Epilog

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Kapitel

Nele

Ich ließ meinen Blick langsam einmal um 360 Grad wandern und wischte mir den Schweiß von der Stirn. „Es muss erst schlimmer werden, bevor es besser werden kann“, rief ich mir die Worte von Marie Kondo ins Gedächtnis. Ich hatte mir ein paar YouTube-Videos der Japanerin angesehen. Angeblich gab es niemanden, der so gut – und gerne – aufräumte, wie sie. Und auf Punkt Eins ihrer Agenda stand: Sichten. Mir erschien das sinnig. Man musste sich erst einmal darüber klar werden, was für Zeug man so besaß. Dann pickt man das aus dem Haufen, was einem Freude bereitet – der Rest fliegt raus. Laut Marie Kondo und ihren zahlreichen Anhängern war das Aufräumen eine Art Lebensphilosophie: äußere Ordnung schafft innere Ordnung. Ich lächelte angesichts dieser abgedroschenen Idee. Wieso hatte ich eigentlich bei meiner Dissertation nicht daran gedacht? Die Semiotik des Aufräumens. Oder: Die Bedingtheit von (Un-)Sinn und (Un-)Ordnung am Beispiel autobiographischer Lebenskrisen. Hörte sich doch recht überzeugend an.

Vor einer Woche war endlich das Sommersemester zu Ende gegangen. Mein letztes Semester. Seitdem genoss ich den Luxus, tatsächlich nur eine Fünfzig-Prozent-Stelle zu haben. Die beiden Unterrichtsstunden inklusive Vorbereitung fielen weg. Die Hausarbeiten-Schwemme würde erst in etwa vier Woche über mich hereinbrechen. Dann allerdings als zusätzliche Aufgabe parallel zum neuen Job. Ich grinste. Das war es mir definitiv wert. Ab nächster Woche würde ich außerdem in den Genuss meines Resturlaubs kommen. „Und das ist auch gut so“, dachte ich mit Blick auf das Chaos in meinem alten Kinderzimmer. Es war so drückend heiß, dass man es draußen kaum aushielt. Dazu lag ein Gewitter in der Luft. Perfekt, um meinen Freitagvormittag dem Ausmisten zu widmen.

Ein nicht unerheblicher Stapel Papier balancierte auf meinem Schreibtischstuhl. Meine Dissertation. Darüber auf dem Schreibtisch stapelten sich tausende Seiten wissenschaftlicher Artikel und Exzerpte – viele davon säuberlich von mir abgetippt, markiert und mit bunten Klebezetteln versehen (mit Farbcode). Daneben türmten sich mehrere Bücherstapel, ebenfalls gespickt mit Zetteln. Einen gewissen Trennungsschmerz verspürte ich schon – da steckten schließlich zwei Jahre Arbeit drin. Aber eine vertraute Stimme in meinem Hirn schnarrte: „Und du hättest noch weitere drei Jahre daran verschwendet, würdest du jetzt nicht den Schlussstrich ziehen.“

Ich seufzte und griff automatisch nach dem obersten Buch, Barnes’ Vom Ende einer Geschichte. Ich schlug das in Mitleidenschaft gezogene Cover auf und blätterte ziellos durch die dünnen Seiten. Tony Webster. Ein Kerl, der nie das eigene Leben in die Hand genommen hatte. Der nur vor sich hinlebte und es vermied, Entscheidungen zu treffen. „Das war eine weitere Angst: dass sich das Leben nicht wie im Roman entwickeln würde“, las ich. Das war vielleicht auch besser so. Viele der Romane, die sich hier türmten, hatten eher ein mäßig gutes Ende. Und überhaupt. Wer brauchte schon so viel Drama. Die wirklich spannenden Dinge fühlten sich in der Realität nun einmal eher normal an.

Ich klappte das Buch zu und packte alles in einen großen Karton, den ich schwitzend und fluchend die enge Treppe runter schleppte. Da die Recycling-Tonne voll war, stapelte ich die Kartons in unserem Schuppen. Von vollen Müllbehältern würde ich mich nicht aufhalten lassen. Drei Kisten standen schon wieder da. Zwei davon – vollgestopft mit Deko-Krims-Krams, Lampen und unnützen Geschenken in Originalverpackung – würde ich später auf der Straße platzieren. Zum Mitnehmen! Aber besser nicht vor dem Gewitter.

Ich floh vor der Hitze wieder ins Haus. durf, leef, geniet grüßte es im Vorbeigehen. Auf halber Strecke hielt ich im Wohnzimmer inne und schaute mich um. Meine Augen hatten sich noch nicht zu hundert Prozent an die neue Einrichtung gewöhnt. Anton und ich hatten lustig Zimmer durchgetauscht. Wir hatten in allen denkbaren Räumen des Hauses probegeschlafen und uns schließlich für das alte Arbeitszimmer meiner Mama entschieden. So kam es, dass alle Möbel durch das Haus rotiert waren und schließlich einen neuen Platz gefunden hatten. Seitdem war viel altes Zeug in die Tonnen, den Schuppen und auf die Straße gewandert. Auch das Wohnzimmer hatten wir auf den Kopf gestellt – das Klavier hatte jetzt einen Ehrenplatz neben dem Fenster: Dort hatte man das beste Licht zum Spielen. Das Ivar-Regal hatte die Aktion überlebt. Es durfte weiter die alten Alben und den Fernseher beheimaten. Freja sollte jetzt in mein altes Kinderzimmer ziehen. Ich wollte es streichen und mit meiner Tochter zusammen einen Himmel über ihr neues Bettenlager malen.

Ich beschloss, kurz Pause zu machen, und ließ mich auf die Polster fallen, die das alte Sofa abgelöst hatten. Ich zückte mein Handy aus meiner kurzen Sporthose. Es war schon alarmierend warm. Keine neue Nachricht von Emma. Kein Wunder – in Chile war jetzt früher Morgen. Dann konnte ich ihr ja einen guten Start in den Tag wünschen. Ich streckte alles von mir, um möglichst wenig Hautkontakt mit mir selbst zu haben und drückte ‚Start’:

Neles Erfolgserlebnis des Tages

Ich spielte noch eine Weile mit meinem Handy herum und hörte mir wahllos ein paar ältere Voicemails von Emma an. Und ein paar ältere von mir. Witzig, wie sich der Ton in den letzten paar Wochen geändert hatte. Über die Zeit waren wir immer vertrauter miteinander geworden – die tägliche Sprachnachricht ein willkommenes Ritual. Ideal, um sich ein paar Gedanken von der Seele zu reden. Erst vor ein paar Wochen war Emma bei uns für ein paar Nächte untergeschlüpft, der Frankfurter Flughafen war ja von uns bequem zu erreichen. In einer weinseligen Nacht hatte sie mir endlich detaillierter von ihrem Abenteuer mit Ciarán berichtet und gestanden, dass sie mir das zu der Zeit verschwiegen hatte. Ich grinste, als ich die entsprechende Nachricht fand: ein Krampf im Daumen, na klar!

Ich scrollte ein wenig weiter zurück und lauschte einigen unserer ersten Nachrichten. Emma und Alexander hatten erst vor ein paar Monaten Schluss gemacht. Emma klang ganz anders damals: viel steifer und einfach weniger glücklich vielleicht. Weniger selbstsicher. Ich stolperte über meine euphorische Nachricht anlässlich Michaels Kündigung: Vor nicht allzu langer Zeit wollte ich noch unbedingt eine Unikarriere machen. War wirklich nur so wenig Zeit vergangen? Ich zwang mich, WhatsApp zu schließen und starrte noch eine Weile vor mich hin. Draußen donnerte es. Oje, hoffentlich zog das Gewitter vorüber, bevor ich Freja aus dem Kindergarten abholen fuhr. Ich sollte die Zeit bis dahin noch schnell nutzen. „Na gut.“ Ich drückte mich mühsam hoch und machte mich an den Aufstieg. Auf den letzten Treppenstufen in Frejas zukünftiges Reich schwirrte mir noch das Barnes-Kapitel aus meiner Dissertation durch den Kopf. Wie lang ich an einem passenden Ende gefeilt hatte! Es kann keine Geschichte ohne ein Ende geben und gleichzeitig kein Ende ohne eine Geschichte.“ Schon schade, dass nun niemand meine Dissertation lesen würde.

Kurz entschlossen zog ich erneut mein Handy aus der Hosentasche.

Neles Schluswort

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