Nele
Ich versuchte angestrengt, mich auf den Text vor mir zu konzentrieren. Eine Theorie vom Psychologen Mark Freeman mit dem Titel „Axes of Identity“. Ich hatte ihn als Einstiegslektüre für mein Seminar zu Identitätsromanen geplant. Es ging im Groben darum, dass man sich unterschiedlich verhielt, je nachdem, mit welchem Personenkreis man interagierte. Über die Zeit baute man sich so verschiedene Varianten seiner Selbst. Freeman bezeichnete sie auch als „Personas“ oder „Masken“, die man in bestimmten sozialen Situationen über sich stülpte. So hatten zum Beispiel die eigenen Eltern ein anderes Bild von einem, als die Freund*innen, der Liebhaber, die Lehrer*innen und so weiter. Erstaunlicherweise, das war zumindest Freemans These, verinnerlichte man diese Masken aber ein Stück weit. Und so bestand die Gefahr, dass man sich selbst mit den Bildern identifizierte, die andere von einem hatten – und irgendwann handelte man nicht mehr nach den eigenen Wünschen, sondern danach, welche Erwartungen andere an einen stellten. Ich brütete, wie ich die Theorie meinen Student*innen am ehesten erklärlich machen konnte und bereute schon, dass ich diesen doch recht komplexen Text als Einstiegslektüre gewählt hatte. Ich wollte sie am Beispiel unseres ersten Romans arbeiten lassen: Inwiefern hatte die Protagonistin verschiedene „Personas“? Wie verhielt sie sich in bestimmten sozialen Konstellationen? Wie sah sie sich selbst? Wie wurde sie durch andere Figuren charakterisiert?
Ich war spät dran. Mein Unterricht startete schon in etwas mehr als dreißig Minuten. Nach meinem katastrophalen Abend, hatte ich erst einmal einen Tag Lebenskrise eingeschoben. Ich war völlig aufgelöst zu Hause angekommen. Anton hatte eine Weile gebraucht, bis er aus meinem wirren Gerede und Geheule Sinn ziehen konnte. Er hatte sich mit mir auf die Küchenbank gesetzt und sich alles im Detail angehört. Mir zugehört – von meinen wütenden Schimpftiraden bis hin zu meinem überbordenden Selbstmitleid. Nachdem ich alle meine Kraft rausgeweint hatte und Dank einer großen Tasse Tee auch wieder einigermaßen nüchtern war, hatte er angefangen, mir gut zuzureden. Vielleicht war das alles nur ein Missverständnis. Vielleicht hatte Frau Gunnich gar nicht verstanden, dass ich auf Michaels Stelle scharf war. Ob wir darüber gesprochen hätten. („Nicht direkt.“) Ob ich annahm, dass sie mir was reindrücken wollte. („Nein!“) Dass ich vielleicht nur das Gespräch suchen müsste. Dass das letzte Wort ja noch nicht gesprochen sei. Und so weiter. Er schaffte es, mich genügend zu beruhigen, dass ich schlafen konnte.
Am nächsten Tag blieb ich trotzdem zuhause – mit schrecklichen Kopfschmerzen. Ich berappelte mich über den Tag so weit, dass ich anfing, Gefallen an Antons Version der Geschichte zu finden. Wer sagte denn, dass die Neue schon eingestellt war? Woher sollte Frau Gunnich wissen, dass ich die Stelle wollte? Ja, ich hatte zu lange gezögert – vielleicht konnte ich das wieder gut machen?
Mein ursprünglicher Plan, Frau Gunnich die Leviten zu lesen, wandelte sich organisch in einen neuen Plan: Ich würde mit ihr Tacheles reden. Titten auf den Tisch. Wie sollte sie sonst wissen, was mich umtrieb? Ich konnte nicht erwarten, dass sie mir meine Wünsche von den Augen ablas. Frau Gunnich hatte wie immer nur ein kurzes Zeitfenster heute. Direkt vor meinem Kurs. Da ich den ganzen vergangenen Tag nur über die genauen Formulierungen nachgedacht hatte, die ich Frau Gunnich gleich vortragen würde, musste ich jetzt im letzten Moment doch noch kurz Unterrichtsvorbereitung erledigen. Selbstorganisation konnte manchmal ein Fluch sein.
Ein hektischer Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich schon vor einer Minute hätte rübergehen müssen. Wie von der Tarantel gestochen schreckte ich auf. Ich atmete tief durch und versuchte, mich von Zuversicht durchströmen zu lassen. Meine Mama hatte mir das beigebracht: „Amygdala nach vorne!“ Die Amygdala war ein mandelförmiger Bereich im Gehirn, ein Überbleibsel aus unserem Reptiliengehirn. Unser Angstzentrum. Laut einem ziemlich esoterischen Ratgeber meiner Mama, konnte man die Amygdala willentlich steuern – war sie nach vorne geklappt, war man mutiger und souveräner und weniger in Gefahr, reflexartig die Flucht zu ergreifen. Ich klebte mir also einen optimistischen Ausdruck aufs Gesicht und beteuerte mir selbst, dass ich jetzt alles zurechtrücken würde. Es lag in meiner Hand.
Ich pochte an Frau Gunnichs Tür. „Herein“, flötete es. Als ich eintrat, saß Frau Gunnich hinter ihrem riesigen Schreibtisch und lächelte mich über ihre Goldrandbrille hinweg an. Auf dem Schreibtisch lagen sorgfältig angeordnete Stapel, die ich dort hinterlassen hatte, alle in Klarsichthüllen und mit farbigen Büroklammern und bunten Post-Its versehen. Ein bemerkenswert hoher Stapel am linken Rand des Tisches fing kurz meine Aufmerksamkeit. Neue Bitten. „Sie wollten mich sprechen?“ Bildete ich mir es nur ein oder hörte ich einen Hauch von Unmut aus ihrer gewohnt fröhlichen Stimme heraus? Als hätte sie auf dieses Gespräch insgeheim gewartet und wäre jetzt entnervt, dass sie sich dem tatsächlich stellen muss? Aber vielleicht las ich da zu viel hinein. Amygdala nach vorne.
Ich lächelte und nickte. „Ja. Haben Sie einen Moment?“ Das war eine rhetorische Frage. Schließlich hatte ich den Termin schon am Morgen erbeten. „Selbstverständlich habe ich Zeit für Sie, Frau Jakob.“ Sie erhob sich lächelnd und deutete einladend auf den runden Konferenztisch, der neben dem massigen Schreibtisch und den vollen Regalwänden ihr geräumiges, aber erstaunlich anonymes, Büro dominierte. Andere Professor*innen hatten ihre Zimmer mit allerleih persönlichen Gegenständen, pseudowitzigen Postern, Theaterplakaten und Bildern angereichert. In Frau Gunnichs Büro hing nichts an der Wand. Ein Bild, das eine blaue Bergsilhouette zeigte, lehnte auf einem der halbhohen Schränke. Als wartete es seit Jahren darauf, endlich aufgehängt zu werden.
Als wir gemeinsam am Tisch saßen und sie mich erwartungsvoll anlächelte, war ich mir plötzlich sicher: Anton hatte Recht. Frau Gunnich hatte sich immer Zeit für mich genommen. Sie hatte mir keinen Vorwurf gemacht, als ich zum Mutterschutz abdampfte, und mir nie Steine in den Weg gelegt, wenn es darum ging, Lehraufträge zu verteilen. Sie unterstützte mich bei meiner Dissertation, hatte immer ein offenes Ohr und sich schon häufiger Arbeit damit gemacht, meine Bewerbungen für Stipendien zu prüfen. Sie hatte mir diverse Beurteilungen ausgestellt – alle exzellent – und sich dafür eingesetzt, dass ich eine unbefristete Stelle bekam. Mir stieg die Schamesröte ins Gesicht. Wie sollte ich anfangen? Sollte ich schon wieder um etwas bitten? Das kam mir jetzt, hier am runden Tisch mit Frau Gunnich, ziemlich anmaßend vor.
„Also, wie kann ich Ihnen helfen, Frau Jakob?“ „Mh“, druckste ich herum, „es geht um Michaels Stelle.“ Da – es war raus. Schon wieder blitzte in ihren Augen ein Funken dieses Missfallens auf. So, als hätte sie ein ähnliches Gespräch in der Vergangenheit schon einmal geführt. „Ja?“ „Ich hatte gehofft, dass ich die Stelle bekomme“, würgte ich hervor. Ich wollte es hinter mich kriegen, gleich fing mein Unterricht an. Frau Gunnich verzog beinah unmerklich den Mund. „Ich dachte, wir hatten ganz klar gesagt, dass wir Ihre Stelle nur entfristen, wenn Sie vorhaben, länger darauf zu bleiben?“ Ihre Stimme war noch einen Halbton höher, als sonst schon. Mir stieg das Blut in die Wangen. Das Argument traf mich unerwartet.
„Naja, ich bin ja auch schon seit zwei Jahren da…“, stammelte ich. Ich konnte es nicht fassen – das sollte jetzt der Grund sein? Frau Gunnichs Mund wurde schmal. „Wissen Sie, Frau Jakob, es war auch nicht abgesprochen, dass Sie sich so bald auf ein Stipendium bewerben. Das habe ich nur aus Kulanz Ihnen gegenüber unterstützt.“ Ich traute meinen Ohren kaum. Das Stipendium bei der Studienstiftung hatte sie selbst vorgeschlagen. Das Gespräch verlief überhaupt nicht so, wie ich es am Vormittag hunderte Male innerlich durchexerziert hatte. Ich versuchte einen Neuanfang: „Am Anfang meinten Sie, Sie würden mir gerne eine wissenschaftliche Stelle geben, wenn Sie eine hätten und da dachte ich, jetzt ist ja eine frei. Das würde mir helfen, schneller mit der Dissertation fertig zu werden und finanziell wäre es auch eine echte Hilfe.“ „Ach, verrechnet mit Ihren Lehraufträgen gibt sich das nichts“, winkte sie ab. Ich wurde rot. „Naja, ich habe ausgerechnet, dass das etwa zweihundertfünfzig Euro netto im Monat ausmacht“, bemerkte ich. „Ja, sehen Sie. Die sind ja schnell ausgegeben“, sagte Frau Gunnich.
War das ihr Ernst? Bei ihrem Professorinnengehalt mochten 250 Euro nicht ins Gewicht schlagen. Ich konnte damit schon fast Frejas Kita-Platz bezahlen! „Und Ihnen ist schon klar“, setzte sie nach, „dass ich von meinen wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen einen anderen Einsatz erwarte. Einen Nachmittag mehr in der Woche müssten Sie dann schon hier sein.“ Ich riss mich zusammen und nickte: „Ja, das habe ich mit meinem Mann schon abgesprochen.“ Ein Nachmittag mehr für meine Dissertation. „Aber, Frau Jakob, ich will nicht, dass Sie das eines Tages bereuen!“ Ich starrte sie an. „Wie meinen Sie das“, fragte ich leise. „Naja, das ist ein weiterer Nachmittag, den Sie nicht bei Ihrem Töchterchen sein können“, flötete Frau Gunnich und ihre grünen Augen blitzten. Da – Sie hatte meine eigene Tochter als Waffe gegen mich benutzt! Ich fühlte, wie ich in einen Abgrund stürzte.
„Sie glauben zwar vielleicht im Moment, dass Sie das möchten“, fuhr sie ungerührt fort, „aber im Nachhinein werden Sie mir dankbar sein, dass sie es nicht gemacht haben.“ Sie zog wissend die hellen Augenbrauen hinter der Goldrandbrille hoch. Ich musste mich zurückhalten, sie nicht anzuschreien: Was wusste sie denn vom Kinderhaben? Sie sah Kinder doch eher wie ein Hobby oder ein besonders pflegeintensives Haustier. (Sie verglich Freja ständig mit Hunden, Katzen oder Rabenvögeln – für die hatte sie ein besonderes Faible. „Wussten Sie, dass Raben bei einem Experiment genauso schlau waren wie fünf- bis siebenjährige Kinder?“ Deutlich schlauer eben als mein Töchterchen unter Drei.) Frau Gunnich lehnte sich ein wenig vor und lächelte mich wohlwollend an. „Glauben Sie mir, Frau Jakob, Sie sind perfekt als meine Assistentin. Sie würden sich doch langweilen, wenn ich Ihnen ab jetzt nur noch Rechercheaufgaben geben würde. Oder Korrekturen für meine Bücher. Oder Sie bitten würde, Bibliographien anzufertigen. Ich hatte von Ihnen nie den Eindruck, dass Sie sonderlich für die Wissenschaft brennen.“
Wie bitte? Unterstellte sie mir gerade tatsächlich mangelndes Interesse? Hielt sie mich nicht für wissenschaftliche Arbeit geeignet? Nach all den Bestnoten, die ich über die Jahre gesammelt hatte? Den Seminaren? Trotz all der Zeit und Energie, die ich meiner Dissertation opferte? Frau Gunnich verschränkte die goldberingten Hände im Schoß. „Ich weiß, was ich an Ihnen habe. Sie haben dieses Manager-Gen, Sie können den ganzen Lehrstuhl vorzüglich organisieren. Das kann wirklich nicht jeder. Und Sie können mir wunderbar zuarbeiten. Überlegen Sie mal, mit einer normalen Assistentin wäre das nie möglich! Deswegen habe ich immer schon Doktorand*innen als Sekretär*innen eingestellt. Ich nehme Ihren Job sehr ernst, Frau Jakob.“ Sie lächelte mich an. Super. Ich wurde ernst genommen. Solange ich Sekretärin blieb. Sie gab sogar zu, dass sie mich und meine Überqualifikation nach Strich und Faden ausnutzte. „Und Sie sind bisher die Beste auf der Stelle“, fügte sie mit Nachdruck hinzu. Ich war sprachlos. „Die Vorteile liegen doch auf der Hand“, fuhr sie fort, „Als Sekretärin sind Sie unbefristet angestellt – Sie können also auch noch ein Kind bekommen. Das passt doch ganz großartig! Also, ich verstehe wirklich nicht, warum Sie die andere Stelle haben möchten. Glauben Sie mir, so passt es viel besser.“
„Viel besser“, rang es in meinen Ohren nach. „Noch ein Kind.“ „Sie glauben das jetzt vielleicht.“ „Aber Sie werden mir dankbar sein.“ „Ein weiterer Nachmittag, den Sie nicht bei Ihrem Töchterchen sein können.“ „Ich hatte von Ihnen nie den Eindruck, dass Sie sonderlich für die Wissenschaft brennen.“ „250 Euro? Die sind ja schnell ausgegeben!“ „Sie sind perfekt als meine Assistentin!“ Während Frau Gunnichs Sätze durch mein Hirn geisterten, saß ich wie paralysiert auf meinem Stuhl. In einer entlegenen Region meines Hirns, sicher nicht der Amygdala, realisierte ich, dass ich jetzt aufstehen musste, wenn ich nicht zu spät in meinen Unterricht kommen wollte. Benommen erhob ich mich. Ich bekam kein Wort über die Lippen, und lief wie ferngesteuert durch den Raum, öffnete die Tür und stand dann da im muffigen Gang der neuphilologischen Universität, geplättet von dem Bild, das eine andere von mir hatte.
Emma