Kapitel 9

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Kapitel

Emma

Ich seufzte. Alexander war fast aus den Socken gekippt, als ich ihm eröffnet hatte, dass ich meinen Job hinschmeißen würde. Für seine Verhältnisse zumindest. Er ließ sich ja selten zu Gefühlsausbrüchen hinreißen, aber das hatte er offenbar nicht erwartet. Er blickte mich fragend an: „Und dann?“ Ich brauchte einen Moment, um meinen Mut zusammenzusammeln: „Dann geh‘ ich für eine Zeit nach Irland.“ Schockiert stellte ich fest, dass seine Augen glasig wurden. Waren das Tränen? „Dann brauchen wir die Wohnung also nicht.“ Ich war mir fast sicher, dass das Tränen waren, die sich da hinter Alexanders Lidern aufstauten. Ich spürte wie mein Herz ein bisschen brach. Mir wurde übel. „Erstmal nicht, nein.“ Er schaute weg, presste die Lippen zusammen. „Hm. Ok.“ Ich legte beide Hände auf seine Knie. „Nur für ein paar Monate, Alex. Ich will nur ein bisschen durchatmen. Und dann machen wir weiter.“ Er rückte seine Beine von mir ab, sodass meine Hände herunterglitten. „Joa. Schauen wir dann mal.“ Wieder einmal saßen wir auf seiner Wildledercouch. Das Epizentrum unserer Beziehung wie es schien. Er stützte seinen Ellenbogen auf die Rückenlehne und presste seine Stirn gegen seine Handfläche. „Ich will damit nicht sagen, dass ich das mit uns beenden will“, sagte ich hilflos. Er starrte auf die Fingerspitzen seiner anderen Hand. „Ok.“

Damit hatten wir es erst einmal belassen. Alexanders Enttäuschung saß mir noch in den Knochen und doch konnte ich mir nicht helfen – ich freute mich tierisch. Am Morgen war ich schnurstracks in Rainers Büro marschiert. Er saß an seinem Schreibtisch, eine Tasse Kaffee neben der Tastatur, und war vertieft in die morgendliche E-Mail-Flut. „Guten Morgen, kann ich dich kurz sprechen?“, hatte ich mit fester Stimme gefragt und war einfach eingetreten, ohne zu klopfen. Sein Blick hellte sich auf. „Emma. Klar, komm’ rein!“ Rainer nahm sich immer Zeit für seine Leute, das musste man ihm lassen. Ich schnappte mir einen Stuhl und setzte mich ihm gegenüber. „Mir ist klar geworden, was ich will“, sagte ich. Mein Chef lächelte erwartungsvoll. Ich sah ihm an, was er dachte: Sie nimmt die Teamleitung an. Ist doch klar. Ich holte kurz Luft und fuhr fort: „Nur leider hat das nichts mit dieser Agentur zu tun.“ Rainer verschluckte sich an seinem Kaffee. „Wie bitte?“, hustete er. „Ich kündige“, sagte ich und hatte Mühe, ein kleines Grinsen zu unterdrücken. „Bist du wahnsinnig? Wie kommst du denn da drauf?“ Rainer riss die Augen auf und starrte mich mit leicht geöffnetem Mund an. „Ich will nach Irland“, erklärte ich schulterzuckend. „Dann nimm‘ doch Urlaub! Wieso willst du denn kündigen???“ So ging das noch eine Weile hin und her. Am Ende verstand er einigermaßen, was mich antrieb. Ich war jung, hatte noch keine Verantwortung im Leben, hatte Geld angespart. Kurz vor Feierabend reichte ich mein Kündigungsschreiben bei HR ein. Eine unscheinbare Din A4-Seite, drei knappe Sätze und ich war frei. Quasi. Die Kündigungsfrist war vier Wochen. Statt eine Broschüre über die E-Mobilitätsziele eines unserer Kunden für meine Kollegin Korrektur zu lesen, hatte ich nach der Mittagspause bereits nach Ryanair-Flügen Richtung Dublin gesucht. Der Günstigste lag bei 36,99 Euro ab „München West“, diesem flughafengewordenen Größenwahn der Billigairline. Was Ryanair großspurig „München West“ nannte, war eine einsame Start- und Landebahn im südbayerischen Niemandsland.

Jetzt saß ich in meinem Lieblingscafé am Erlanger Schlossplatz und zückte die Kreditkarte. Ich würde das buchen. Ernsthaft. Mein Herz hüpfte. Ich verdrängte Alexanders tränengefüllte Augen sowie Charlottes bittersüße Umarmung, als ich ihr von meinen Plänen erzählte. „Das klingt toll“, hatte sie gesagt. „Aber du wirst mir so fehlen.“ Ich versetzte mich innerlich an den ‚Salthill Prom‘, Galways berühmte Strandpromenade, stellte mir den salzigen Fischgeruch der Westküste vor und begann, meine Daten in die Buchungsmaske bei Ryanair einzugeben. Mein Herz hüpfte erneut, als ich das Kästchen für „Nur Hinflug“ anklickte. Nur Hinflug. One-way nach Irland. Ungläubig beobachtete ich, wie meine Finger meine Kreditkartendetails abtippten. Haja, wieso nicht….


Nele

Unsere Identität basiert maßgeblich auf den Geschichten, die wir über uns selbst erzählen. In meiner Arbeit möchte ich diese identitätsstiftende Funktion von Erzählungen näher untersuchen. Meine These ist, dass Erzähler*innen durch ihre Geschichten „mögliche Leben“ entwerfen. „Möglich“ insofern, als unsere narrativ konstruierten Selbstbilder immer im Spannungsfeld von subjektiven Bedürfnissen und sozio-kulturellen Zwängen und Konventionen ausgehandelt werden müssen. Ich kaute ungeduldig auf einem der 10.000 Kulis herum, die meinen Schreibtisch bevölkerten. Ich bastelte mal wieder an einer Bewerbung für ein Promotionsstipendium, diesmal bei der Studienstiftung des deutschen Volkes. Jene verlangte von mir, ungezählte Stunden intensiver Recherche, kleinstteiliger Analyse und philosophischer Ergüsse in ein Abstract von 150 Wörtern zu pressen. Heraus kam ein Geschwurbel, das einigermaßen vielversprechend klang, aber kaum verbergen konnte, dass ich den eigentlichen Sinn meiner Arbeit selbst noch nicht durchdrungen hatte. Ich seufzte. Wieder mal.

Dabei durfte ich mich nicht beschweren: Es war Donnerstag und die Woche war quasi schon geritzt. Die diversen Bitten, die am Anfang der Woche noch unüberwindlich erschienen waren, hatten sich mittlerweile aufgeräumt. Nicht einmal die Gunnichs schafften es, eine Armada von insgesamt sieben Mitarbeiter*innen durchgängig voll auszulasten. (Nicht gezählt waren hierbei natürlich die Mitarbeiter*innen von Albert Gunnich – ich konnte mir vorstellen, dass die noch weniger oft in den Genuss von Arbeitsmangel kamen.) Meine Seminare hatte ich für diese Woche ebenfalls schon rum. Übernächste Woche waren Semesterferien und somit musste ich auch nicht mehr viel für den Unterricht vorbereiten. So kam ich in den seltenen Luxus eines Bitten-freien Vormittags, den ich meiner Dissertation widmen konnte.

Das war Teil des Deals: Frau Gunnich hatte mich mit dem Versprechen geködert, dass ich wie eine richtige wissenschaftliche Mitarbeiterin behandelt würde. Ausgenommen natürlich bei Lohn und Titel. Leider, leider war nun mal gerade keine Mitarbeiterstelle frei gewesen. So hatte ich mich mit der Anstellung als Sekretärin abgefunden – trotz eines Masters mit Notenschnitt 1,0. Ich hatte zu dem Zeitpunkt schon gewusst, dass ich schwanger war, es aber selbstverständlich für mich behalten. Und war einfach nur froh, direkt nach dem Abschluss eine Festanstellung gefunden zu haben. Die Lehraufträge waren auch Teil des Deals. Es hörte sich schließlich verdammt viel besser an, wenn man erzählte: „Ich arbeite bei der Uni. Ich habe dort auch zwei Lehraufträge.“ Anstatt zu sagen: „Ich arbeite als Sekretärin von Frau Gunnich. Punkt.“ Natürlich waren die Lehraufträge miserabel bezahlt. Abgerechnet wurde auf selbstständiger Basis: Rente, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung – Fehlanzeige. Wenn ich die Stunden mit rein rechnete, die ich für die Seminarplanung, die Stundenvorbereitung und die Korrektur der vierzig, fünfzig Hausarbeiten aufwendete, bekam ich regelmäßig schlechte Laune. Mindestlohn war das lange nicht. Zum Glück konnte ich einiges Studienmaterial von meiner Dissertation zweitverwerten, was den Aufwand allerdings nur geringfügig schmälerte. Ein Stipendium musste her. Das sah gut aus und würde mich in die komfortable Lage versetzen, meine volle Arbeitskraft in die Doktorarbeit fließen zu lassen. Wo auch immer das letztlich hinführen sollte.

In der Hoffnung, Inspiration zu finden, schnappte ich mir wohl zum hundertsten Mal diesen Vormittag mein Handy. Keine Nachrichten. Ich scrollte durch meine Chats und blieb an der letzten Konversation mit Emma hängen. Halt mich auf dem Laufenden. Ich streifte meine Turnschuhe ab und machte es mir auf dem Drehstuhl so bequem wie möglich – ein Vorteil, wenn man ein riesengroßes Einzelbüro hat.

Keine Antwort. Zwei graue Häkchen zeigten, dass die Nachricht angekommen war, noch nicht gelesen. Klar, Emma war ja auch im Büro. Im Gegensatz zu mir versank sie wahrscheinlich gerade wieder bis zum Haaransatz in Arbeit. Schade, ich hatte mich auf ein wenig Abwechslung gefreut. Ich nahm den Kuli und knabberte weiter daran herum, während ich durch unseren Chatverlauf wischte. Schon komisch. Ich hatte Emma schon von Anfang an um ihren Job beneidet. Sie hatte einen richtigen Job! Nicht so etwas Halbgares, wie ich. „Ich promoviere“ – das klang beeindruckend, aber auch irgendwie weltfremd. Je näher man hinsah, desto weniger glamourös war es. Und niemand glaubte im Traum daran, dass sich der Aufwand am Ende auszahlte. Promovieren – das bedeutete, gebildet aber arm zu sein. Am Ende der Laufbahn stand das Bild eines verhärmten Professors mit wirrem Haar. Wenn man ein Mann war. Als Frau blieb einem ja noch, einen Ingenieur oder ITler zu heiraten. Es gab natürlich Ausnahmen – siehe Frau Gunnich. Die Tür dahin hatte ich allerdings geschlossen, als ich mich dazu entschieden hatte, ein Kind in die Welt zu setzen.

Emma wiederum hatte bewiesen, dass weltfremde Geisteswissenschaftler*innen wie wir durchaus auf dem regulären Arbeitsmarkt gefragt waren. Gut, vielleicht war sie auch weniger weltfremd als ich. Das hatte sich schon bei den Praktika während der Unizeit abgezeichnet. Sie war nicht wie ich im Theater, beim Film, im Kunstverein. Mal hier, morgen da. Überall reinschnuppern. Alles verwerfen. Nein: Sie war den ordentlichen Weg gegangen. Praktikantin, Werkstudentin, Angestellte. Geradlinig. Ohne Schnörkel. Effizient. Mein Werdegang war hingegen chaotisch. Unberechenbar. Planlos.

Und jetzt das: Sie kündigte. Ich beneidete sie schon wieder. Um die Klarheit mit der sie den Entschluss gefasst hatte. Einfach so. Einfach ausbrechen. Einfach mal nach Irland fahren. Sorgen machen musste man sich nicht. Nicht bei Emma. Sie war taff – sie fand schon was anderes, keine Frage. Sie hatte die Aussicht, sich ein paar nette Monate zu machen. Einfach ihr Gespartes auf den Kopf zu hauen. Und schließlich als gefragte Fachkraft im besten Alter, frisch erholt wieder in den Jobmarkt einzusteigen. Ich hatte die Aussicht, irgendwann in den kommenden Jahren meine Doktorarbeit abzugeben, um dann festzustellen, dass sich außerhalb des Elfenbeinturms der Uni die Uhren weitergedreht hatten. Herzlichen Glückwunsch.

Lustlos starrte ich wieder auf meine Bewerbung. In einer Zeit von Facebook und LinkedIn, in der sich das Individuum ständig neu erfinden, selbst präsentieren und optimieren muss, ist die Frage, wie Menschen aus dem unendlichen Strom von Erfahrungen und Eindrücken Sinn und Identität ziehen, wieder hochaktuell. Ein fürchterlich langer Satz. Verschwurbelt. Verkopft. Aber ein gutes Zitat hatte ich noch gefunden: „In the modern world, the self is a reflexive project that a person is expected to ‘work on.’“ (McAdams, Identity and the Life Story 202) Das war’s, produktiver wurde es vermutlich heute nicht. Vielleicht sollte ich lieber mit Angela einen Kaffee trinken gehen.


Emma

Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche, als Alexanders Haustür hinter mir zufiel. Zum letzten Mal, so wie’s aussah. Ich schlang mir die Träger meiner Stofftasche über die Schulter und sah aus dem Augenwinkel das Sammelsurium unserer frisch verendeten Beziehung unter meinem Arm verschwinden. Ein Buch. Eine Gesichtscreme. Ein paar Wollsocken. Die Kaffeetasse, die mal seine gewesen war, die sich aber inzwischen so selbstverständlich in meine Handflächen schmiegte, dass Alexander wollte, dass ich sie behielt. Er wusste eben, dass ich einen Spleen mit Tassen hatte. Die meisten mochte ich nicht, ich hatte immer die eine Lieblingstasse, für die Hängeschränke durchwühlt und Spülmaschinenprogramme unterbrochen wurden, wenn es sein musste. Groß und bauchig war sie vorzugsweise. Jetzt lag Alexanders hellgrüne Kaffeetasse zwischen all den anderen Dingen, mit denen sich mein Leben in seins ausgebreitet hatte, und rieb sich die weißen Punkte wund. Alexander und ich hatten Schluss gemacht. Einfach so. Beim Gedanken daran fühlte ich aktuell nichts. Mein Gehirn saß stumpf zwischen meinen Ohren und versuchte nicht einmal, die Bedeutung der letzten zwei Stunden zu umreißen. Ich zog mein Handy aus der Tasche und sah eine Nachricht von Nele aufblitzen. Huhu! Na, wie ist die Lage? „Haha, gute Frage“, dachte ich und beschloss, mir eine ruhige Ecke im Park zu suchen, um das zu beantworten. Nicht nur für Nele, auch für mich selbst. Ich warf den Beutel mit meinen Habseligkeiten in meinen Fahrradkorb, der sich immer noch unsicher zur Seite neigte. Alexander wollte mir Kabelbinder geben, damit ich das klapperige Ding endlich festzurren konnte. Eigentlich. Mir kamen kurz die Tränen, aber ich schüttelte trotzig den Kopf. „Du kannst dir deine eigenen scheiß Kabelbinder kaufen, dafür brauchst du wohl keinen Typen“, schnarrte es in meinem Kopf. Damit schwang ich mich aufs Rad und kurvte zügig die Straße hinunter. Das war das Schöne an Erlangen. Alles lag so nah zusammen. Kompakt ordneten sich die vielen Einbahnstraßen in rechten Winkeln gegeneinander an. Innerhalb von zehn Minuten erreichte man mit dem Fahrrad alles, was die Stadt zu bieten hatte. Manche mochten das provinziell nennen. Ein Akademiker-Loch, zwiegespalten zwischen den Aperol-Spritz-trinkenden Siemensmitarbeiter*innen, die mit hochgekrempelten Hemds- und Blusenärmeln nach Feierabend das Theaterviertel bevölkerten, und den Heerscharen an Student*innen, die bewaffnet mit Hornbrillen und Jutebeuteln den näheren Umkreis der Uni-Bibliothek umschwärmten und in endlosen Kaffeepausen so taten als würden sie die Welt verstehen. Ich parkte mein unscheinbares Damenrad zwischen den betont alten Drahteseln, bestückt mit hölzernen Weinkisten anstatt Fahrradkörben, und den Hollandrädern der Jura- und BWL-Fraktion und wickelte mein Fahrradschloss um den Hinterreifen. Der halbherzige Versuch das Unvermeidbare zu verhindern. In den letzten vier Jahren waren mir drei Räder gestohlen worden. Seitdem nahm ich jedes Mal, wenn ich mein treues Transportmittel irgendwo zurückließ, leise Abschied für den Fall, dass ich zu Fuß nach Hause gehen müsste. Trotzdem mochte ich Erlangen. Irgendwo im Spannungsfeld zwischen Piefigkeit und Studentendienstagen mit Bier für 1,80 Euro hatte ich mein erstes Zuhause weg von Daheim gefunden.

In einer schattigen Nische abseits der wuseligen Versuche meiner Miterlanger*innen, ihr Bedürfnis nach Natur und frischer Luft mit einer halben Stunde im Park zu befriedigen, fand ich eine leere Bank und ließ meine Tasche auf den Boden plumpsen. Die hellgrüne Tasse landete mit einem dumpfen ‚Klonk‘ im Kies. Ich setzte mich und blickte durch die Zweige eines Buschs – oder kleinen Baums, ich wusste so gar nichts über Pflanzen – hinüber zur großen Liegewiese in der Mitte unserer Stadtoase, dem wahrscheinlich sozialistischsten Ort Erlangens. Während sich sonst Restaurants, Bars und Cafés klar entweder an Student*innen oder an Siemensianer*innen richteten, mischten sich hier Slackline-balancierende Philosophiestudent*innen, Tupperdosen-klappernde Großstadteltern und rülpsende Alkoholiker*innen auf engstem Raum. Letztere waren zugegeben eher eine Randerscheinung in einer Stadt, die auf einem dicken Steuerpolster thronte. Aber vielleicht kam mir das auch nur so vor in meiner überprivilegierten Bildungsblase.

‚Genug lamentiert‘, beschloss ich und holte das Handy wieder hervor. Na, wie war die Lage? Ich begann zu tippen, hielt nach zwei Sätzen aber inne. Ließ sich das Ende einer sechseinhalbjährigen Beziehung, nein das Ende einer bis dato gesetzt scheinenden Version des Rests meines Lebens, wirklich in einer Textnachricht zusammenfassen? Ich löschte die beiden Sätze wieder und überlegte, Nele anzurufen. Aber dann würde ich meine Situation unmittelbar diskutieren müssen, bekäme eine direkte Reaktion auf etwas, das ich selbst noch nicht begriffen hatte. Mein Daumen schwebte über dem Aufnahmezeichen in unserem Chat. Vielleicht konnte ich ihr einfach davon erzählen, mit dem Mikrophon meines Telefons als Abstandhalter zwischen uns. Vielleicht konnte ich so meine Welt neu ordnen, ganz in Ruhe. Mein Daumen zuckte zweifelnd. Eigentlich fand ich Sprachnachrichten ja albern. Unsere Generation schien nicht mehr in der Lage, einfach miteinander zu reden, wir kommunizierten immer über drei Ecken. Schrieben sogar Textnachrichten mit der Frage, ob man mal eben anrufen könne. Wie dämlich. Bevor meine Gedanken wieder abdriften konnten, drückte ich schulterzuckend den Aufnahme-Button. Was soll’s:

Emma erzählt Nele von den neuesten Entwicklungen

Senden. Ich bin jetzt arbeitslos und single. Wenn mir drei Monate zuvor jemand gesagt hätte, dass das schon bald meine Antwort auf die Frage ‚Na, wie ist die Lage?‘ sein würde, hätte ich vermutlich am Geisteszustand meines Gegenübers gezweifelt. Jetzt hatte ich genau das ausgesprochen. Und nicht irgendwem gegenüber, sondern Nele. Ausgerechnet Nele. Die einzige meiner Freundinnen in einer unerschütterlich stabilen, fast schmerzhaft perfekt wirkenden Beziehung. Verheiratet. Kind. Sie hatte es geschafft. Hatte sich ihr eigenes kleines Universum gezimmert, in dem alles seinen Platz hatte und jeder seinen Platz finden konnte. Sie und Anton waren für mich der Inbegriff eines modernen Paars. Unterstützten sich gegenseitig, respektierten die Bedürfnisse des anderen, hielten sich den Rücken frei, um trotz Pärchenglück und Familienpflichten noch eigenständige Personen bleiben zu können. Ich beneidete sie um die wohlig-warme Gemütlichkeit, die die beiden ausstrahlten – auch, wenn ich wusste, dass sie sich das hart erarbeiten mussten. Sie hatten die schwierigen Studentenjahre in verschiedenen Städten, in denen man sich so leicht aus den Augen verliert, überstanden. Und hatten dann Neles Kindheitszuhause, voll beladen mit Erinnerungen und der Geschichte ihrer Familie, zum Ort ihrer gemeinsamen Zukunft erklärt. Das beeindruckte mich. Sie wirkten so – angekommen. Beim Gedanken an die enge Eckbank in der Küche der Jakobs, auf der sich unsere Freundschaft regelmäßig in Form von grübelnden Gesichtern über komplizierten Strategiebrettspielen oder spitzen Ellbogen am überbevölkerten Frühstückstisch Ausdruck verschaffte, musste ich schlucken. Mein eigenes kleines Universum war zum Greifen nah gewesen. Ein Lebensentwurf mit klarem Ziel: arbeiten, Nest bauen, vielleicht bald heiraten. Unsere eigene Eckbankwelt hatte uns schon zugeblinzelt, so kurz standen wir davor. Jetzt beobachtete ich mich dabei, wie ich diesen Weg Schritt für Schritt verließ und zunehmend ins Leere starrte. Kein Job mehr, kein Partner und im tiefsten Inneren war mir schon klar, dass ich auch die WG aufgeben würde – auch wenn ich mir das noch nicht eingestehen wollte.

Die beiden Häkchen neben meiner Sprachnachricht färbten sich blau und holten mich in die schattige Wirklichkeit des Stadtparks zurück. Nele hatte meine Nachricht gehört. Ich sammelte meine Stofftasche auf und warf sie kurzentschlossen in den nächsten Abfalleimer. Ich hatte mich offenbar für eine neue Richtung entschieden, da half jetzt alles Grübeln nichts. Es war Zeit, meine Sachen zu packen. Ich sah mich nochmal um. Eine ältere Frau mit zwei kleinen Schoßhunden schlenderte zwischen all den verschiedenen sozialen Grüppchen auf der Liegewiese durch. Ich hatte sie schon oft beobachtet. Scheinbar ging sie jeden Tag mit ihren beiden Fiffis hier Gassi. Ich blickte ihr einen Moment lang nach. Dann legte ich mir Musik auf die Ohren und machte mich auf den Heimweg. Meine Tage in Erlangen waren angezählt.

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