wir haben so viel Zeug in der Garage!“ Ich nickte und schnallte mich ab. „Aber schau nicht so genau hin, bitte. Bei uns ist nicht aufgeräumt.“

Als ich hinter Isabel ihre Wohnung betrat, verkrampften sich meine Eingeweide. Nicht aufgeräumt. Von wegen. Der Eingangsbereich war blitzblank gewischt. Ein weißes geschlossenes Regal enthielt nicht nur die Schuhe der Hausbewohner, sondern auch diverse Paare Hausschuhe für unerwartete nächtliche Besucher*innen. Ich wurde ins Wohnzimmer geführt. Die Wände hingen voller gerahmter Bilder, farblich aufeinander abgestimmt. Bis auf eine Puppe lag kein Spielzeug auf den weißen Sofas oder dem blank gewienerten Glastisch. Der Holzboden war komplett staubfrei. Isabel wuselte in die angrenzende Küche. „Möchtest du was trinken? Saft? Tee? Wasser?“ „Öhm, gerne Wasser“, antwortete ich. Ich traute mich nicht, mich auf das Sofa zu setzen und folgte Isabel. Sie reichte mir ein Glas eiskalten Sprudel und fegte etwas von der Granit-Arbeitsfläche in ihre Hand. „Wir haben vorhin noch schnell Muffins gemacht“, sagte sie entschuldigend. Ich erspähte hinter ihr zwei Bleche voll, liebevoll mit blauen Zuckerkugeln und pinken Streuseln dekoriert. Mein Herz sank ein wenig tiefer. Freja würde morgen wieder nur ein paar Brezeln zum Frühlings-Nachmittag-Buffet beitragen. „Eigentlich wollte ich eine Torte backen, aber mir hat heute einfach die Zeit gefehlt. Naja. Magst du mitkommen in die Garage? Vielleicht haben wir ja noch etwas, was ihr brauchen könnt? Wir sind wirklich froh, etwas loszuwerden, glaube mir!“ Ich fragte mich zum ersten Mal, wie Isabel mich, Anton und Freja wohl wahrnehmen musste. Dachte sie, wir konnten uns keine Sachen für Freja leisten? Zugegeben lief sie meistens in recht abgetragenen, oft auch fleckigen Second-Hand-Klamotten rum. Aber ich sah auch keinen Grund, ihr neue Sachen zu kaufen, solange sie sich selbst nicht darum scherte. Mit dem Wasser in der Hand folgte ich Isabel über die Treppe und in die Garage. Hier war tatsächlich Unordnung. Dominiert wurde der kahle Raum von Sophies Fuhrpark: Bobbycars, Dreiräder, ein Bagger mit Anhänger, das pinke Laufrad, das ich aus der Kita kannte, ein Roller. Mehrere Fahrräder lehnten an der rechten Wand. Eins war klitzeklein und rosa mit Fahrradkorb und Fähnchen. Das schwarze Lastenfahrrad nahm den meisten Platz ein. Der Kindersitzbereich hatte sogar ein Dächlein. Wie eine Kutsche. An der linken Wand stapelten sich Umzugskartons. Isabel lugte in ein paar Kisten, ich stand etwas verloren in der Mitte der Garage und nippte an meinem Wasser. „Freja kommt jetzt auch bald in den Kindergarten, oder? Wo geht sie denn hin?“ „In den Städtischen. Der ist bei uns vor der Haustür“, fügte ich rechtfertigend hinzu. Isabel warf mir einen kurzen Blick zu. „Ja, das ist natürlich praktisch. Sophie kommt in den Montessori-Kindergarten in Rohrbach. Wir haben auch im Waldkindergarten mal hospitiert, aber das ist nicht so Sophies Ding. Sie macht sich nicht gern schmutzig.“ Rohrbach. Zwanzig Minuten mit Elektroantrieb. Isabel zog aus einem großen Karton einen kaum benutzen Römer-Kindersitz mit rosa Polstern. „Ah hier ist er ja! Der ist super praktisch, man kann die Lehne stufenlos verstellen und er hat extra einen Fünfpunkt-Sicherheitsgurt und das Ein-Klick-Stecksystem.“ Klar. Ich nahm benommen den Sitz entgegen. „Super, vielen Dank!“ Isabel lächelte ob ihres Altruismus. „Bist du sicher, dass ihr sonst nichts braucht?“ „Ne, ne, alles gut. Ich muss dann auch mal nach Hause. Aber vielen Dank, Isabel. Das ist wirklich super lieb!“ Isabel strahlte. „Wir können uns ja mal auf dem Spielplatz verabreden. Ich glaube, Sophie und Freja könnte das gefallen. Die beiden sind ja etwa im selben Alter!“ Ich war etwas überrumpelt. „Ja, klar. Gerne.“ Auf dem Weg nach draußen musterte ich Isabel verstohlen von der Seite. Eigentlich war sie ja echt nett und alles. Vielleicht sollte ich ihr tatsächlich eine Chance geben. Irgendwann mal.

Kapitel 5

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Emma

Eingestampft. Fassungslos starrte ich den Betreff der neuesten E-Mail an, der ich ein weiteres Stück meiner Lebenszeit widmen sollte. Das Filmprojekt wurde eingestampft. Ich lachte zynisch und schüttelte den Kopf. Nach meinem durchgeschufteten Wochenende im kuscheligen Gin-Tonic-Nebel bei den Jakobs und zwei weiteren turbulenten 14-Stunden-Tagen, an denen ich aus den Augen verlor, wo vorne und hinten ist, hatte ich es tatsächlich geschafft. Alles war vorbereitet, die Film-Crew konnte anrücken. Hätte anrücken können, besser gesagt. Mal wieder hatte ich für die Tonne gearbeitet und das nur, weil es sich irgendein weißer Mann um die fünfzig anders überlegt hatte. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal eine halbe Sekunde über seine Entscheidung nachgedacht, ein achtloser Nebensatz in Richtung seiner Sekretärin, während er sich von ihr seinen Nachmittagsespresso servieren ließ. Mit Keks.

Ich rieb mir die Schläfen und versuchte, die anrollende Welle des Frusts ungerührt über mir hinwegschwappen zu lassen. Die wohlige Tiefenentspannung, die ich immer nach einem Wochenende mit meinen Freund*innen mit mir nach Hause trug, war endgültig weggeblasen. „Pass auf dich auf, Emma“, hatten sie gesagt. „Du siehst gar nicht gut aus“, hatten sie bemerkt. „Das wird schon wieder“, hatten sie gefloskelt, wenn es wirklich gar nichts mehr zu sagen gab. Missmutig schlug ich den Laptop zu und starrte aus dem großen Bürofenster hinunter auf die Straße. Ich beobachtete eine schick gekleidete Mutter mit Kinderwagen, die im Gehen an einem To-Go-Becher nippte, die andere Hand fest am Bügel des Buggys. Zwei junge Männer in schnittigen Anzügen sprangen geschickt auseinander, um ihr auszuweichen, lachten ihr zu und schlenderten weiter, die Jackets lässig über die Schultern geworfen, die hellen Hemdsärmel hochgekrempelt. Es war Feierabendzeit. Die Sonne schien. Ich klappte meinen Laptop wieder auf und kramte in meinem müden Hirn nach einer halbwegs sinnvollen Antwort auf diese Unverschämtheit.

Keine Begründung, nur ein Satz: Sehr geehrte Frau Lorenz, das Filmprojekt wurde eingestampft. FYI. Mit freundlichen Grüßen, Anita Zimmermann, Sekretärin CEO-Office. Ich überlegte, ob ich mich geehrt fühlen sollte, dass ich direkt vom CEO-Büro Bescheid bekommen hatte und nicht etwa über drei Ecken von meinem Chef. Ich war offenbar präsent, das war doch was. „Pfff“, machte ich, als mir klar wurde, wie egal mir das war. Was kümmerte mich irgendein CEO irgendeines Unternehmens, für das ich nur Dienstleisterin war? Ich blickte wieder hinunter auf die Straße. Zwei Studentinnen liefen ins Bild, hielten genau unter meinem Fenster kurz an und machten ein Selfie. Lächeln, klick, ein Moment festgehalten, der in etwa genauso belanglos war wie ich mich in diesem Moment fühlte.

„Jetzt sei halt nicht so bitter“, dachte ich genervt. Meine inneren Monologe hatten in den letzten Wochen spürbar zugenommen. Eine harsche Stimme, die mir sagte, ich solle mich zusammenreißen. Ich müsse diesem Druck jetzt eben standhalten, das wäre halt so und würde auch wieder besser werden. Ich müsse doch zu schätzen wissen, was ich alles hatte. Obwohl diese Stimme unangenehm scharf gegen meinen Hinterkopf rieb, musste ich ihr Recht geben. Nach meiner Stelle würden sich unzählige, brotlose Geisteswissenschaftsabsolvent*innen die Finger lecken. Ich hatte viel gelernt in den letzten zwei Jahren und wurde von meinem Chef stark gefördert. Das war keine Selbstverständlichkeit. Meine Finger schwebten immer noch unschlüssig über der Tastatur. Sehr geehrte Frau Zimmermann,…….. Ich beschloss, zuerst mit Rainer zu sprechen. 

„Hast du die E-Mail gesehen? Wegen des Filmprojekts? Ich meine, du warst in Cc:“, fragte ich, als ich ihn in der Kaffeeküche fand. Er zog die Mundwinkel gequält nach unten und klopfte mir kurz auf die Schulter. „Ja, tut mir leid, Emma. Aber ich kann da leider nichts machen, es ist ihnen doch zu teuer.“ Mir entglitt ein sarkastischer Lacher, ein Bellen fast: „Nachdem sie den Kostenvoranschlag ja vorher noch nie gesehen hatten…“ Rainer sah mich mitleidig von der Seite an. „Ich weiß, dass du dich da ganz schön reingehängt hast in den letzten Tagen. Aber so hast du wenigstens eine Sorge weniger.“ Ich lachte nochmal. Das stimmte. Eine Sorge weniger. „Dann sage ich jetzt alles ab, ja?“, versicherte ich mich. Rainer nickte und lächelte entschuldigend.


„Auf dich, Emma, willkommen zurück bei den Lebenden!“ Iris hob ihr Bierglas und stieß es klirrend gegen meins. Ich nickte und versuchte, erleichtert zu erscheinen. Die verkorkste Veranstaltung war inzwischen über die Bühne gegangen, auch ohne Film und überraschenderweise zur Zufriedenheit aller. Meine Bürotage hatten sich deutlich zusammengezogen und ließen wieder Raum für ein abendliches Bier in unserem Lieblings-Pub. Gleichzeitig türmte sich bereits der nächste Berg an Aufgaben vor mir auf, gespickt mit eng getakteten Deadlines. Aber darüber wollte ich heute Abend nicht reden. Genau genommen wollte ich überhaupt nicht mehr über die Arbeit reden. Ich konnte mich selbst nicht mehr hören und ließ mich bereitwillig von der schnarrenden Stimme in meinem Hinterkopf zurechtweisen: Passt doch alles, sei endlich zufrieden.

„Ah, da kommt Alex“, sagte Charlotte und zeigte hinter mich. Ich drehte mich um. Da kam Alex. Die Hände tief in die Hosentaschen gegraben schlängelte er sich zwischen eng gestellten Holztischen zu uns durch. „Hiii“, sagte er etwas langgezogen und setzte sich mir gegenüber. Kein Kuss, keine Umarmung. Alexander und ich waren nie ein besonders herzliches Paar gewesen und ich redete mir ein, dass das genau das Richtige für mich war. Ich war schließlich keine Romantikerin, das ständige Rumgeschmuse in der Öffentlichkeit war nicht mein Ding. Auch jetzt rief ich mir diese Seite meiner selbst in Erinnerung und verdrängte damit den sanften Stich, der sich in solchen Situationen gerne gegen meinen Brustkorb drückte. Ich lächelte meinen Freund an. Er lächelte zurück. Die Welt schien in Ordnung. Endlich.

In bester Pärchenmanier seilten wir uns wenig später ab. Charlotte und Iris wollten noch in die Hipster-Bar an der Ecke weiterziehen, die wir selbstverständlich nur ironisch cool fanden, aber wir murmelten etwas von ‚nicht zu spät ins Bett‘ und ‚morgen früh raus‘ und überließen die beiden sich selbst. Jetzt saßen wir auf Alexanders Couch und scrollten zum ersten Mal seit Wochen wieder gemeinsam durch Wohnungsanzeigen. Wir reckten die Köpfe zusammen und ich konnte seine Schulter warm an meiner spüren. Er starrte konzentriert auf den Bildschirm und ich vermutete fast, dass er mich vergessen hatte. Vorsichtig rückte ich näher und gab ihm einen Kuss auf die kratzige Wange. Er roch vertraut, nach Heimkommen. Ich gab ihm noch einen Kuss, ließ meine Lippen dieses Mal ein wenig länger auf seinem Bart ruhen, aber er rührte sich nicht. Volle Konzentration. Tunnelblick. Ich unterdrückte einen Seufzer und wendete mich ebenfalls wieder der Wohnungssuche zu.

Keines der Angebote schien Alexander anzusprechen. Zu teuer, zu klein, zu wenige Zimmer. Indiskutabel war auch ein Balkon. Wir wollten schließlich eine Verbesserung zu unseren jetzigen Wohnungen. Sonst könnten wir uns das Umziehen ja gleich sparen. Auf diese Weise erstellte Alexander eine Matrix für unser hypothetisches Zusammenleben. Wir beide, unsere Zweisamkeit, spielten zwischen den Parametern Fläche, Ausstattung, Lage und Preis erst einmal keine Rolle. Ruckartig stand ich auf und ging zum Kühlschrank. „Willst du auch was trinken?“, fragte ich und holte gleichzeitig eine Packung Chips aus einem der Hängeschränke. Ich riss sie auf und kippte den Inhalt in eine Tupperschüssel. Maßnahmen gegen mein schlechtes Gewissen.

Ich wollte so nicht über Alexander denken, wo ich doch wusste, dass er seine Liebe anders ausdrückte. Indem er unermüdlich für mich Abendessen kochte, weil ich meine Einkäufe so gar nicht im Griff hatte. Indem er mein Fahrrad reparierte, weil ich zu faul war zu lernen, wie man ein Loch im Reifen flickt. Indem er akribisch nach der perfekten Wohnung für uns beide suchte. „Gibt’s noch Cola?“, fragte er geistesabwesend, das Gesicht blass im fahlen Bildschirmlicht. Ich fand eine Dose Cola Light in der Kühlschranktür und stellte sie zusammen mit der Chipsschüssel vor Alexander auf den Couchtisch. „Hier, Schatz, mach‘ mal Pause“, sagte ich liebevoll. „Oh Gott, nennen wir uns jetzt Schatz, sind wir schon so weit?“, stichelte Alex. Seine Augen blitzten, er scherzte nur. Ich lachte, leicht gepresst. Kosenamen waren auch nicht unser Ding.

Kapitel 4

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Nele

Verpennt, verstrubbelt und überglücklich schlurfte ich in einem übergroßen Sweatpullover von Anton an den Küchentisch und kroch auf die uralte Eckbank. Frühstück! Jonathan hatte schon literweise starken Kaffee gekocht, der in den Tassen auf dem Tisch vor sich hin dampfte. Fredi war beim Bäcker gewesen und siegreich heimgekehrt, beladen mit Brötchen und süßen Krapfen. Celia stand am Fenster und rauchte eine Sonntagskippe – „zur Feier des Tages“ – mit einer Tasse sirupartigem Kaffee in der Hand. Sie verfocht die Meinung, dass Kaffee schwarz wie der Teufel, heiß wie die Hölle und süß wie die Liebe sein musste. Freja quakte fröhlich im Wohnzimmer. Anton und Charlotte hatten sich die Morgenschicht der Kinderbetreuung geteilt und mich schlafen lassen. Ein seltener Luxus. Mit großem Eifer erklärte Freja Charlotte gerade, was sie in ihrem Kaufladen so alles zu verkaufen hatte. Er war unser Weihnachtsgeschenk an sie und hatte vorher meiner Schwester und mir und davor noch meiner Mama gehört. Das Original-Teil aus den Sechzigern mit drei abblätternden Farbschichten war wahrscheinlich unter dem Label Vintage-Shabby-Chic reines Gold wert beim Sotheby’s der Neuenheimer Mütter.

Freja riss hörbar Schränke und Schubladen auf und knallte bunte Bauklötzchen – nein, wir hatten nicht das gute Erzi-Gemüse – auf den Tresen. Ich musste lächeln bei dem Gedanken, was die Neuenheimer Mütter wohl dazu sagen würden. Anton hatte sich nochmal auf die selbstaufblasenden Matten gelegt, als er kam, um mich zum Frühstück zu rufen. Der Liebe. In der Tat hatte ich die Extraportion Schlaf bitter nötig gehabt, nachdem wir bis um fünf Uhr früh gezecht hatten. Meine ausgelassene Stimmung sowie die allzu schwungvolle Geste, mit der ich meinen Kaffee nahm und gleich halb über den Tisch kippte, sagten mir, dass ich immer noch einen im Tee hatte. Ich war einfach keinen Alkohol mehr gewöhnt.

Nichts schlägt das Gefühl, als Gastgeberin kein Gastgeber sein zu müssen. Der Tisch hatte sich von allein gedeckt, alle wuselten eifrig durch die Küche. Ich hatte nicht das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. Nach dem ersten Schluck Kaffee und einem prüfenden Rundumblick fiel mir allerdings auf, dass eine fehlte. Emma. Während die anderen noch Käse und Wurst auf Brettchen häuften, Charlotte gemeinsam mit Freja ein paar Äpfel schnitt und Celia eine Anekdote aus ihrem letzten Backpacking-Urlaub teilte, machte ich mich auf die Suche. Ich fand Emma in meinem Kinderzimmer auf dem Bett sitzend, ihren Laptop auf dem Schoß. Durch die halb geöffnete Tür beobachtete ich, wie sie leblos auf den Bildschirm starrte, das Handy in der Hand. Sie hatte abgenommen. Sie sah gar nicht gut aus. Die Augen standen hervor, genau wie ihre Wangenknochen. Die Arme ragten bleich und dünn aus dem XL-Shirt, das ich ihr zum Schlafen überlassen hatte. Ihr Körper sah saft- und kraftlos aus und die letzte Nacht hatte dunkle Schatten unter ihre Augen gemalt. Ich klopfte leise an die offene Tür.

„Huhu! Es gibt Frühstück…“ Emma hob langsam den Blick. Ihre Augen waren verdächtig gerötet. Ich marschierte wortlos durch die Tür, durchquerte in zwei Schritten das winzige Zimmer und pflückte ihr zuerst Laptop und Handy aus den Händen. Dann setzte ich mich zu ihr auf die quietschende Matratze und nahm sie in den Arm. Sie wehrte sich nicht. Entspannte sich aber auch nicht. Vielleicht eine klitzekleine Sekunde. Ich drückte kurz und ließ sie wieder los. „Emma, du siehst furchtbar aus.“ Ihr entfuhr ein hysterisches Glucksen. „Magst du nicht einfach hierbleiben? Das Zimmer ist frei“, bot ich an. Sie warf mir einen strafenden Blick zu. Ich sah aber auch den Anflug eines Lächelns. „Ich bin eine Mutter und offiziell dazu berechtigt, Entschuldigungen auszustellen“, fabulierte ich hilflos weiter. Die Themen Arbeit und Alexander hatten wir gestern Nacht gemeinsam mit Charlotte schon ausgiebig bequatscht. Und begossen. Ich wusste auch nicht, wie ich ihr helfen konnte. Außer Aufmuntern vielleicht.

Emma ließ pfeifend die Luft entweichen wie ein Dampfkessel und sackte weiter in sich zusammen. „Sorry, dass ich so ein Wrack bin“, seufzte sie. „Quatsch!“, entgegnete ich. „Ne, ich kann das ja alles selber nicht mehr hören“, murmelte sie. Sie legte den Kopf nach vorne und strich mit beiden Händen über ihren Nacken. Eine Geste, die ich in den vergangenen vierundzwanzig Stunden schon häufiger gesehen hatte. „Wann fahrt ihr heute?“, fragte ich. „Hast du Lust, nach dem Frühstück einen kleinen Spaziergang zu machen?“ Sie blies wieder Luft aus den Backen. „Ich erreiche heute eh niemanden mehr“, stellte sie fest. Ich lächelte sie an und rieb ihr tröstend den Rücken, wie ich es bei Freja machte, wenn sie sich mal wieder den Kopf gestoßen hatte. „Du schaffst das, Emma. Du bist nämlich richtig gut. Ich weiß das. Du weißt das. Dein Chef weiß das. Aber du musst auch auf dich Acht geben. Ok?“ Sie atmete durch, rang sich ein Lächeln ab und nickte. „Ok.“

Als die Tür hinter Emma und Charlotte ins Schloss fiel, breitete sich ganz kurz die gewohnte Stille im Haus aus. Freja zupfte an meinem Ärmel. „Wo gehen die hin? Wo gehen die Schallotte und die Emma denn hin?“, fragte sie traurig. „Nach Hause“, antwortete ich. „Und Feedi und Jonathan? Und Seela?“ „Auch nach Hause“, seufzte ich. „Gehen wir auch nach Hause?“ „Wir sind hier zu Hause, Freja.“ „Du und der Papa und die Feeja.“ „Genau.“ Sie dachte einen Moment darüber nach. „Warum gehen die Schallotte und die Emma nach Hause? Und der Feedi und der Jonathan und die Seela?“ „Weil die woanders wohnen.“ „Warum?“ Ich seufzte wieder und schenkte Freja endlich meine ganze Aufmerksamkeit. „Charlotte und Emma wohnen in Erlangen. Die beiden gehen da zur Arbeit. Und Fredi, Jonathan und Celia müssen auch arbeiten.“ „Im Büro?“, quakte Freja. „Ja, im Büro.“ „Am Kompiuter?“ „Ja, genau.“ „Wie du und der Papa?“ „Wie ich und der Papa“, echote ich. Stille. „Warum?“ Sie guckte mich mit großen braunen Augen an. Manchmal war es schwer, Freja eine zufriedenstellende Antwort zu geben.


„Guten Morgen Frau Jakob. Was macht Ihr Magnus Opus?“ Albert Gunnich. Nicht schon wieder. Allein der Klang seiner leisen, immer leicht gehetzten Stimme löste in mir Abwehrreaktionen aus. Ich schloss die Augen, zwang mich ruhig einzuatmen und setzte mein gefaketes Telefonlächeln auf. Allerdings unnötigerweise. Wie gewohnt ohne eine Antwort abzuwarten, sprach Herr Gunnich weiter. Ein paarmal versuchte ich, ein Wort in seinen Redefluss zu quetschen, doch ohne Erfolg. „Ich erwarte eine Rückmeldung asap. So schnell es geht. Wie Sie sicher verstehen, hat das höchste Priorität. Und wenn Sie dann bei Gelegenheit wieder auf meinen Computer schauen könnten – das Schreibprogramm funktioniert schon wieder nicht richtig. Sie kriegen das sicher im Handumdrehen hin, Sie sind doch ein digital native. Ach ja, und vergessen Sie nicht, das nächste Mal die Post mit nach oben zu bringen. Heute kam ein Bücherpaket und ich möchte nicht, dass meine Frau das hochträgt. Und wegen Frankfurt, haben Sie sich das notiert? Um sechs müssen wir spätestens los. Ein Auto wäre das Beste. Es hat wirklich äußerste Dringlichkeit. Danke.“ Er legte auf. Während der Hörer nutzlos tutete, löste sich mein Fake-Lächeln auf und ich versuchte Herrn Gunnichs Vortrag in verdauliche Stücke zu zerhacken. Ein Konzert. André Rieu – sie hatten Karten geschenkt bekommen. Hatte ich das richtig verstanden? Die Gunnichs gingen auf ein Konzert. Heute Abend. In Frankfurt. PRIVAT. Und ich sollte ihre Anfahrt organisieren. Nicht sein Ernst.

Ich scrollte genervt durch meinen Posteingang und fand fünf E-Mails von Margarete Gunnich, meiner Chefin. Und Doktormutter. Alle trugen den Titel Bitten, einige den Zusatz Dringend! Ich öffnete die erste Mail und fand wie immer ein Word-Dokument im Anhang, ebenfalls mit dem Titel Bitten. Ich überflog das Dokument. 10 Seiten! Wie immer montags wunderte ich mich darüber, was die Gunnichs am Wochenende trieben. Sie schienen ihre gesamte Zeit darauf zu verwenden, mich beschäftigt zu halten. Im Dokument und auch in den Folgemails stand nichts von André Rieu. Gut möglich, dass Frau Gunnich noch gar nicht in die Pläne ihres Gatten eingeweiht war. Um diese Zeit war sie normalerweise noch nicht ansprechbar. Nur Herr Gunnich fand nichts merkwürdig daran, morgens um acht gleich als erstes die Sekretärin seiner Frau anzurufen. Und ihr Befehle zu erteilen. Ein Konzert. Heute Abend. PRIVAT. Das war doch nicht sein Ernst. Ich seufzte. Der Montag versprach lang zu werden.

Um elf Uhr hatte ich die dringlichsten Bitten (Dringend!) aus den diversen E-Mails und Word-Dokumenten notdürftig abgearbeitet oder an die Hiwis und die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter outgesourct. Ich hatte mich auch bereits durch alle Autoverleihs der Stadt durchtelefoniert. Fehlanzeige. Ich hatte die Bahnverbindung gecheckt und sogar nach günstigen Hotels in Frankfurt gefahndet („Weil zu so einer späten Uhrzeit, da ist auf die Bahn kein Verlass. Sie verstehen. Ich kann es mir nicht leisten, in Frankfurt festzusitzen. Ich habe morgen einen wichtigen Vortrag in Köln. Da brauche ich auch meinen Schönheitsschlaf.“). Ich kotzte innerlich. Wie konnte es sein, dass ein kinderloses Ehepaar, zwei Koryphäen der Literatur- und Kulturwissenschaft mit zwei fetten Professorengehältern, kein Auto hatten? Oder sich kein Taxi leisten wollten (die Konzertkarten gab’s ja offensichtlich umsonst)? Oder keinen Chauffeur? Oder gleich einen Leibeigenen? Ah, nein. Sie hatten ja einen. Mich.

Inzwischen waren weitere Bitten-E-Mails in meinen Posteingang geflattert neben der üblichen Flut an Student*innen-Mails. Es klopfte leise und Margarete Gunnich steckte ihren Kopf durch meine Bürotür. „Können Sie kurz rüberkommen?“ Sie verschwand. Ich ließ seufzend alles liegen und schnappte einen Stapel Papiere, die ich schon vorbereitet hatte. Jede Seite säuberlich in einen Plastikumschlag verpackt („Ohne Knitter bitte, ich habe schon genug Unordnung in meinem Leben!“), oben geheftet mit einer bunten Büroklammer („Nicht die silbernen, die rosten so schnell!“) und mit farbigen Post-Its markiert („Wo muss ich unterschreiben?“). Zum Notieren der neuerlichen Bitten, die sicher kommen würden, packte ich einen Notizblock und einen Stift ein. Ich schloss meine Bürotür zwei Mal ab („All die sensiblen Daten, die bei Ihnen abgeheftet sind!“) und ging in das geräumige Büro von Frau Gunnich gegenüber.

„Ah, Frau Jakob“, sagte sie und strahlte über ihre Goldrandbrille als sei ich zufällig vorbeigekommen. Ich lächelte und erkundigte mich höflich nach ihrem Wochenende. Sie winkte ab. „Ach bei diesem scheußlichen Wetter kann man ja nichts Rechtes machen. Ich glaube, ich werde wieder krank. Heute Morgen habe ich fürchterlich Kopfschmerzen.“ Ihre grünen Augen blitzten. Ich entdeckte das obligatorische Fläschchen Homöopathikum prominent platziert auf ihrem Schreibtisch. Allerdings wirkte Frau Gunnich heute recht frisch und gesund. „Und wie geht es Ihrem Töchterchen?“, fragte sie mich. „Kann sie denn schon laufen?“ Ich lächelte gequält. „Ja, sie kann laufen, rennen und Laufrad fahren.“ „Ach du liebe Güte, da muss man ja gut auf alles aufpassen, wenn da ein Kind überall dagegen rennt!“ Sie lachte und zwinkerte. Frau Gunnich hatte ein sehr abstraktes Bild vom Elternsein. Ein bisschen wunderte ich mich manchmal über ihr fehlendes Einfühlungsvermögen. Schließlich hatte sie ein Buch darüber geschrieben, dass Lesen Empathie fördert. Natürlich nur das Lesen der richtigen Bücher, also der Bücher, die Frau Gunnich las.

Nachdem ich in mein Büro zurückgekehrt war (ich hatte Frau Gunnich geholfen, ein YouTube-Video samt Ton anzustellen, mit der Schwierigkeit, dabei Google nicht verwenden zu dürfen und keine Daten an Dritte weiterzugeben), erwartete mich ein gefährlich blinkendes Telefon. Gerade als ich auf „verpasste Anrufe“ klicken wollte, ging der nervige Klingelton schon wieder los. Albert Gunnich flüsterte durch den Hörer und dozierte zehn Minuten lang über seine To-Do-Liste des heutigen Tages und der kommenden Wochen. Ich hatte schon auf Durchzug geschaltet, als er eine Pause einlegte. „Wie bitte?“, brachte ich hervor, während sich mein Puls verschnellerte. „Sie haben sicher schon eine Lösung für heute Abend. Richtig“, knurrte er. Eine Feststellung. Ich begann die Situation zu erklären, aber Herr Gunnich schnitt mir das Wort ab. „Ich habe Ihnen gesagt, ich erwarte eine Rückmeldung a-s-a-p, as soon as possible. Ein Auto werden Sie ja wohl auftreiben können. Es wird ja jemand am Lehrstuhl ein Auto haben.“ Er legte auf. Ich starrte fassungslos das Telefon an, das wieder unschuldig vor sich hin tutete. Das war genug. Ich klingelte bei Angela durch: „Mayday, mayday!“ „Oje, das klingt nicht gut. In fünf Minuten im Common Room?“ „Bitte!“

Ohne Angela hätte ich den Job schon vor Langem hingeschmissen. Sie war Idealistin, nahm ihre Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin sehr ernst und würde hundertprozentig eines Tages selbst Professorin sein. Mit ihr konnte ich stundenlang über Theorien fachsimpeln und Ideen austauschen. Sie motivierte mich, an meiner Dissertation dran zu bleiben, identifizierte Schwachstellen und lieferte Inspiration für weitere Kapitel und Recherchen. Und nicht zuletzt war sie mein Kummerkasten, wenn es um die Gunnichs ging. Dieses unfehlbare Paar, der Glanz unseres Instituts! Nur Angela teilte mit mir Einblicke in die Abgründe, die sich manchmal auftaten, wenn man allzu nah mit ihnen zusammenarbeiten musste.

Nachdem ich mich ausgiebig bei Angela ausgekotzt hatte, stellten wir gemeinsam das Institut auf den Kopf, um ein Auto aufzutreiben. Es half ja nichts. Natürlich war weder bei den Hiwis, armen Studenten am Tropf der Uni, noch bei den wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen, prekär-verdienenden Fahrradfahrer*innen, etwas zu holen. Auch das Umfeld besagter Klientel hatte so kurzfristig kein Auto anzubieten. Zumindest nicht inklusive Fahrer*in – klar, Albert Gunnich würde nicht selbst fahren. Der Tag schleppte sich voran, während ich den Berg an Bitten und Student*innenanfragen langsam abarbeitete. Albert Gunnich rief noch ganze drei Mal an. Irgendwann wurde er richtig patzig, aber das war mir dann auch schon egal. Ich konnte nun mal kein Auto her hexen.

Gegen fünf klopfte es wieder sacht an meiner Tür. Margarete Gunnich schlüpfte gut gelaunt herein und legte mir einen Stapel Papiere in Klarsichtfolie hin. Neue Bitten. „Gehen Sie jetzt los zum Konzert? Ich habe Ihrem Mann die Zugverbindung ausgedruckt und auf einer Karte genau eingezeichnet, wie Sie hinlaufen können. Zurück fahren mehrere Regionalverbindungen, die habe ich aufgelistet. Außerdem gibt es die Möglichkeit, ein Taxi zu rufen. Die Telefonnummern habe ich auf dem Dokument markiert und schon angerufen: Es sollte kein Problem sein, um die Zeit ein freies Auto zu bekommen, wurde mir versichert. Kosten stehen auch dabei.“ Frau Gunnich lächelte mich freundlich an. „Nein, nein. Ich gehe nicht zum Konzert. Mein Kopf ist immer noch ganz schwummrig. Das ist lieb, dass Sie das alles recherchiert haben. Mein Mann fährt bei einem Kollegen mit. Sie wissen schon, der uns die Karten geschenkt hat. Schauen Sie, dass Sie bald Feierabend machen, ja?“ Sie winkte und schloss hinter sich leise die Tür.

Kapitel 3

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Kapitel

Emma

„durf, leef, geniet“ – Wie immer, wenn ich vor Neles und Antons Eingangstür stand, überkam mich ein heimeliges Gefühl des Willkommenseins. Das alte, verwinkelte Häuschen der beiden war für uns Freunde Zufluchtsort und zentraler Treffpunkt. Hier fanden Silvesterfeiern statt, hier wurde sich nach langen Reisen in die Arme gefallen, hier wurden Liebeskummertränen in Rotwein ertränkt. Letzteres war mein Stichwort. Alexander war nicht mitgekommen, Iris auch nicht. Dafür stand Charlotte neben mir und schleppte meinen Arbeitslaptop für mich durch die Gegend. „Bist du sicher, dass das nötig ist? Am Wochenende zu arbeiten?“, fragte sie skeptisch. „Die drehen immer noch alle durch. Jetzt wollen sie auch noch einen Film für ihr dämliches Event“, maulte ich. „Am Mittwoch steht die Crew auf der Matte und will Locations und Interviewpartner sehen.“ Beim Gedanken daran wurde mir übel. Eine völlig unmögliche Zeitschiene. Aber der Film war ein Wunsch des CEOs höchstpersönlich und glich daher einer Anforderung direkt aus den himmlischen Gewölben Gottes. Ich drückte den Klingelknopf. Erstmal Rotwein. Dass es erst halb zwei war, würde ich großzügig ignorieren.

Die Probleme mit der fast gescheiterten Veranstaltung hatten sich in den letzten zwei Wochen überschlagen. Kaum war ein Hindernis überwunden, tat sich das nächste auf. Ich hatte seit Tagen kaum geschlafen. Meinem Umfeld bluteten die Ohren von meinen ständigen Jammertiraden. Besonders Alexander hatte die Schnauze voll. Sobald ich von der Agentur sprach, sah er aus, als ratterte ein Garagentor vor seinen Augen herunter. Er machte dicht. „Du hörst ja eh nicht auf mich, dann brauche ich mir das auch nicht anhören“, sagte er dann.

Am Abend zuvor hatte sich der Frust, der sich bedrohlich zwischen uns aufgestaut hatte, sein Ventil gesucht. Wir saßen in seinem Wohnzimmer, nebeneinander auf der Couch, quadratische Pappboxen mit chinesischem Takeaway auf dem Schoß. „Hörst du mir überhaupt zu?“, fragte er mich. „Klar“, sagte ich und hatte keine Ahnung, wovon er gesprochen hatte. „Und was denkst du dazu?“, fragte er. „Klingt gut“, entgegnete ich, in der Hoffnung, dass diese Antwort zufällig passen würde. Sein Gesicht verdunkelte sich. Fehlanzeige. „Sag‘ einfach, wenn ich die Klappe halten soll“, sagte Alexander kraftlos. Ich stellte meine Nudelbox auf den Couchtisch und drehte mich zu ihm, vergrub meine Nase in seinem Nacken, gab ihm einen zarten Kuss auf den Hals. „Tut mir leid, Alex, die Arbeit macht mich einfach fertig zur Zeit. Sag‘ bitte nochmal.“ Sofort verhärtete sich sein Halsmuskel und er zuckte leicht mit der Schulter. Als würde er mich abwerfen wollen. „Aha“, sagte er.

Ich ließ von ihm ab und wandte mich wieder meinem Abendessen zu. Unzählige Antworten bauten sich in mir auf, stapelten sich gegen meine Stimmbänder und taten alles, um gesagt zu werden. Unterstütz‘ mich doch, wollte ich rufen. Nimm‘ mich in den Arm, wollte ich betteln. Ich biss mir auf die Unterlippe und schob mir eine Gabel gebratener Nudeln in den Mund. Ich war mir sicher, würde er mir wieder mit „Du hörst ja eh nicht auf mich“ kommen, ich würde ihm eben jene Gabel in die garagentorverschlossenen Augen stechen. Und so starrte ich schweigend vor mich hin und versuchte, die gereizte Stimmung, die zwischen uns vor sich hin knisterte, zu ignorieren. Leider tat es mir Alex nicht gleich. „Was hast du denn jetzt?“, wollte er wissen.  „Alles gut“, murmelte ich unbestimmt und griff nach der Fernbedienung, um den Fernseher anzuschalten. „Ok, dann lassen wir’s halt“, sagte Alexander mit einem entnervten Seufzer. Ich schaute ihn von der Seite an. Zum ersten Mal in sechseinhalb Jahren formte sich ein Gedanke in meinem Kopf: Ja, warum lassen wir’s nicht einfach? Erschrocken senkte ich den Blick und spießte ein Stück Hühnchen auf. Hatte ich das gerade wirklich gedacht? Verwirrt angelte ich mein Diensthandy vom Tisch und scrollte wie ferngesteuert durch meine E-Mails. „Das meine ich“, kommentierte Alexander. „Kein Wunder, dass du nicht schlafen kannst.“ Er zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. „Gut, dass wenigstens du alles besser weißt“, schnappte ich und sank sofort in mir zusammen. Das war’s gewesen für den Abend. Traurig beobachtete ich, wie die Worte ihren Weg hinüber zu Alexander fanden, wie sie in seine Ohren krochen und sich ihre Bedeutung mit allen Untertönen, Facetten und Seitenbemerkungen in seinem Kopf entfalteten. Hautzelle für Hautzelle verzog sich sein Gesicht. Erst um die Augen herum, die sich zu verärgerten Schlitzen verengten, dann um die Mundwinkel, die sich verächtlich nach unten zogen.

Das aufgeregte Stimmengewirr hinter der schweren Holztür holte mich zurück unter das Eingangsschild der Jakobs. Charlotte ließ die Klingel nochmal durchs Haus plärren. Wir hörten, wie Anton etwas zu Freja sagte, sein Ton glockenhell vor lauter typisch-elterlichem Enthusiasmus. Ich schluckte. „Du musst dich einfach zusammenreißen“, dachte ich. „Eigentlich läuft doch alles wunderbar.“ Es stimmte, eigentlich konnte ich mich nicht beschweren. Die Arbeit war anstrengend, aber unterm Strich war ich erfolgreich, verdiente einigermaßen vernünftiges Geld. Und oben drauf hatte ich einen Partner, mit dem ich viel gemeinsam hatte und der bereit für den nächsten Schritt war. Genau wie ich. Was will man mehr? Vielleicht war ich einfach zu streng mit Alexander. Vielleicht musste ich mich einfach mehr bemühen, seine Sichtweise zu verstehen. Vielleicht wollte er mir einfach nur helfen. Vielleicht.

„Hör mal, ich glaub‘, Freja kommt“, sagte Charlotte und schmunzelte leise, als zwei kleine Füßchen Schritt für Schritt die steile Treppe hinuntertrapsten. Schließlich bewegte sich die Türklinke Millimeter für Millimeter mit einem leisen Quietschen nach unten und die Tür öffnete sich ruckelnd. Freja strahlte uns triumphierend an, stolz, die immense Anstrengung des Türaufmachens ganz allein gemeistert zu haben. „Ja hallo, Freja“, sangen Charlotte und ich im Chor. Ebenfalls gebührend enthusiastisch. Wir polterten in den engen Flur und blieben mit unseren Rucksäcken im Türrahmen hängen beim Versuch, der Kleinen nicht aus Versehen eine Kopfnuss zu verpassen. Umständlich stapelten wir unsere Sachen in der Garderobe auf, streiften die Schuhe ab und erklommen schließlich die knarzende Holztreppe hinauf ins Wohnzimmer.

Oben angekommen merkte ich, wie sich die verkrampfte Stressfalte auf meiner Stirn unweigerlich glättete und sich meine düsteren Gedankenwolken ein wenig lichteten. Auf den beiden geschwungenen Ledersofas fläzten bereits Jonathan und Fredi und teilten eine Ausgabe der ZEIT unter sich auf.  „Na, ihr Streber, tut ihr wieder so als wärt ihr politisch interessiert?“, scherzte ich und nahm die beiden in den Arm. Wir hatten uns seit gut drei Monaten nicht mehr gesehen. Jonathan arbeitete als Immobilienmakler, Fredi war Ingenieur. Unsere faulen Studententage lagen hinter uns und es wurde immer schwerer, alle Schäfchen des Freundeskreises zusammenzutreiben.

„Da seid ihr ja, schön dass ihr da seid!“ Nele kam aus der Küche geflitzt und strahlte uns herzlich an. Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Danke, dass wir da sein dürfen“, sagte ich und war ehrlich froh, dem heimischen Drama für zwei Tage entflohen zu sein. Hinter Neles Rücken tauchte Anton auf und schaute sich suchend um. „Wo ist denn Alexander?“, fragte er. Nele schoss ihm einen strafenden Blick zu. Fettnäpfchenalarm. „Mensch, Anton“, zischte sie. Ich quälte mir ein Lächeln aufs Gesicht und sagte betont leichtfüßig: „Ach, der wollte noch was für die Arbeit fertig machen und ist zuhause geblieben.“ Ich spürte wie die Blicke meiner Freunde an mir hafteten. Aus der unangenehmen Stille, die meine Antwort in den Raum spuckte, schloss ich, dass mein Schauspiel nicht sonderlich überzeugend gewesen war. Während ich sorgfältig darauf achtete, Blickkontakt mit allen Anwesenden zu vermeiden, schlängelte ich mich in die Küche und fischte ein Weinglas aus der Vitrine. Ich mochte das leise Ächzen, mit dem sich die fein verzierten Flügeltürchen des alten Möbelstücks öffneten. Nele war mir nachgelaufen. „Ist alles ok bei dir?“, fragte sie leise. „Klar, alles gut“, entgegnete ich. „Hast du nen Rotwein offen?“ Nele zeigte auf die Speisekammer und wendete sich einem riesengroßen Topf zu, der zufrieden vor sich hin brodelte. Es roch nach ihrem berühmten Chili. Sie war die Meisterin des Zubereitens von Leckereien in rauen Mengen, um die hungrigen Mäuler ihrer Freunde zu stopfen.

Ich nahm eine angebrochene Weinflasche aus dem Regal in dem engen Kabuff und hielt meine Nase prüfend über den Flaschenhals. Dornfelder, naja. Ich zuckte die Schultern und füllte mein Glas. „Willst du ein Wasser dazu?“, fragte Nele. Ich hatte bereits einen großen Schluck genommen und grinste ertappt. „Nein, passt…hör mal, ich muss noch bisschen was arbeiten, ich geh‘ nach oben, ja?“ Nele sah mich forschend von der Seite an. Wieder wich ich ihrem Blick aus und stahl mich aus der Küche. Ich schnappte mir meine Tasche und kletterte ein weiteres Stockwerk nach oben. In Neles altem Kinderzimmer setzte ich mich aufs Bett und klappte den Laptop auf. Ich verzog das Gesicht. 27 neue E-Mails. An einem Samstagnachmittag.

E-Mail öffnen, Antwort tippen, senden. E-Mail öffnen, Antwort tippen, senden. Wie ein gehorsames Maultier ackerte ich mich Zeile für Zeile durch die Liste an Nachrichten in meinem Postfach. Mein Chef wollte wissen, ob ich bereits Protagonist*innen für den Film zum Presseevent gefunden hatte. Unser Kunde hatte dazu Vorschläge geschickt. Alle unbrauchbar. Verzweifelt krabbelten meine Finger über die Tastatur. Eine kurze Anregung hier, eine höfliche Rückfrage da, und dabei bloß niemandem auf den Schlips treten, niemanden in der Abstimmungsschleife übergehen und schon gar nicht die eigene Überforderung durchschimmern lassen. Ich nippte an meinem Rotwein. Ich nippte nochmal, nahm dann einen beherzten Schluck und stellte das Glas trotzig zurück auf den kleinen Nachttisch neben dem Bett. „Was für eine Zeitverschwendung“, dachte ich grimmig. Dieser Film brachte der Veranstaltung überhaupt nichts, ließ das Stresslevel aber gnadenlos durch die Decke gehen. Und das nicht einmal nur für mich. Auf der verzweifelten Last-Minute-Suche nach Mitwirkenden machte ich das halbe Unternehmen unseres Kunden kirre. Ich schüttelte den Kopf. „Was für eine bodenlose Zeitverschwendung“, dachte ich wieder.

Ich spitzte die Ohren. Unten hörte ich meine Freunde reden. Fredi lachte schallend – wahrscheinlich über einen Witz, den er selbst gemacht hatte. Gläser klirrten. Offenbar war ich nicht mehr die einzige, die sich zu etwas verfrühtem Alkoholkonsum hinreißen ließ. Die Türklingel ließ das fröhliche Gewusel einen Moment lang innehalten. Dann setzte sich jemand in Bewegung, stapfte die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Ich hörte, wie ein weiterer Rucksack gegen die engen Wände des Hausgangs streifte, bevor der Neuankömmling sich ebenfalls seinen knarzenden Weg ins Wohnzimmer bahnte und mit großem „Hallo“ empfangen wurde. „Emma arbeitet oben“, filterte ich Jonathans Stimme aus dem Kreuzfeuer an Begrüßungen. Ich starrte missmutig auf den gleißend hellen Bildschirm meines Computers. Emma arbeitet und bisher kein Ende in Sicht. Ich schaute auf mein Diensthandy. Zwei entgangene Anrufe von Holger, der mich bei der Filmaktion unterstützen sollte. Anstatt ihn zurückzurufen, checkte ich mein privates Handy. Keine Nachricht von Alexander. Ich seufzte. Dann eben doch Holger.

Kapitel 2

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Kapitel

Nele

„Es kann keine Geschichte ohne ein Ende geben und gleichzeitig kein Ende ohne eine Geschichte.“ (Freeman, Hindsight 135) Ich nahm einen Löffel Bio-Mangoquark in den Mund und lutschte versonnen daran herum. Kein schlechtes Ende für mein Kapitel. Ich blätterte zum tausendsten Mal in meiner zerfledderten Kopie des Romans Vom Ende einer Geschichte und las ziellos einige der angemarkerten Zitate. Ich hatte das Buch mit endlos vielen pinken, gelben, blauen und grünen Zetteln gespickt – ein Farbcode, dessen Sinn mir selbst inzwischen entglitten war. Dazu kamen Markierungen mit Neongelb, pinkte Unterstreichungen und Kuligekritzel an den Rändern und zwischen den Zeilen. Interliniar-Glossen. Keine Bibel war je so akribisch gelesen worden. Im Laufe der letzten Monate hatte ich jedes einzelne gedruckte Wort von Julian Barnes unter die Lupe genommen, es gedreht, gewendet und schließlich entschieden, ob es zitierfähig war. Barnes-Exegese. Ich seufzte. Es war Zeit, dass ich dieses Kapitel endlich abschloss. Ich fischte nach mehr Mangoquark, aber der Becher war schon leergekratzt. Ich beschloss, dass ich jetzt nicht mehr produktiv war, speicherte und klappte den Laptop zu.

Mein Kopf schwamm noch von akademischen Phrasen. Narrative Strategien der Sinnstiftung. Performative Bedeutungserzeugung im Akt des Erzählens. Ich legte den Kopf in den Nacken und drückte die Schulterblätter zusammen. Es knackte wie immer. Ich ließ den Kopf einmal kreisen und dachte zum hundertsten Mal darüber nach, mir einen „vernünftigen“ Computer, eine Tastatur und einen großen Bildschirm zuzulegen. Wie immer ignorierte ich den Vorschlag. Lieber eine Runde Yoga. Als ich gerade von der Kobra in den herabschauenden Hund überging, hörte ich entferntes Gedudel. Mein Handy. Ich stolperte die knarzende Treppe herunter und drückte auf den roten Knopf. Anton. „Ich hab’ schon fünfmal bei dir durchgeklingelt“, sagte er gehetzt. „Ich steck im Termin fest. Kannst du bitte Freja abholen? Tut mir echt leid, Nele, aber hier ist grade die Hölle los.“

Mein Blick schnellte zur Küchenuhr. Fünf vor zwei. „Bin unterwegs.“ Ich legte auf und hüpfte auf einem Bein ins Schlafzimmer, während ich aus der Jogginghose rausschlüpfte. Auf der Treppe zog ich den Reißverschluss meiner Jeans hoch, wickelte mir einen Schal um den Kopf, krallte mir die Schlüssel und bugsierte mein Fahrrad aus der Tür, nicht ohne es an drei Ecken anzuschlagen. Zum Glück zeigte sich der Februar heute von seiner sonnigeren Seite. Ich strampelte zur Kita und ignorierte dabei ein paar Verkehrsregeln. Völlig verschwitzt stand ich schließlich vor der Kitatür. Ich hasste das. Die Tür wurde jeden Tag um Punkt zwei Uhr verriegelt. Zu spät kommende Eltern mussten klingeln und ihre Schmach so vor aller Augen büßen. Man ließ mich warten. Ich klingelte noch einmal. Die kurzhaarige Erzieherin öffnete schließlich die Tür – mit hochgezogenen Brauen. „Freja ist wieder in den Igelgruppe“, sagte sie. Was sie meinte war: „Die arme Freja hat Asyl bei den größeren Kindern gefunden. Sie können von Glück sagen, dass wir um zwei Uhr nicht die ganze Kita dichtmachen. Können Sie sich nicht an die Abholzeiten halten, so wie die andern Eltern auch?“

Ich lächelte freundlich, schob mich durch die Tür und begann Frejas Habseligkeiten einzusammeln. Die dunkelhaarige junge Frau wischte wie immer schon den Boden in der Marienkäfergruppe. Sie sagte hilfreich: „Freja ist wieder in der Igelgruppe!“ Ja, vielen Dank. Heute hätte ich ausnahmsweise pünktlich kommen können. Ich hatte Anton gebeten, Freja abzuholen, damit ich endlich dieses blöde Kapitel fertigbekam. Seit zwei Jahren zog sich meine Dissertation schon – zäh wie Kaugummi. Kein Wunder, neben meinem Job im Lehrstuhlsekretariat und meinen zwei Lehraufträgen kam ich einfach nicht dazu. Nur der Freitagvormittag war für die Dissertation geblockt. In der Theorie. Praktisch erledigte ich in den paar Stunden alles, wozu ich sonst nie kam: Arztbesuche, Telefonate, Einkäufe, Wäsche, Rechnungen, Steuer, und nicht zuletzt Unterrichtsvorbereitung für meine Seminare. Nur heute hatte ich mir vorgenommen, endlich mal voranzukommen. Ich ärgerte mich kurz über Anton und seufzte dann. Er konnte ja auch nichts dafür. Resigniert öffnete ich die Tür der Igelgruppe.

Freja war gerade damit beschäftigt, abgewetzte Schaumstoffwürfel in einer Ecke aufzutürmen. Wie alles, was Zweieinhalbjährige machen, tat sie es sehr konzentriert und mit großem Ernst. Als ich sie erspähte, setzte mein Herz einen Schlag aus. Das passierte häufiger, wenn ich sie ein paar Stunden nicht gesehen hatte. Manchmal vergaß ich zwischendrin einfach, dass ich eine Tochter hatte. Die blonde Erzieherin hatte mich allerdings auch schon entdeckt. „Freja, guck doch mal, deine Mami ist da!“ Ich wappnete mich innerlich. Freja war aktuell unberechenbar: Mal fiel sie einem um den Hals, mal wälzte sie sich schreiend auf dem Boden, wenn man sie aus der Kita abholen wollte. Freja schaute auf und schien eine Sekunde zu zögern. Dann ließ sie den krümeligen Schaumstoffwürfel fallen und rannte mir entgegen. Sie warf sich in meine Arme und ich musste kurz dagegen ankämpfen nach hinten umzufallen. Ich vergrub mein Gesicht in ihren leicht angeschwitzten Haaren. Sie roch wie immer fantastisch.

„Ich bin mit dem Fahrrad da, Freja“, verkündete ich in der Hoffnung, sie schnell aus der Kita lotsen zu können. Freja schaute auf und krähte in Richtung der blonden Erzieherin: „Ich darf mit dem Fahrrad nach Hause fahren!“ „Das ist aber toll, Freja!“ Die Erzieherin suchte meinen Blick. „Kinder unter drei müssen eigentlich bis zwei Uhr abgeholt sein.“ Ich schluckte herunter, dass ich erst vor wenigen Minuten erfahren hatte, dass ich Freja heute abholte. Das ging sie gar nichts an. „Tut mir Leid, kommt nicht mehr vor“, versprach ich lahm. Sie verzog ärgerlich den Mund. „Das nächste Mal berechnen wir einen Aufschlag. Nach vierzehn Uhr ist unser Personalschlüssel zu niedrig, um Kinder unter drei zu betreuen.“ Ich nickte ergeben. Zum Glück endete der Vortrag an dieser Stelle, weil die blonde Erzieherin von einer Dreijährigen mit diversen rosa Spangen in den Haaren abgelenkt wurde, die auf Toilette wollte. Ich schnappte Freja und zerrte sie hinter mir her, während ich gut gelaunt etwas von Fahrradfahren plapperte. Ich hoffte, dass das Freja genügend ablenken würde. Im Gang stand nämlich ein verführerisches Klettergerüst mit Rutsche, auf das die Kinder beim Abholen „keinesfalls“ klettern durften. Ich war mir sicher, es hatte mit Abholzeiten, Versicherungsgründen und Aufsichtspflicht zu tun. Außerdem beschwerten sich regelmäßig Eltern, wenn sich andere Kinder nicht an die Kita-Regeln hielten.

Hinter uns schloss sich mit einem dezenten Klick die Tür zur Garderobe, ein Zwischenraum wie die Luftschleuse eines Spaceshuttles, der Kita und Außenraum trennte. Von hier aus gab es kein Zurück mehr. Yeah. Freja ließ sich klaglos anziehen, während sie mir von ihrem Tag berichtete. Ihre Freundin Frieda hatte heute Fieber gehabt und war abgeholt worden – ein Umstand, der Freja stark beeindruckt hatte. Ich seufzte innerlich: hoffentlich erwischte es uns dieses Mal nicht. Kitaviren waren fies. Ein gefährlicher Cocktail braute sich da regelmäßig zusammen und kippte insbesondere Anton und mich aus den Latschen. Kinder waren da widerstandsfähiger: Freja war oft nur der Krankheitsüberträger. Aktuell zeigte sie zumindest noch keine Anzeichen. Sie plapperte munter, während die zweite Schleuse uns in die Außenwelt entließ. Ich bugsierte Freja mühsam in den klapprigen Fahrradsitz. Zum Glück liebte sie Fahrradfahren und es war gleichzeitig der schnellste Weg nach Hause.

Trotz Mangoquark hatte ich ein riesengroßes Loch im Bauch und versuchte, schnell etwas Essbares zu kochen, ohne Freja fahrlässig umzubringen. Seit Neuestem interessierte sie sich brennend, haha, für alles, was auf dem Herd zubereitet wurde. Sie rührte und schnippelte von Herzen gerne, schälte erstaunlich gut Karotten und schöpfte Sauce. Es war zuckersüß und schrecklich zugleich. Einerseits traute ich ihr eine Menge gesunden Menschenverstand zu, andererseits musste ich mich stets daran erinnern, dass sie eben nur ein halber Mensch war, der gerade erst begonnen hatte, Lebenserfahrung zu sammeln. Ich wusste manchmal nicht, ob es besser war, nicht hinzusehen, oder jeder ihrer Bewegungen wie ein Schatten zu folgen. Heute machten wir Pfannkuchen. Ein großer Spaß. Heißes Fett in der Pfanne. Klebriger Teig in der Schüssel. Nachdem Freja ein Ei auf den Boden gefallen war und sie auf einen fast fertigen Pfannkuchen eine Kelle Teig gegossen hatte, verbannte ich sie aus der Küche. Ohne Erfolg natürlich. Den Rest der Zeit klebte sie mir am Bein, während ich versuchte, ihr kein Öl auf den Kopf zu spritzen.

Zum Glück hatte ich mir am Nachmittag nichts vorgenommen. In den letzten zwei Jahren hatte ich gelernt, dass das einfach sinnlos war. Schon wenn ich auf dem Klo eine Minute länger brauchte als gewohnt, krähte Freja durchs ganze Haus: „MAMA! MAMA, WO BIST DU?“ Freja forderte ungeteilte Aufmerksamkeit. Da ich nur drei Nachmittage pro Woche für sie reserviert hatte, fand ich das auch völlig in Ordnung. Auf Nachfrage beschloss Freja, dass wir auf den Spielplatz gehen würden. Sie vornedran auf dem Laufrad. Ich als Packesel und Verkehrslotse hinterher. Städte und insbesondere Straßen bargen eine erstaunliche Anzahl an Gefahren, denen sich Freja mit Todesmut stellte. Auch hier wechselte ich stetig zwischen Wegschauen und Nachhechten. Entspannt hatte ich schon lange nicht mehr auf eine grüne Ampel gewartet. Das Laufrad potenzierte das Ganze ums Fünffache – nämlich an Geschwindigkeit mit der Freja auf Straßenkreuzungen zuraste. Es war schrecklich, aber ich freute mich, wie mobil und selbstsicher sich meine Tochter durch die Welt bewegte. Eltern sind eine komische Spezies.

Auf dem Spielplatz erwartete uns eine ganze Phalanx an Boogaboo-Kinderwägen unterstützt durch eine Kavallerie teurer Lastenfahrräder in der zweiten Reihe. Die ersten zaghaften Sonnenstrahlen des Jahres hatten also nicht nur uns nach draußen gelockt. Freja schlängelte sich auf ihrem Laufrad zur Frontlinie durch, lies das Rad achtlos fallen und rannte zur Schaukel, den Helm noch auf dem Kopf. Ich bereitete mich innerlich auf die nächsten Stunden vor. Eine Zweieinhalbjährige war eine Sache. Ein Spielplatz voller Eltern, genau genommen voller Mütter, eine völlig andere. Aber da musste ich jetzt durch. Freja brüllte über den ganzen Platz: „MAMA! ICH WILL AUF DIE SCHAUKEL!“ „Da, gleich mal einen guten Eindruck hinterlassen“, dachte ich und arbeitete mich vor zu meiner Tochter. Die Schaukel war gerade besetzt von einem blassen Kind, das von seiner Mutter achtsam angestupst wurde und sich kaum von der Stelle bewegte. Offenbar hatte Freja das hin und her Geruckel nicht als Schaukeln erkannt und war ganz nah rangerückt. Die Mutter schaute irritiert zu mir. „Können Sie Ihrem Kind bitte sagen, dass es hier wegmuss? Quentin schaukelt noch.“ Ich verkniff mir zu entgegnen, dass sie das meiner Tochter auch selbst sagen konnte und schnappte Frejas Hand. „Komm, wir gehen auf die Rutsche.“ „Ich will aber jetzt schaukeln!“ „Ich weiß, aber Quentin schaukelt gerade.“ Freja warf einen zweifelnden Blick auf das Kind und setzte wieder an, aber ich war schneller: „Ich geh jetzt rutschen!“ Damit rannte ich Richtung Rutsche davon. Freja hinterher: „Nein, ICH will rutschen!“ Kinder waren manchmal so berechenbar.

Auf der Rutsche begrüßte uns eine ältere Frau mit den Worten: „Den Helm sollten Sie dem Jungen abnehmen. Der stranguliert sich ja noch beim Klettern!“ Ich lächelte und befreite Freja von ihrem roten Helm. „Das ist ein Mädchen. Freja.“ Die Frau musterte Frejas Latzhose kritisch. „Ein Mädchen in Grün?“ Sie wandte ihren Blick wieder dem Enkel zu, der seit Minuten die Rutsche blockierte. „Komm, Valentin, Oma gibt dir die Hand!“ Sie fasste den Jungen fest an der Hand, aber der rührte sich nicht. Freja war schon hochgeklettert und schaute mich fragend an. Ich hob die Brauen und hoffte, sie verstand, dass sie jetzt warten musste. Die Frau wandte sich mir zu: „Wissen Sie, Valentin mag es nicht, wenn andere Kinder zu nah an ihn rankommen. Er kennt das ja nicht von zu Hause – hat kein Geschwisterchen, wissen Sie.“ Sie machte eine Pause. Ich wunderte mich, ob das ein versteckter Hinweis war, Freja von der Rutsche zu heben und wartete ab. Die Frau lächelte gequält und ging vor der Rutsche in die Hocke. „Oma fängt dich auf, Valentin.“ Valentin rührte sich nicht. Er starrte Freja an als hätte er noch nie ein anderes Kind gesehen. „Valentiiiin“, flötete die Oma.

Ich seufzte. Freja wurde ungeduldig und fing an hin und her zu wippen. Die Oma runzelte die Stirn. „Passen Sie auf, der Junge fällt gleich runter.“ „Ein Mädchen“, korrigierte ich. „Freja.“ „Ah ja“, sagte die Frau abwesend. „Geht sie denn schon in den Kindergarten?“ „In die Kita, ja.“ Die Furchen in der Stirn der Frau wurden tiefer. „Kita? Also unter Drei? Ich finde das ja schlimm. Meine Nichte hat ihre Tochter auch schon mit zwei Jahren in die Betreuung gegeben. Das gab’s bei uns ja früher nicht. Drei Jahre finde ich das Minimum. Und wann kam ihre Tochter in die Krippe?“ Oh nein, dachte ich, nicht schon wieder. Ich wappnete mich gegen einen Feuersturm und sagte eine Spur zu fröhlich: „Freja ist mit sechs Monaten in die Kita gegangen.“ Der Frau fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, dann nickte sie verständnisvoll. „Jaja, wenn man muss, gell… Das ist schon schlimm…“ Ich lächelte gequält, pflückte Freja von der Rutsche, klemmte mir das protestierende Kind unter den Arm und stapfte rauchend Richtung Karussell. Ich hasste diesen Spielplatz.

Manchmal wunderte ich mich immer noch, wann und wie ich in dieses Leben geraten war. Wann hatte er stattgefunden, dieser Wendepunkt, der mich hierhergeführt hatte? War es der Moment, als ich auf dem Badezimmerboden gebannt auf die zwei graurosa Streifen gestarrt hatte, die mir verkündeten, dass wir ab sofort zu Dritt sein würden? Oder ein paar Wochen früher, als Anton und ich beschlossen hatten, dass wir an einem Freitag eine Freja zeugen würden: Die nordische Göttin der Liebe, eine Herrscherin, eine Powerfrau! Dass wir ein Kind wollten und dabei nicht unser Leben umschmeißen würden. So wie früher, als Kinder noch einfach so passierten. Ein freies Kind für freie Menschen. Als wir beschlossen hatten, dass da Platz war für ein Kind in unserem Leben.

In der Tat hatten wir jede Menge Platz. Als meine Mama vor fünf Jahren sehr plötzlich starb, wurde ebenso plötzlich ein Haus frei. Ein kleines, altes Fachwerkhaus in bester Wohnlage in Heidelberg-Neuenheim. Unbezahlbar für Studenten wie uns. Und ungewohnt. Anfangs machte mir die Stille des Hauses sehr zu schaffen. Meine Mama pflegte eine bedingungslose Willkommenskultur: Jeder durfte bei uns machen, was er wollte. Frei nach dem holländischen Spruch durf, leef, geniet – trau dich, lebe, genieße. Graviert in ein Stück Treibholz prangte er über unserer Eingangstür. Kurz nach meinem Einzug duckte ich mich jedes Mal unter dem Schild hindurch. Mittlerweile spürte ich eine Mischung aus fröhlicher Nostalgie und trauriger Freude, wenn ich es beim Heimkommen sah. Es war schon krass, dass wir jetzt in ihre Fußstampfen treten durften. Mussten. Das Häuschen gehörte uns schon seit mehreren Generationen. Meine Oma, inzwischen auch verstorben, war hier aufgewachsen, genau wie meine Mama. Ich hatte sogar noch meine Uroma vor Augen, wie sie in der Küche Apfelkuchen zubereitete und lächelnd darüber schimpfte, dass das Haus nur aus Treppen zu bestehen schien. Als meine Oma nach langen Witwenjahren mit Ende fünfzig einen neuen Freund fand und zu ihm zog, übernahm meine Mama samt Mann und Kind, meiner Schwester Lore, das Haus. Bei der Renovierung ging sie mit mir schwanger und so bedeutete das Häuschen und der Garten lange Jahre meine kleine Welt.

Nach einigen Wochen bei Lore, die zu der Zeit gerade in Montpellier lebte, und weiteren Reisen, tastete ich mich wieder an das Haus heran. Die Schichten der Familiengeschichte umhüllten jedes Zimmer wie ein Palimpsest – ein Schriftstück, das immer wieder ausradiert und neu beschrieben worden war. Bilder an der Wand, Schränke voller Erinnerungen, Puppen und Bären meiner Oma, CDs und VHS-Kassetten meiner Mama. Mein Kinderzimmer. Da ich sowieso gerade mit dem Bachelor-Studium fertig war, schrieb ich mich für den Master in Heidelberg ein. Ich wohnte ein Jahr lang allein in dem stillen Haus. Zwischen den Bildern und Fotos und Vasen und Kisten, die langsam ein wenig einstaubten. Bis Anton eine Stelle in einem Heidelberger Architekturbüro fand und zu mir zog. Erst nur ein paar Tage die Woche. Schließlich ganz. Und ich blieb am Lehrstuhl. Auch heute, nach fünf Jahren noch, hatte sich das Haus nur in natürlicher Evolution weiterentwickelt. Das Schild hing immer noch über der Haustür.

Kapitel 1

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Emma

Ich schlug die Augen auf und starrte einen Moment lang an die Decke. Langsam bahnte sich das Sirren meines Weckers seinen Weg durch meine schläfrigen Gehirnwindungen. Ich atmete ein und schloss die Augen wieder: Another day in paradise.

Ausatmen.

Wie jeden Morgen versuchte ich, meine Welt zu ordnen. Links von mir lag der Inbegriff einer sicheren Zukunft und drückte eine sanfte Kuhle in die 1,40 Meter breite Matratze meines Ikea-Betts. Alexander. Mein Alexander seit sechseinhalb Jahren. Wir würden bald zusammenziehen, suchten bereits nach bezahlbaren Dreizimmerwohnungen im Großraum Nürnberg, gerne mit Balkon, gerne ein bisschen außerhalb.

Einatmen.

Alexander und ich waren fast genau da, wo uns die Gesellschaft erwartete. Ein bisschen hinten dran vielleicht. Er war 30, ich 29, da könnte man natürlich bereits einen Ring am Finger tragen. Aber immerhin schlenderten wir samstagvormittags regelmäßig durch Möbelhäuser, um das optimale Ecksofamodell ausfindig zu machen. Oder einfach Inspiration zu sammeln für das gemeinsame Nest. Nein, wir möchten keine geschlossenen Hängeschränke in der Küche. Wir machen das wie die Schweden und stellen unser Geschirr auf Regalbretter. Ja, wir brauchen unbedingt einen doppelten Kleiderschrank, du weißt ja, wie viel Zeug wir haben. Und hast du die hippen Messinglampen gesehen, die wären doch was für die Essecke? Traute Zweisamkeit. Erzählte man davon später der Schwiegermutter, der Schwester oder der besten Freundin, formten sich zufriedene Lächelfalten um deren Augen, in denen es sich unsere gesamte Zukunft gemütlich zu machen schien. Das passt bei den beiden, die Sache ist geritzt.

Einatmen.

Ich spielte mit dem Gedanken, mich nach rechts zu drehen. Auf meinem Nachttisch stand das einzige Foto, das ich je eingerahmt hatte. Raue Klippen an der Westküste Irlands. Genau der Moment, als sich eine mächtige Welle gegen die Felsen warf und unter grollendem Getöse zersprang. Fünf Jahre war es her, seit ich das letzte Mal auf dieser wilden Insel unterwegs gewesen war. Das Bild entstand auf der Fahrt von Galway nach Limerick. Wir entschieden uns für einen Umweg über die „Cliffs of Kilkee“, die uns in ihrer Ursprünglichkeit so in den Bann zogen, dass wir spontan eine Nacht in der Gegend blieben. Die Wucht dieser Felsküste, die sich stur ins Meer keilt – egal, wie heftig die Wassermassen sich auch wehren – erfasste mich bis aufs Mark. Noch immer bildete ich mir ein, den Wind im Gesicht und das Salz auf der Haut zu spüren, wenn ich dieses Foto sah.

Ich schmunzelte stumm. Blödsinn. Ausatmen. Ich schlug die Augen wieder auf und blickte weiter an die Decke. Wie immer entschied ich mich für das bequeme Dazwischen und wagte zögernd einen ersten Gedanken an den bevorstehenden Tag. Freitag. Thank god it’s Friday. Missmutig zog ich die Nasenflügel nach oben. Jede Woche dasselbe Spiel. Das unermüdliche Streben nach den verheißungsvollen freien Tagen am Ende einer jeden Arbeitswoche. Wieder schmunzelte ich lautlos, etwas unwirsch dieses Mal und drückte mich bestimmt nach oben. „Stell‘ dich nicht so an“, dachte ich, während ich mit allen zehn Finger durch meinen verknoteten Haarschopf fuhr. Ich hielt einen Moment inne, zog meinen Kopf mit beiden Händen sachte in Richtung Brust, um meinen Rücken zu dehnen. Einatmen. Ausatmen. Freitag.

Und damit setzte ich endlich meine Morgenmaschinerie in Gang. Ich schwang die Beine aus dem Bett, fühlte kurz mit den Fußballen nach dem vertrauten Kratzen meines bunten Webteppichs, der schon seit ich denken konnte neben meinem Bett lag. Während ich auf dem Weg ins Badezimmer durch mein geräumiges WG-Zimmer lief, warf ich einen kurzen Blick auf Alexander. Das Kissen fast liebevoll umarmt lag er auf dem Bauch und schnarchte sachte vor sich hin. Für einen kurzen Moment wollte ich ihm über den dichten braunen Bart streichen, ihm vielleicht sogar einen Kuss auf die Wange geben, seinen herben Geruch aufnehmen und den Tag über in der Nase behalten. Meine Füße wollten schon die Richtung wechseln, da erinnerte ich sie daran, wie sehr Alexander es hasste, geweckt zu werden. In den frühen Morgenstunden hatte er keinen Sinn für romantische Gesten. „Vor allem heute nicht“, dachte ich grimmig.

Leise öffnete ich die Zimmertür und glitt hinaus in den dunklen, kühlen Gang unseres Altbaus. Ich teilte mir die Wohnung mit zwei Freundinnen. Sie waren der Grund, warum ich so lange gezögert hatte, mit Alexander den nächsten Schritt zu gehen. Wir kannten uns seit Jahren, hatten uns gemeinsam von planlosen Erstsemestern zu immer noch relativ planlosen Endzwanzigern entwickelt. Unzählige weinschwere Abende am Küchentisch hatten aus Studienfreunden eine kleine Familie geschnitzt. Dass ich diesen letzten Ausläufer des Studentenlebens bald gegen ein ausgewachsenes Pärchendasein eintauschen würde, war schwer vorstellbar, als ich der Stille zwischen unseren Zimmern lauschte. Nichts fühlte sich mehr nach Zuhause an als dieser allmorgendliche Moment, wenn unser Zusammenleben in müder Selbstverständlichkeit um den knarzenden Holzflur unserer Wohnung drapiert lag.

Vorsichtig schlich ich über den Gang und knipste das Licht im Badezimmer an. Ein erster Blick in den Spiegel zeigte fahle Wangen und verquollene Augenlider, die träge auf Halbmast hingen. Ich zog eine Grimasse und spulte zügig mein Katzenwäscheprogramm ab: Zähne putzen, Gesicht waschen, Kontaktlinsen. Schließlich griff ich nach dem Outfit, das ich am Vortag zusammengestellt und an die Heizung gehängt hatte, wollte mich schon fast für meinen Anflug von Selbstorganisation loben. Dieser Kleiderbügel im Badezimmer war keine Selbstverständlichkeit. Er bedeutete, dass ich nicht wie sonst zurück in mein Zimmer trampeln, im Kleiderschrank wühlen und damit riskieren musste, Alexander zu wecken und seinen Start in den Tag zu ruinieren.

Während ich den Saum meiner Bluse in den Hosenbund stopfte, musste ich mir jedoch eingestehen, dass es sich dabei lediglich um ein Friedensangebot gehandelt hatte. Alexander und ich hatten am Vorabend gestritten. Ich seufzte und klatschte mir unwirsch Makeup unter die Augen, um die Erinnerung an die giftigen Worte zwischen uns zu verdrängen. Vergeblich. Mit jedem Handgriff faltete sich ein böser Satz, ein genervtes Augenrollen, ein verächtliches Schnauben vor mir auf, bis das nur wenige Quadratmeter große Badezimmer vollgestopft war mit den bitteren Vorwürfen eines schief gelaufenen Netflix-Abends.

Ich beschloss, dass das Ausmaß meiner Schönheitsmaßnahmen einem normalen Bürotag genügen musste und flüchtete in die Küche. „Ihr habt euch vertragen, lass‘ es gut sein“, dachte ich und konzentrierte mich auf unsere Siebträgermaschine. Ich ließ den gefüllten Siebträger einrasten, stellte meine Lieblingstasse darunter und drückte den An-Knopf. Das Surren und Zischen der Kaffeemaschine beruhigten das aufgebrachte Rauschen in meinen Ohren ein wenig und als ich mich an den Küchentisch setzte, war ich fast überzeugt, dass ich den Streit beilegen konnte. War es am Ende nicht sowieso nur eine belanglose Kabbelei gewesen? Eine sinnlose Auseinandersetzung ausgelöst von der übertriebenen Serienauswahl eines Streaminganbieters. Alexander wollte, dass ich auswähle, was wir ansehen. Ich war müde nach einem weiteren Elf-Stunden-Tag im Büro und wollte mich nur noch hinlegen und mein Hirn auszuschalten. Dann der erste Vorwurf: „Immer muss ich mir Gedanken um alles machen.“ Ich seufzte. Wahrscheinlich ein bisschen zu laut. Vielleicht war es auch kein Seufzer, sondern ein genervtes „Woah“. „Na gut“, sagte ich, „dann schauen wir eben Friends.“ Stille. Ich konnte fühlen, wie sich Alexanders Kiefermuskeln verspannten. „Im Ernst?“, fragte er. „Das haben wir doch schon hundertmal durch. Bist du denn gar nicht neugierig auf was Neues?“ Mein Kopf schmerzte von den langen Stunden am PC, mir steckte noch die missglückte Präsentation vor dem gesamten Team in den Knochen und jetzt war ich also auch noch langweilig. „Such‘ einfach was aus, bitte“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor – und das war der Beginn eines Schlagabtauschs, der sich mehr und mehr in sich selbst verrannte. „Ich bin dir also nicht gut genug“, schrie ich ihn irgendwann an. „Wenn ich dir dieses Gefühl gebe, wenn ich so ein schlechter Mensch bin, wieso bist du dann überhaupt mit mir zusammen?“, schoss er zurück. Und damit waren wir verkeilt. Wieder einmal. Wenn dieser Moment gekommen war, gab es kein Vor und kein Zurück mehr.

Ich spürte, wie sich ein Kloß in meiner Kehle formte und nahm einen großen Schluck von meinem Kaffee. Verdrossen blickte ich an mir hinunter. Die dunkle Jeans, die helle Bluse und der graue Blazer – ein schwacher Versuch zu signalisieren, dass ich mir sehr wohl Gedanken um seine Bedürfnisse machte. Nein, ich habe ihn nicht aus den Augen verloren. Ja, ich nehme Rücksicht auf ihn. Nein, ich fahre nicht nur meinen eigenen Film. Hoffte ich zumindest.

Die letzten beiden Jahre waren aufregend gewesen. Kaum hatte ich das Masterstudium abgeschlossen, war ich in meine erste Festanstellung geschlittert. PR-Agentur. Seit einigen Monaten organisierte ich vor allem Veranstaltungen für zwei unserer größten Kunden. Das machte mir Spaß, aber der Druck war hoch, genauso die Erwartungen, ich war viel unterwegs. Zwischen langen Tagen im Büro und erschöpften Abenden in nüchternen Business-Hotels blieben Alexander und ich oft auf der Strecke. Da konnten wir noch so oft sonntags brunchen gehen, wir fanden uns immer wieder in derselben Situation wieder: Eine kleine Unstimmigkeit konnte einen Flächenbrand entfachen, der sich mehr und mehr in die Basis unseres Zusammenseins fraß. So viel zum Thema ‚die Sache ist geritzt‘.

Müde lehnte ich mich zurück und legte den Kopf gegen die kühle Küchenwand. „Wird schon wieder“, dachte ich, mein Mantra der letzten Wochen. „Alles halb so wild.“  Ich atmete noch einmal tief ein, schnappte Laptoptasche und Autoschlüssel, schlüpfte in ein paar flacher Schuhe und hievte mich schwerfällig durch die Wohnungstür. Another day in paradise.


„Emma, der Chef wartet schon auf dich“, empfing mich Linda, unsere Büroassistentin. „Es brennt mal wieder.“ Ich verdrehte die Augen – innerlich. Hoffte ich zumindest. Musste die PR-Welt immer ausgerechnet am Freitag untergehen, fragte ich mich und sah meinen Feierabend in unerreichbare Ferne verschwinden. Trotzdem beschleunigte ich meinen Schritt und eilte den Gang hinunter, wo besagter Chef hinter einer Glaswand wie ein eingesperrter Tiger in seinem Büro auf- und abwanderte. Das Handy am Ohr, Schweißperlen auf der Stirn, aufgeregte Gesten. Ich schnaubte leise und formulierte im Kopf schon mal eine Nachricht an meine Mitbewohnerinnen, dass ich es nicht zu den geplanten Freitagabenddrinks in unserer Stammkneipe schaffen würde. Vorsichtig klopfte ich an die offene Tür und räusperte mich.

„Rainer, ich bin da“, sagte ich. Er schaute kurz auf, nickte und bedeutete mir, mich irgendwohin zu setzen. Ich entschied mich für das schwarze Ledersofa in der Ecke und stellte meinen Laptop auf den niedrigen Glastisch davor. Während sich nach und nach alle nötigen Programme öffneten, versuchte ich herauszuhören, was schief gegangen war. Ich war mir relativ sicher, dass ich keine gravierenden Fehler gemacht hatte und versuchte, mich vorerst nicht in den Sog aus künstlichem Stress und Panik zerren zu lassen, der Rainer offenbar schon voll erfasst hatte. Mit einem leisen „Pling“ öffnete sich Outlook. 43 neue E-Mails seit gestern Abend. Resigniert ließ ich meinen Blick zurück zu meinem Chef wandern. Ich wollte gar nicht wissen, was der Grund für all das Drama war.

Rainer war ein attraktiver Mittvierziger, der Stereotyp eines erfolgreichen Geschäftsmanns in seinen makellos sitzenden Anzügen, dem akkurat getrimmten, grau melierten Bart und der teuren Armbanduhr. Die einzigen Überbleibsel seiner bewegten Studententage waren seine Haare, die sich immer einen Tick zu lang und zu wild um sein Gesicht kräuselten. Mit Mitte zwanzig hatte er seine PR-Beratung gegründet, inzwischen war er so etwas wie ein Halbgott in der Medienwelt. Er konnte sich seine Kunden aussuchen, nahm nur Projekte an, die der Entwicklung seiner Agentur nutzten. In diese komfortable Position war er gekommen, weil er bei allem was er tat 200 Prozent gab. Rainer war verbissener Perfektionist und grenzenloser Workaholic – und erwartete das auch von seinen Mitarbeiter*innen.

Er war noch immer in sein Telefonat vertieft. Inzwischen war klar, dass ein wichtiger Veranstaltungsort für unseren Kunden weggebrochen war. Eine große Beauftragung drohte zu scheitern. Viel Geld stand auf dem Spiel. Ich legte den Zeigefinger auf das Touchpad meines Laptops und rief meine E-Mails auf. Viele Ausrufezeichen und Großbuchstaben in aufgeregten Nachrichten. Re:, Re: re:, Re: re: re: …….. Über Nacht hatte eine wahre E-Mail-Schlacht zwischen meinem Chef, dem Inhaber des Veranstaltungsorts und unserem Kunden stattgefunden. „Du checkst deinen Posteingang wohl nie nach Feierabend, oder?“ Ich blickte auf. Rainer hatte aufgelegt und setzte sich mir gegenüber in einen Sessel, der perfekt zum Ledersofa passte. Eine Augenbraue hochgezogen sah er mich kritisch an. Da war er, der Fehler. Ich war nach Feierabend nicht erreichbar gewesen. „Gestern nicht, nein“, entgegnete ich leise. „Was genau ist passiert?“