Kapitel 11

Schreibe einen Kommentar
Kapitel

Emma

„Was zur Hölle machst du da?“ – Wieder einmal fuhr mir diese Frage durch den Kopf. Manchmal klang sie verwundert, manchmal bewundernd, manchmal schlichtweg ungläubig. Gerade war eher letzteres der Fall. Ich stand hüfthoch im Gras. Irgendwo im Nirgendwo. Als Hobby für mein neues, sich selbst findendes Ich hatte ich wandern auserkoren. Das war naturnah und hielt fit. Ok, es war auch das einzige, was man ohne Auto dafür mit Wohnsitz ‚Allihies‘ tun konnte. Wanderschuhe anschnallen und loslaufen. Einfach querfeldein. Frei wie der Wind – bis man von wackeligen Stacheldrahtzäunen oder unerwarteten Felshängen aufgehalten wurde. Oder Grasfeldern wie ich heute feststellen durfte.

Ich blickte zurück, überlegte, ob ich umkehren sollte. Tatsächlich hatte ich es schon bis in die Mitte des sumpfigen Feldes geschafft. Schätzungsweise. Wo genau das unangenehm tiefe Gras aufhörte, das mögliche Löcher oder Gräben im Boden so sorgfältig verdeckte, konnte ich kaum abschätzen. Vorsichtig stakste ich weiter und balancierte auf einem Bein, bis mein anderer Fuß sicher war, dass er nicht ins knöchelverstauchende Verderben treten würde. Mich zu verletzen war keine Option, schließlich wusste niemand, wo ich genau war und ich hatte wahrscheinlich keinen Handyempfang. Beim Gedanken daran wurde mir mulmig wie es sich gehörte. Heimlich freute ich mich aber auch ein bisschen. Wie abenteuerlustig ich doch war! Ich hielt an und hob den Blick. Nur noch ein paar Meter, dann sah das definitiv wieder nach begehbarem Untergrund aus. Bestimmt.

Ich hob das rechte Bein und setzte den Storchentanz durch das Grasgestrüpp fort. Gut, dass mich niemand sehen konnte. Vor allem nicht Ciarán, der Barkeeper des einzigen Pubs in Allihies. Ein Ire gälischen Typs, dunkle Haare, schwarzer Bart, stechend blaue Augen. Letzten Samstag hatte sich außerdem herausgestellt, dass er singen und Gitarre spielen konnte. So schön kratzig hatte er Galway Girl ins Mikro geraunt, dass ich fast vom Barhocker geschmolzen wäre. Ja, so leicht und klischeehaft war ich zu begeistern. Seitdem bekam ich Herzklopfen wie ein liebeskranker Teenager, wenn ich an unser erstes und bisher einziges „Gespräch“ dachte. „Hey, what can I get you?“ – „Uhm….a…a pint of Smithwicks, please.” – “A pint of what?” (Mein deutscher Akzent hatte das Wort ‚Smithwicks’ offenbar zur Unkenntlichkeit verzerrt) – “Smithwicks.” (Betonung und große Anstrengung auf das ‚th‘ in der Mitte) – „Of course, love.“ (Spöttisches Schmunzeln seinerseits, beschämtes Erröten meinerseits). Ende der Szene. Streng genommen konnte man das wahrscheinlich nicht als Gespräch bezeichnen, eher als Wortwechsel – na gut, es war gerade mal eine gestotterte Bestellung – , aber er hatte mich love genannt. Da konnte man schon mal großzügig darüber hinwegsehen, dass das in Irland eine Anrede für jedes weibliche Wesen egal welchen Alters war und nichts mit persönlicher Zuneigung zu tun hatte.

Trotzdem bildete ich mir ein, dass da etwas zwischen uns war. Hatte er nicht auch am Samstag von der Bühne aus zu mir rübergeschaut? Hatte er nicht sogar gezwinkert? Aber was wusste ich schon, ich war erst seit sechs Wochen single. Wusste nichts über Signale oder Zeichen oder sonst irgendetwas, was mit Flirten zu tun hatte. Schließlich hatte ich fast meine gesamten 20er mit Alexander verbracht. Alexander. Sofort spürte ich ein kurzes Flackern in der Magengegend. Ich vermisste ihn, auch wenn ich es mir ungern eingestand. Die Gedanken, die mir dann kamen, rochen unangenehm nach Reue. Es hatte doch so viel gepasst zwischen uns, so viele Gemeinsamkeiten. Vielleicht war er tatsächlich die Liebe meines Lebens gewesen und es grenzte an Wahnsinn, dass ich unser gemeinsames Glück für ein paar Monate unbezahlten Möbelrückens im südirischen Hinterland weggeworfen hatte wie ein altes Paar Socken. Eigentlich. Vielleicht.

Ein Grasbüschel gab unter meinem linken Fuß nach und setzte meinem Sinnieren ein Ende. Ich geriet ins Wanken und versuchte mit rudernden Armen, mich abzufangen. Nach einigem Vor und Zurück und einem erschrockenen Quietscher, von dem ich wieder froh war, dass er lediglich eine kleine Gruppe Schafe oben am Hang aufschreckte, sonst aber ungehört blieb, landete ich schließlich rücklings im struppigen Grasteppich. „Geschieht dir Recht, wenn du so melodramatisch sein musst…die Liebe meines Lebens, gemeinsames Glück“, dachte ich mürrisch und rappelte mich auf. Ich setzte den Gedanken an die Männerwelt, ob verflossen oder zukünftig, ein Ende und konzentrierte mich auf mein Ziel: Oben, am Kamm des Bergs, müsste der Ausblick in die Bucht von Kenmare überragend sein. Das war der Plan.

Entschlossen stapfte ich weiter und hatte schließlich wieder festen Boden unter den Füßen. Schafe und wilde Ziegen tummelten sich auf den Hügelketten und nagten die Gräser zwischen den wenigen Büschen und den stacheligen Rhododendronkolonien bis auf die Wurzeln ab. Die Tiere standen für einen faszinierenden Gegensatz im Bergland Kerrys: Es war wild und schwer bewirtschaftet zugleich. Durch die endlosen Hügelketten zogen sich neben ein paar einsamen Zaunzeilen kaum Wanderwege oder Straßen. Einzig die Schafe bahnten sich behände ihre schmalen Pfade in die kargen Hänge und hinterließen den Fingerabdruck menschlichen Eingreifens in dieser sonst kaum erschlossenen Natur.

Genau diesen schmalen Pfaden folgte ich nun den Rest des Hangs hinauf. Die Schafe wussten schon, wo es sich am bequemsten lief. Ich schwitzte. Die Berge Kerrys waren weit entfernt von den Dimensionen eines „richtigen“ Gebirges wie den Alpen – und doch hatten sie ihre eigenen Mittel, um ihre Wandersleute herauszufordern. Mein Anstieg war steil und vom vielen Regen der letzten Tage ziemlich glitschig. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und nutzte hin und wieder einen Rhododendron-Flecken, um sicheren Halt zu finden. Diese wussten sich zu rächen und pieksten unerbittlich zu, falls ich auf die Idee kam, mich irgendwo festhalten zu wollen. Das machte für mich den Reiz des Wanderns hier aus. Man musste sich seine eigenen Wege suchen, immer wieder stehen bleiben, sich orientieren und an seiner Aufstiegsstrategie feilen. Ich umschiffte zwei frech aus dem Hang herausragende Felsbrocken und fand schließlich einen Schafspfad, der schnurstracks zum höchsten Punkt des Bergs zu führen schien. Zielgerade. Mit großen Schritten hechtete ich die letzten Meter hinauf und kraxelte über die Hügelkuppe.

Wie immer erstarrte ich einen Moment lang ehrfürchtig und nahm mir die Kopfhörer aus den Ohren. Diesen besonderen Moment, wenn sich der Blick öffnete und sich der Südwesten Irlands in all seiner fast kitschigen Schönheit vor mir aufplusterte, wollte ich ohne Elektronik im Schädel genießen. Ich setzte mich auf einen flachen Felsen und starrte in die Weite. Unter mir lag die schmale Meerzunge, die sich bis hinein nach Kenmare zwischen dem ‚Ring of Beara‘ und dessen großem und viel berühmterem Bruder, dem ‚Ring of Kerry‘, durchschleckte. Das Wasser glitzerte in fahlem Blau, als wollte es dem satten Grün der Bergketten um sich herum nicht die Show stehlen. Diese erstreckten sich in einem endlosen Meer von Anhöhen bis zum Horizont, wo sich die Bucht ausdehnte und in den Atlantik überging. Die berüchtigten ‚rolling hills of Kerry‘. Eine kühle Brise wehte mir um die Nase, die Sonne schien mir aufs Gesicht, ohne wirklich zu wärmen, es roch leicht nach Schafmist. ‚Das mache ich hier‘, dachte ich zufrieden und zog mein Handy aus dem Rucksack. Ein einzelner Balken signalisierte zaghaften Empfang, vielleicht gerade genug für eine Nachricht an Nele:

Emma erzählt von ihrem Leben in Allihies

Ich drückte auf den Senden-Button und schaute wieder hinunter in die Bucht. Die Nachricht lud eine ganze Weile, bevor sie sich behäbig dazu entschloss, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen. Meine Alleingänge in den Bergen hinter dem kleinen Cottage, in dem ich mit den beiden Schweden hauste, waren der Inbegriff von Freiheit für mich. Niemand sagte mir, wo ich langgehen musste, nicht einmal lose Farbkleckse, denen man sonst auf Wanderrouten folgte. Ein Freiheitsgefühl so mächtig, dass es mich manchmal fast gruselte. Dann klammerte ich mich an den einen zittrigen Balken, der mich mit etwas Glück eine Verbindung nach Hause spinnen ließ und mir für einen Moment die vertraute Rolle der besten Freundin, Schwester oder Tochter überstülpte. Ein virtuelles Heimkehren bevor die beiden grauen Häkchen hinter der Nachricht dazu aufforderten, mich wieder auf die Suche zu machen. Nach einem sinnvollen Weg zurück.


Nele

Ich schloss die Augen und atmete den frischen Frühlingswind ein, der sich in mein Zimmer geschlichen hatte. Die Luft war schwer, voller Pollen und Erdgeruch, und duftete schon ganz dezent nach Sommer. Die Vögel zwitscherten aufgeregt und eine Biene hatte sich durch mein Fenster verirrt und summte laut und orientierungslos herum. Ich öffnete wieder die Augen. Die Sonne schien warm auf meinen Rücken und kleine Staubflusen schwebten glitzernd über meinem Schreibtisch. Draußen hörte ich Freja rufen: „Papa! Papa, da ist ein Rotkähchen! Guck, so sieht es aus! Guck, Papa!“ Ich schaute aus dem geöffneten Fenster: Anton hockte auf dem Boden und hatte Freja zu sich aufs Bein gezogen. Gemeinsam beobachteten sie eine Hecke. Er redete leise auf sie ein und sie nickte ernsthaft. „Hat das Flügel, Papa? Warum hat das Flügel?“ Ich lächelte wehmütig und zwang mich, meinen Blick wieder auf meinen Laptop zu heften. Mein Nacken schmerzte schon wieder unangenehm. Irgendwann würde ich mir einen Bildschirm und eine Tastatur zulegen. Irgendwann.

Nächste Woche ging das Semester wieder los. Das bedeutete bei uns Ausnahmezustand. Nachdem die Semesterferien zunächst entspannt gestartet waren – keine Unterrichtsvorbereitung, juhuu – hatte sich das Blatt recht schnell gewendet. Das hatte mehrere Gründe: Erstens, Korrekturen. Hunderte von Klausuren waren auf uns eingeprasselt – Frau Gunnich hatte letztes Semester wieder zwei Vorlesungen gehalten; darunter die Einführungsveranstaltung mit 150 Erstsemestern. Dann kamen nach und nach die Hausarbeiten reingetröpfelt. Von Frau Gunnichs Hauptseminar – und meinen beiden Proseminaren. Ich hatte erst vor einer Woche die letzten Noten rausgeschickt. Die Korrekturen hatten mich ein paar Nacht- und Wochenendschichten gekostet. Dafür durften sich die Studis über ausführliche Begründungen ihrer Noten, inklusive Verbesserungsvorschläge freuen. Ich würde sie einzeln erwürgen, wenn ich rausfände, dass meine mühevollen Rezensionen in den Papierkorb wanderten (es war aber nicht unwahrscheinlich).

Schließlich begannen langsam die Anmeldungen für das kommende Semester und damit kam die Einsicht, dass das Sommersemester vorbereitet werden wollte. Frau Gunnich würde eine neue Vorlesung halten und bombardierte uns mit Bitten (Dringend!). Dazu kamen die üblichen Vorbereitungen für alle Kurse – Kopien für die Semesterapparate in der Bibliothek, neue Terminpläne, Ordner mit Lehrmaterialien für Frau Gunnich – und eine Flut an Studentenanfragen. Die letzte Woche hatte ich außerdem fast komplett damit verbracht, die Staatsexamenstermine für die Lehramtsstudent*innen neu zu planen. Sorgsam gepflegte Excel-Listen hatten die Professor*innen nicht davon abgehalten, ihre Termine kurzfristig noch umzuwerfen, was für mich einen koordinatorischen Super-GAU bedeutet hatte. Da ich für alle Beteiligten – Landeslehrerprüfungsamt, Studierende, Dozent*innen – die Anlaufstelle war, entlud sich jeglicher Unmut über die noch immer nicht feststehenden Termine natürlich an meiner Bürotür.

Zwischen all dem Trubel hatte ich überhaupt keine Zeit gehabt, meine eigenen Kurse vorzubereiten. Ich bot dieses Semester wieder ein Literatur-Proseminar an, dieses Mal zum Thema „Zeitgenössische Identitätsromane“. Außerdem plante ich ein brandneues kulturwissenschaftliches Seminar, was mich komplett überforderte. Die Namen waren mir alle ein Begriff: Roland Barthes, Pierre Bourdieu, Judith Butler, Michel Foucault, Jacques Lacan. Doch obwohl ich ihren Theorien schon unzählige Male begegnet war, warf ich alles durcheinander. Verwechselte theoretische Ansätze. Hatte komplette Blackouts. Wie sollte ich da vor kritischen Studierenden bestehen? In meiner Panik hatte ich eine ganze Bibliothek an Einführungsliteratur ausgeliehen und arbeitete mich durch die dicken Bände. Mein Semesterplan war noch ziemlich lückenhaft und, das musste ich mir selbst eingestehen, noch wenig überzeugend.

Meine Idee war, den Studis das Thema möglichst schmackhaft zu machen. Ich wollte, dass sie verstanden, was die ganzen Theorien mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun hatten. Das Problem war allerdings, dass mir diese Realität zunehmend fremd war. Ich wusste nicht genau, wann es passiert war, aber ich hatte tatsächlich die Seiten gewechselt: Von der Studentin zur Dozentin. Komischerweise fühlte es sich an wie ein Abstieg. Mein Alltag hatte mit dem der energiegeladenen, oder verkaterten, Erstsemester wenig gemein. Für sie war die Welt gefüllt mit Möglichkeiten. Meine Welt hatte sich unmerklich geordnet und stand jetzt ziemlich still. Es kam immer öfter vor, dass ich so etwas sagte, wie: „Weißt du noch, wie wir in Amsterdam waren? Das war… oh, krass! Das ist jetzt zehn Jahre her!“ Vor zehn Jahren hatte ich Abi gemacht. Vor zehn Jahren war ich schon zwei Jahre mit Anton zusammen gewesen. Vor zehn Jahren hatte ich mein Studium in Erlangen angefangen. Vor zehn Jahren war ich in meine erste WG gezogen. Hatte meinen ersten Joint geraucht. Für Erstsemester waren zehn Jahre ein halbes Leben. Für manche sogar mehr.

Ich hatte mich nie sonderlich mit Labels wie Generation Y identifiziert. Aber Fakt war, dass da vor mir eine neue Generation saß, die noch nie Kassette oder Schallplatten gehört hatte – höchstens auf dem Turn-Table –, die nie jemand anderes als Angela Merkel im Kanzleramt erlebt hatte, die andere Medien konsumierte und sich Informationen anders beschaffte als ich (zumindest vermutete ich das). Ich hatte keine Ahnung, welche Einstellung die „jungen Leute“ zu Sex hatten, oder zu Intimfrisuren. Ich wusste nicht, welche Musik man heute in den angesagten Clubs hörte und welche Locations in Heidelberg überhaupt noch offen hatten („Weißt du noch, damals im iPunkt in der Unteren Straße?“). Ich hatte den Anschluss verloren. Ich kam mir immer öfter richtig alt vor.

Als ich gerade die Frage wälzte, wie ich Marshall McLuhans Medientheorie auf soziale Netzwerke übertragen konnte (War Facebook noch ein Ding oder schon total out? Und wenn das Medium die Message war, funktionierte das bei sozialen Netzwerken überhaupt, wenn es nicht mehr einen Sender und viele Empfänger gab, sondern anders herum viele Sender und einen Empfänger?), pingte mein Handy. Angela.

Ich starrte auf mein Handy und sortierte meine Gedanken. Wenn Michael, neben Angela unser zweiter wissenschaftlicher Mitarbeiter, bald nicht mehr am Seminar war, konnte das nur Eins bedeuten: Dass ich seine Stelle bekam! Während ich von Glücksgefühlen durchflutet wurde, wählte ich den Chat mit Emma aus – ich musste das sofort teilen.

Nele teilt ihre News mit Emma

Emma

Ich suchte hektisch mit dem Daumen den Seitenrand meines Handys ab und drehte die Lautstärke von Neles Nachricht runter. Vorsichtig rückte ich ein Stück von Ciarán ab und drückte mich platt gegen seine Zimmerwand. Sein nur 90 Zentimeter breites Bett bot wenig Platz für private Korrespondenzen wie ich feststellte. Kaum begann Neles Aufnahme, mir ins Ohr zu plappern, spürte ich seinen kratzigen Bart am Hals. „Was machst du denn da?“, fragte er auf Englisch. Sein schwerer, irischer Akzent stellte mir die Nackenhaare auf. „Nichts, nichts, schlaf‘ ruhig weiter“, flüsterte ich, während ich Neles aufgeregter Stimme lauschte. „Ist da etwa jemand wichtiger als ich? Das gibt’s ja nicht“, scherzte Ciarán, schlang mir den kräftigen Arm um die Taille und drehte mich geschickt zu sich um. Ich lachte und ließ ergeben das Telefon mit der halb abgehörten Sprachnachricht auf seinen völlig überfüllten Nachttisch plumpsen. Das arme Ding fand auf dem Berg aus Ladekabeln, seinem umgekippten Wecker, drei Büchern und einer unwirsch aufgerissenen Packung Kondome keinen Halt und schlitterte krachend zu Boden. Wir ignorierten den Absturz und machten stattdessen da weiter, wo wir irgendwann letzte Nacht zu sehr später Stunde aufgehört hatten.

Am Vorabend hatte ich mich selbst ein wenig überrascht, als ich auf seine Frage, ob ich bei ihm schlafen wolle, mit „Ja“ geantwortet hatte. Wie alles in meinem Leben ging ich auch Dates normalerweise strukturiert an. Erstes Date: Abendessen oder Kaffeetrinken. Auf jeden Fall etwas, wobei man sich unterhalten konnte. Ein erstes Sondieren, ob man auf derselben Wellenlänge war. Zweites Date: Kino, Museum oder Ähnliches. Abklopfen, ob man seine Freizeit gemeinsam gestalten kann. Wenn’s gut läuft, vielleicht ein bisschen Knutschen zum Abschied. Auf jeden Fall kein Sex vor dem dritten Date. Das war meine eiserne Regel gewesen. Bis Alexander. Aber jetzt war alles anders. Ich war keine grünschnabeligen 21 mehr und befand mich im Land der verkorkst-charmanten Pub-Musiker. Außerdem hatte zwischen Alexander und mir bis zu unserer Trennung sechs Monate lang Eiszeit geherrscht. Sprich: Jede Faser meines Körpers hatte insgeheim auf diese Frage am Ende unseres Dates gehofft.

Ein denkwürdiger Abschluss für ein denkwürdiges erstes Rendezvous. Ciarán hatte mich nämlich zum ‚Gathering‘ mitgenommen, also zum Schafe zusammentreiben. Einige Tage zuvor waren wir über einem Pint Smithwicks, das ich dieses Mal auf Anhieb in verständlichem Englisch bestellt hatte, ins Gespräch gekommen. Ein tatsächliches Gespräch mit wechselseitigen Fragen und Antworten. Er wollte wissen, wo ich herkam und was ich in Allihies machte (wenn ich das so genau wüsste…). Ich berichtete von meinen Wanderungen und wie ich mir einbildete, eine Symbiose mit den Schafen und ihren Trampelpfaden zu führen. „Dann kannst du mir ja am Samstag beim Zusammentreiben helfen“, witzelte Ciarán. „Ja klar, und danach scher‘ ich dir die Viecher noch“, scherzte ich zurück. Absurderweise fand ich mich am Samstagnachmittag tatsächlich in den Bergen hinter Ciaráns Hof wieder und trottete gehorsam hinter einem Grüppchen Schafe her, während ich aus dem Augenwinkel fasziniert beobachtete, wie er seinen Hund den Hang hinaufschickte, um einen weiteren Teil der Herde einzukreisen.

Insgesamt erwies sich das ‚Gathering‘ als langwierige Prozedur. Drei Stunden lang stapften wir durch den Nieselregen, hielten Ausschau nach verloren gegangenen Lämmern und warteten bis Hütehund Charlie die verstreute Herde gebündelt bekam. Oder besser gesagt: Ich wartete, während Ciarán seinem Helfer kryptische Signale über eine flache Pfeife, die er sich zwischen die Vorderzähne klemmte, gab. Schließlich trieben wir knapp 300 Tiere – „297 müssen es sein“, hatte Ciarán gesagt – in eine Talsenke, wo sich ihr Stall befand. Die niedrigen ‚Sheds‘ aus Wellblech standen oft nicht neben den Wohnhäusern der Schafbauern, sondern an günstigen Orten in den Hügeln, so nah wie möglich bei den Weideflächen der Tiere.

Gekonnt manövrierten Charlie und Ciarán die Schafe durchs Stalltor, während ich deplatziert im Weg stand und hilflos mit den Armen fuchtelte. Die aufgescheuchte Herde galoppierte schnurstracks in eines der Gehege, die den Verschlag in verschieden große Quadrate unterteilten, und drängelte sich blökend zusammen. Am Ende passte kein Blatt mehr zwischen die dampfenden Schafe, so eng standen sie beisammen. Ciarán ließ prüfend seinen Blick über die weißen Rücken wandern. Er kannte jedes einzelne Tier, wusste, welches im letzten Jahr eine Totgeburt hatte, welches hinkte und welches gerne ausbüxte. „Das da hat Maden“, schnaubte er entnervt und zeigte auf ein zerzaustes Schaf in der Ecke. „Maden?“, fragte ich entsetzt. „Ja, die Mistviecher nisten sich im Fell ein und fressen sich dann in das Schaf. Wenn man sie nicht rechtzeitig behandelt, sterben sie“, erklärte Ciarán. Ich schauderte. Maden, igitt.

Ciarán schien das Ungeziefer kalt zu lassen. Er schwang sich über das Gatter, packte das kranke Schaf beherzt bei der Wolle und warf es über die Abgrenzung ins benachbarte Gehege. „Kannst du bitte da hinten das Türchen aufmachen?“, murmelte er im Gehen und zeigte vage in die hintere Ecke des Stalls. Ich hatte keine Ahnung, welchen der zahlreichen Durchgänge er meinte und wackelte planlos in die von ihm angezeigte Richtung, während er dem panischen Tier nachhechtete. Schließlich fand ich ein Türchen, das auf den breiten Mittelgang des Stalls führte und mühte mich hektisch mit dem verrosteten Riegel ab. „Ha!“, entfuhr es mir triumphierend, als dieser endlich zurück schnappte und das kleine Tor quietschend aufschwang.

Ciarán wischte sich die Schweißperlen an der eigenen Schulter ab, während sich das Schaf verzweifelt in seinem Griff wand, und schmunzelte. „Ich meinte das da“, sagte er und trat gegen die Verbindungstür zu einem weiteren, winzig kleinen Gehege am Ende des Stalls. Ich lachte entschuldigend. Meine Fähigkeiten im Umgang mit den flauschigen Paarhufern waren wohl noch ausbaufähig. Trotzdem lud mich Ciarán nach der erfolgreichen Notfallversorgung des madenkranken Schafs auf eine Tasse Tee zu sich nach Hause ein. Wir hängten die klammen Wollsocken an den Kamin, schlürften Schwarztee (mit Milch), futterten selbst gemachten ‚Apple Pie‘ von Ciaráns Mama und fabulierten stundenlang über Gott und die Welt. Wie in einem billigen Groschenroman. Aber so kam es, dass ich meine Datingregeln über den Haufen warf und nun in bärtiger Gesellschaft in den Tag startete.

Zwei wunderbar verschwitzte Stunden später schälte ich mich schließlich aus den völlig durcheinandergewirbelten Laken meiner Eroberung und tigerte kreuz und quer durch sein winziges Zimmer, um meine Klamotten zusammenzusuchen. Ciarán lebte noch in seinem Elternhaus – ein Umstand, den ich zuhause für einen 34-jährigen Mann als absolut inakzeptabel befunden hätte. Hier draußen im irischen Outback war das jedoch eher die Norm als die Ausnahme. Kinder, insbesondere Söhne, bequemten sich meist erst für eine zeitnahe Ehepartnerin unter ‚Mammy’s‘ Fittichen heraus. Da Ciarán neben seinem Job im Pub auch den Hof mitführte, machte es schon fast Sinn, dass er sich inmitten der Relikte seiner Kindheit irgendwie arrangiert hatte.

Amüsiert musterte ich die verstaubten Rugby-Medaillen, die an vergilbten Bändern von seiner Wand baumelten. Daneben hing ein zerknittertes Nirvana-Poster. Kurt Cobain, die Gitarre auf dem Schoß, genüsslich an einer Zigarette ziehend, in schwarz-weiß. Vorzeigeathlet trifft auf Möchtegern-Rockstar. Ciarán stieg in seine Jeans, zurrte den Gürtel fest und trat von hinten an mich heran. Er nahm mich in den Arm. „Thanks for staying, beautiful“, raunte er und drückte mir einen Kuss auf die Wange. Ich ließ mich kaum merklich gegen seine Brust sinken und genoss für einen Moment das fast übelkeitserregende Glühen in der Magengegend, das von seinen Berührungen ausgelöst wurde. Die Aufregung einer neuen Liebelei. Dann löste ich mich aus seinem Griff und küsste ihn hastig auf die Lippen. „Ich muss los, kannst du mich nach Allihies fahren?“, fragte ich und bändigte notdürftig meine zerzausten Haare zu einem wilden Knäuel im Nacken.


Ciarán setzte mich in der Ortsmitte ab. „Bis bald“, flötete ich und knallte die Autotür zu. Keine Zeit für Schwärmereien. Ich musste mich beeilen. Damien und ich wollten noch den Gartenzaun vor der Galerie streichen. Eilig marschierte ich die schmale Straße hinauf, vorbei am Pub und an dem kleinen Café, in dem ich mich an regnerischen Tagen so gern verkroch. Während ich durch den Ort spurtete, hörte ich Neles Nachricht nochmal ab. Ich schaute auf die Uhr. Zehn Minuten hatte ich noch Zeit, um mir den Sexgeruch von der Haut zu duschen, mich regenfest anzuziehen und die Pinsel aus dem chaotischen Nebenraum in unserem Cottage zu kramen. Genug Zeit, um auch noch zu antworten, dachte ich schulterzuckend und drückte den Aufnahmebutton.

Emma meldet sich bei Nele

Unschlüssig ließ ich den Button los, die Nachricht sendete. Sollte ich Nele von der Nacht mit Ciarán erzählen? Sie war seit unglaublichen zwölf Jahren mit Anton zusammen, hatte ihren sprichwörtlichen Deckel gleich beim ersten Versuch gefunden. Ich mochte Ciarán, ich fand ihn definitiv sexy, aber die großen Gefühle waren mit Sicherheit noch nicht im Spiel. Für den Moment ging es vor allem um körperliche Anziehung. Ob sich diese beiden Entwürfe von zwischenmenschlichen Beziehungen vertrugen…

Na, erzählt sie’s oder erzählt sie’s nicht?

Ich spurtete durch die alte Holztür unseres Häuschens, von der die rote Farbe in großen Fetzen abblätterte, kickte die Schuhe in die Ecke und sprang in Windeseile unter die Dusche. Ich wunderte mich ein wenig, dass ich Nele den interessantesten Teil des Dates unterschlagen hatte. Offenbar traute ich der Mutter einer zweijährigen Tochter nicht zu, dass sie hemmungslosen Sex im Kinderzimmer eines 34-jährigen Schafbauern gutheißen würde. Blitzschnell rubbelte ich mich trocken und schlüpfte in die ältesten Klamotten, die ich hatte. Während ich mich mit spitzen Zehen in meine Gummistiefel stieg, versuchte ich, meine vorurteilsbeladenen Gedanken zu zerstreuen. Ich würde es ihr schon noch alles ausführlich erzählen. Irgendwann. 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert