Kapitel 15

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Kapitel

Nele

Je näher ich unserem Haus kam, desto stärker klopfte mein Herz, bis es mir in die Kehle hinein hämmerte. Ich musste schlucken, als ich im etwas zugewucherten Vorgarten unter dem Schild anhielt – durf, leef, geniet – und nach meinem Schlüssel fahndete. Leise hörte ich ein Stimmchen. Ich lauschte: „Papa? Papa, ich geh’ mal auf’s Klo.“ „Soll ich mitkommen?“, brummte der sonore Bass von Antons Stimme kaum hörbar durch die Holztür. „Nein. Ich rufe dich dann, okay?“, piepste Freja selbstbewusst. Ich hörte lautes Poltern auf der Treppe. Freja tapste in Richtung Badezimmer. Die Hand auf der Klinke wartete ich ab. Hatte Freja etwa in vier Tagen Abwesenheit gelernt, alleine auf die Toilette zu gehen? Triumphal erklang die Spülung. Ich schluckte erneut und wartete mit angehaltenem Atem noch ein paar Augenblicke. Dann klingelte ich.

„Papa! Papa, es hat geklingelt! Ich mach die Tür auf!“ Erneutes Gepolter. Ich trat einen Schritt zurück und setzte mich in die Hocke. Die Tür öffnete ruckartig. „Hallo Freja“, strahlte ich sie an. Freja blinzelte einen Moment. Sie hatte einen grünen Fleck auf der Nase und war barfuß auf dem kalten Steinboden. Ich riss mich zusammen, beides nicht unmittelbar zu kommentieren, und nahm ihr Bild in mich auf. Sie sah anders aus. Irgendwie älter. Ihr Gesicht war unbeschwert und erschien mir so glatt – weniger rund, als das Babygesicht, das ich in Erinnerung hatte. Mit ihren langen Wimpern und den schulterlangen Haaren wirkte sie schon erschreckend weiblich. Ihr ganzer Körper hatte sich gestreckt. Sie war schon so ein großes Kind!

Frejas braune Augen hellten sich auf. „MAMA!“ Sie nahm den wenigen Anlauf, den die Türschwelle ihr gestattete, und fiel mir um den Hals. Sie quetschte mich mit beeindruckender Kraft und ich drückte sie ebenso fest an mich und sog ihren Duft ein. Ich musste die Tränen zurückkämpfen: Mein Gott, wie hatte ich sie vermisst! „Mama! Bist du wieder da?“, nuschelte sie in meinen Schal. „Ja, Freja, ich bin wieder da!“ „Warst du in Ialand? Bei der Emma?“ „Ja, genau.“ „Und jetzt bist du wieder hier?“ „Ja, Freja, ich bin wieder hier – bei dir!“ Freja löste sich und guckte mich an. „Es ist schön, dass du wieder da bist“, sagte sie ernst. Dann kletterte sie auf meine Knie und schmiegte sich an mich. Ich hielt sie fest umklammert und wippte beruhigend vor und zurück. Anton war inzwischen die Treppe heruntergekommen und grinste mich breit an. Auch er war barfuß und hatte rote Spritzer auf den Wangen. „Willkommen, Mama“, sagte er. Ich drückte Freja einen Kuss auf den Scheitel und murmelte: „Ich will mal Papa begrüßen.“ Sie ließ sich unter Protest absetzen und ich faltete mich in Antons vertraute Umarmung. Angekommen.

Als Freja im Bett war, saßen Anton und ich noch mit einem Glas Wein auf unserer Eckbank und erzählten einander alles, was wir in den vergangenen vier Tagen beim anderen verpasst hatten. Nun ja, fast alles. Dann trat eine angenehme Stille ein, in der ich Antons Bart kraulte und er meinen Arm streichelte. Wir saßen im Löffelchen, mein Rücken an seinen Bauch gelehnt. „Ich hab’ mir im Flugzeug ein paar Gedanken gemacht“, setzte ich neu an. „Mh“, brummte Anton fragend. Ich atmete einmal tief durch. „Ich warte jetzt ab, ob ich bei der Studienstiftung genommen werde…“ Ich war schon in die zweite Runde gekommen. Ein Professor kurz vor der Rente hatte mich zur Geschichte der englischen Literatur ausgefragt – und dabei komplett ignoriert, dass ich mich in meiner Dissertation nur mit zeitgenössischer Literatur auseinandersetzte. Da mein Wissen in Literaturgeschichte sehr lückenhaft war, standen meine Chancen auf das Stipendium entsprechend schlecht.

„Ok. Und was, wenn du nicht genommen wirst“, fragte Anton. Ich legte mir kurz ein paar Worte zurecht. Die paar Tage in Irland hatten mich Frischluft schnappen lassen. Und mir einen Einblick in ein anderes Leben gegeben. Emma hatte die Seile gekappt, war frei, ungebunden. Sie führte ein Leben, das ständig die Richtung ändern konnte. Wer schrieb denn fest, welche Leben möglich waren? Ich drehte mich halb um und sah Anton in die Augen. „Dann schmeiß ich die Doktorarbeit und such ich mir endlich einen richtigen Job.“


Emma

Energisch stopfte ich meinen dicken Wollpulli, der inzwischen zu meinem Lieblingskleidungsstück geworden war, in meinen viel zu vollen Rucksack und blickte mich suchend um. Mein acht Quadratmeter großes Zimmerchen war leergeräumt. Einzig ein Stapel Bücher, den ich auf dem Nachttisch zurückließ, zeugte davon, dass ich gut drei Monate hier verbracht hatte. Drei Monate statt der geplanten vier Wochen. Ich hatte vorgehabt, mindestens an drei verschiedenen Orten in Irland zu leben, mindestens drei verschiedene Jobs zu machen, mindestens drei verschiedene Hosts kennenzulernen. Natürlich hatte ich mir dazu eine Liste gemacht, mit einem senkrechten Strich in der Mitte. Favorisierte Orte auf der einen Seite, favorisierte Tätigkeiten auf der anderen. „Kilkenny“, „Connemara“ und „Wicklow Mountains“ stand links, „Im Hostel arbeiten“, „Farmwork“ und „Au Pair (?)“ rechts. Nach einer Woche bei Kate und Damien war die Liste zerknüllt im Abfalleimer gelandet.

Ich zog meine ramponierte Pappmappe mit meinen Reiseunterlagen aus meiner Handtasche und prüfte, ob ich alles eingepackt hatte. Busticket nach Dublin – check. Reisepass – check. Flugticket – check. Ich starrte einen Moment lang das unscheinbare Din A4-Blatt an, das mich einmal um den Erdball nach Südamerika bringen würde. Santiago de Chile genau genommen. Eine Mischung aus Angst, Aufregung und Vorfreude erfasste mich bis in die Haarspitzen. Ich würde Spanisch lernen, in den Anden wandern gehen, mir an schwarzen Vulkanstränden den kalten Pazifikwind um die Nase wehen lassen. Es klopfte an der Tür. „Emma, kommst du?“, hörte ich Alicias dumpfe Stimme von der anderen Seite. Ich klappte meine Mappe zu und verstaute sie wieder sicher in meiner Tasche. Heute war Eröffnungstag der Galerie. Der Moment, auf den wir alle gemeinsam hingearbeitet hatten. Alicia hatte sich extra herausgeputzt. Sie trug ein hellblaues Kleid mit feinen weißen Blümchen und hatte sich die langen, blonden Haare zu einem dicken Zopf geflochten. Einzelne Strähnen hatten sich gelöst und umspielten kunstvoll ihr Gesicht. „Du siehst toll aus“, lächelte ich sie an und legte ihr den Arm um die Schultern.

Gemeinsam gingen wir hinüber in die Galerie, wo Kate aufgeregt zwischen ihren Bildern herumhuschte und sie akribisch gegeneinander ausrichtete. Ein Millimeter hier, ein Millimeter da, dass auch ja keines schief hing. Damien stand grübelnd vor seiner geliebten Braunbärenskulptur und dirigierte den schwitzenden Ole, der selbige abwechselnd ein Stück nach links und dann wieder zurück nach rechts schieben musste. Das Lampenfieber flirrte förmlich zwischen den sorgfältig platzierten Kunstwerken unserer Gastgeber. Alicia und ich verzogen uns in die Café-Ecke und bereiteten uns mit einigen letzten Handgriffen auf unsere ersten Besucher*innen vor.

Eine Stunde später drängten sich etwa 40 Leute auf den wenigen Quadratmetern, die Kate und Damien nicht für ihre Werke beansprucht hatten. Die niedrigen Holztische des Kunstcafés wackelten charmant unter der Last von Kuchentellern und Teetassen und Alicia strahlte vor Stolz, dass ihre selbstgebauten Möbelstücke tapfer ihren Dienst taten. Hinter einem klobigen Nashorn, das Damien aus Treibholz zusammengenagelt hatte, entdeckte ich Kates grauen Haarschopf. Mit großen Gesten redete sie auf Sean O’Donnell ein, den schirmbemützten, schnauzbärtigen Bürgermeister von Alliehies. Sie strahlte übers ganze Gesicht, sodass sich tiefe Freudenfalten um ihre Augen bildeten. Wie aus dem Nichts erschien Damien auf der Bildfläche, legte einen Arm um die Schultern seiner Frau und schüttelte mit der anderen Hand die des Bürgermeisters. Ich sah den beiden an, wie stolz sie waren. Wehmütig ließ ich meinen Blick nach oben über das kleine Holzschild wandern, das ich für die Tresenecke gestaltet hatte.

Allihies,
my friend.
You smile with your streets,
you talk with your hills,
you kiss with your stormy days.
Allihies, my friend.

Ich verzog peinlich berührt das Gesicht. “Ganz schön kitschig“, schnarrte es in meinem Kopf, als ich von dem dezenten Klingeln, mit dem sich die Tür öffnete, aus meinen Gedanken gerissen wurde. Ciarán zwängte sich durch einen schmalen Spalt. Offenbar wollte er vermeiden, den Nieselregen, der draußen durch die Gassen wehte, mit hereinzubringen. Er schaute sich suchend um und lächelte, als er mich erspähte. Zwei Schritte schaffte er in meine Richtung, da klopfte ihm schon jemand auf die Schulter. Ciarán kannte jeden in Allihies und jeder kannte ihn. Er drehte sich um und schüttelte beherzt die Hand eines älteren Mannes, dem eine Pfeife aus dem Mundwinkel baumelte. Manchmal sahen die Iren schon herrlich stereotyp aus.

Die beiden wechselten ein paar Worte, vermutlich über den bevorstehenden Viehmarkt in Kenmare. Dann eiste sich Ciarán los und quetschte sich zwischen einer rothaarigen, jungen Frau mit einem rotwangigen Kind auf dem Arm und dem örtlichen Pfarrer, der sich die Wehwehchen zweier alter Frauen in dicken Strickjacken und knielangen Röcken anhörte, zu mir durch. „Hier ist ja richtig was los, fantastisch“, rief er begeistert und grinste mich breit an. Mein Herz hüpfte ein bisschen. Ciarán konnte sich so wunderbar für andere freuen. Aus unserer Affäre war inzwischen waschechte Zuneigung geworden.

Vor ein paar Tagen hatte Ciarán über einem Teller selbst gemachten Sheppard Pies vorsichtig gefragt, ob ich nicht einfach bleiben wolle. In Allihies, bei ihm. An sich sprach da nichts dagegen. Ich kannte inzwischen viele Leute im Dorf, bestimmt würde ich einen Job finden, der mich um die Runden brachte. Damien hatte auch schon angeboten, dass ich gegen eine kleine Miete im Cottage wohnen bleiben könnte. All das klang zu schön, um wahr zu sein und doch zögerte ich. Ein vages Gefühl sagte mir, dass ich nicht gekommen war, um zu bleiben. Und seit dem desaströsen Absturz in Galway war klar: Ich brauchte mehr Zeit, um mich zu lösen. Eine eigenständige Person zu werden und herauszufinden, was mir im Leben wichtig war. Die Reise musste noch ein bisschen weitergehen.

„Spielst du heute Abend im Pub?“, fragte ich, während ich Ciarán eine Tasse Tee über den Tresen reichte. Er pustete den heißen Wasserdampf davon und nickte. „Ja, ab acht ungefähr. Síle und Jimmy kommen vielleicht auch, dann machen wir eine Trad Session. Ansonsten spiel‘ ich halt wieder den Alleinunterhalter.“ Er nahm meine Hand und gab mir einen kratzigen Kuss auf die Fingerknöchel. „Kommst du vorbei?“, fragte er. „Klar“, antwortete ich und strich ihm liebevoll über die Wange. Mit einem großen Schluck trank Ciarán seinen Tee aus und verabschiedete sich. Er müsse noch die Lämmer füttern und den Hund einsperren, bevor er sich für den Abend fertig machen konnte. Alltag auf dem Land. Ich winkte ihm nach und beobachtete nachdenklich, wie er die Tür hinter sich schloss, den Kragen seiner Jacke hochschlug und in seinen rostigen Van kletterte. Beim Gedanken, ihn nicht mehr jeden Tag um mich zu haben, kamen mir fast die Tränen. Ciarán war ein Mann zum Wiedersehen. Irgendwann vielleicht.

Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche und zerstreute den aufkeimenden Abschiedsschmerz. Ich zog es hervor und linste auf den Bildschirm. Eine Sprachnachricht von Nele. Nach unserer Partynacht hatten wir noch zwei schöne Tage an der frischen Luft verbracht, waren wandern gewesen in der mystischen Hügellandschaft Connemaras, hatten einmal mehr die berühmten Cliffs of Moher bestaunt und in kleinen Küstenörtchen Seafood Chowder gegessen. Irland pur. Seit sie vor etwas mehr als drei Wochen abgereist war, hatte ich bis auf einige hastige Chatnachrichten kaum etwas von ihr gehört. Hatte sie ihre Dissertation nach der Ablehnung durch die Studienstiftung wohl wirklich abgebrochen? Gab es am Ende schon Neuigkeiten aus dem Bewerbungsmarathon, den sie kürzlich erwähnt hatte? Nele konnte sich schon immer gut verkaufen – ich hatte keine Zweifel, dass sie die Jobsuche schnell über die Bühne bringen würde. Möglicherweise hatte sie in der Zwischenzeit also eine komplett neue Richtung in ihrem Leben eingeschlagen.

Ich trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. 2:25 war die Aufnahme lang. Ob eine aufgelöste Karrierekrise in 2:25 passte? Verstohlen sah ich mich um und überlegte, wie sehr es auffallen würde, wenn ich mich kurz verzog. Kate und Damien sprachen immer noch mit dem Bürgermeister. Inzwischen hatte sich der Pfarrer von den alten Damen losgeeist und sich zu dem Grüppchen dazugesellt. Alicia stand gedankenverloren vor einem von Kates Bildern und löste ihren Zopf auf. Die Gäste wirkten versorgt und in ihren Dorftratsch vertieft. Ich beschloss, dass die Lage entspannt genug war und winkte Ole herüber, um mich kurz an der Kaffeemaschine abzulösen. Als ich auf die Straße hinaustrat, schlug mir beißender Küstenregen ins Gesicht. Fröstelnd zog ich mir die Kapuze in die Stirn, drückte mich gegen die Hauswand, um dem Wind auszuweichen, und drückte auf „Play“.

Update von Nele

Nachdenklich blickte ich auf die beiden blauen Häkchen, die anzeigten, dass ich Neles Nachricht abgehört hatte. Ja, wer hätte gedacht, dass sich das Leben so entwickelt? Die akademische Nele als Jugendarbeiterin. Die zielstrebige Emma als planlose Reisende. Ich drückte auf den Aufnahmeknopf:

Emma ist im Reisefieber

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