Kapitel 10

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Kapitel

Nele

Nele an Emma

Ich ließ den Aufnahme-Button los und WhatsApp sendete. Feierabend. Freja war heute total fertig gewesen – verständlich natürlich. Weil es Anton auch nicht so gut ging, war er mit ihr zuhause geblieben. Am Nachmittag hatte Anton dann allerdings Fieber bekommen. Ich war als Freja-Betreuung eingesprungen. Aber jetzt war sie im Bett. Hoffentlich ging das nicht wieder los mit der Kotzerei. Aber wenn Freja doch mal krank wurde, war sie in der Regel am übernächsten Tag wieder topfit. Die Hoffnung blieb also. Bei Anton war ich mir allerdings nicht so sicher.

Ich ließ den Blick schweifen. Das Wohnzimmer sah fürchterlich aus. In unserem Bestreben, Freja zu beschäftigen, hatten Anton und ich alle Register gezogen. Dass fast Dreijährige aber auch niemals einfach im Bett liegen konnten. Krankheit bedeutete nur eins: potentiell schlechte Laune. Also nichts wie her mit den Ablenkungen. Der Wasserfarbkasten balancierte auf einem Haufen Puzzle, die alle durcheinandergeraten waren. Zeitungspapier bedeckte den Boden und ein paar traurige Stöckchen, halb angemalt, lagen überall herum. Anton wollte damit unsere verschiedenen Tomatensorten markieren. Vor allem reihten sie sich ein in Frejas Beschäftigungs-Wunderkasten. Genau wie die Holzeisenbahn, ein Sammelsurium aus Nüssen und trockenen Nudeln, die neben den Holzklötzen Frejas Kaufladen bewohnten und jetzt auf dem Boden verteilt waren, weil Freja „gekocht“ hatte. Puppenkleider flogen herum, genau wie jede Menge Papierschnipsel, weil Freja jetzt die Schere bedienen konnte. Dicke Buntstifte rollten über den Boden, benutzte Taschentücher füllten die Lücken im Bodenbelag. In der Mitte thronte die Kotzschüssel für alle Fälle. Zwischen zwei Sesseln hatten wir mit einer Decke eine Höhle gebaut. Frejas Haus. Darin wurde nicht nur Essen zubereitet, sondern auch eingekauft, Post entgegengenommen und Aufträge erteilt. Mir kam Peter Fox in den Sinn: „Ist mir egal, ich kann nicht mit dem Dreck und ohne kann ich auch nicht. Bin gut drauf wie ne Horde Kinder ohne Aufsicht.“ Ich musste schmunzeln. Irgendwie war mir das Chaos heute egal.

Es war noch zu früh zum Schlafengehen und Lesen mochte ich weiß Gott nicht schon wieder. Ich verbachte ohnehin jede freie Minute hinter einem Einband. Meistens mit Stift in der Hand. Und Harry Potter konnte ich auch nicht mehr sehen. Okay, ich hatte alle sieben Bände durch. Mal wieder. Jetzt musste erst einmal ein wenig Zeit verstreichen, bis ich wieder zum Stein der Weisen griff. Was gab es noch? Netflix ohne Anton machte irgendwie keinen Spaß. Fernsehen hatten wir nicht. Und Emma hatte ich schon über Gebühr genervt. Ausgehen war nicht drin. Erstens: zu kurzfristig. Zweitens: mit krankem Kind und Mann unverantwortlich. Telefonieren? Um die Zeit war meine Schwester donnerstags beim Yoga. Mh. Aufräumen? Dazu fühlte ich mich dann doch nicht in der Lage. Ich hatte doch Feierabend!

Ich stakste vorsichtig über den bedeckten Dielenboden. Es knarzte vertraut. Meine Füße trugen mich zum Klavier, fast unsichtbar zwischen Kaufladen und Sessel-Höhle eingezwängt. Von mir selbst irritiert trommelte ich auf der Abdeckung herum – wann hatte ich das letzte Mal gespielt? Plötzlich entschlossen räumte ich einen Elefanten mit Nasenring, der vibriert, wenn man am Rüssel zieht, aus dem Weg und setzte mich auf den Hocker. Der Deckel des Klaviers war ziemlich verstaubt und ich wedelte ein paar Spinnweben davon, bevor ich die Abdeckung anhob. Meine Oma hatte gern Klavier gespielt. Sie hatte oft erzählt, dass sie als junges Mädchen aufgetreten war. Wo, hatte ich vergessen. Ich konnte mich vage erinnern, dass sie ab und zu den Deckel hochgeklappt und ein Lied angestimmt hatte. Was, wusste ich nicht mehr.

Meine Finger strichen über die kühlen Tasten und spielten wie von selbst eine kleine Melodie. Ich war überrascht, dass ich nach all den Jahren noch etwas zustande brachte. Suchend schaute ich mich nach Noten um und kramte aus einer alten Zeitungsbox ein paar an den Rändern vergilbte Seiten. Think of me. Ich glättete die zerknitterten Blätter und stellte sie auf das Notenpult. Probeweise spielte ich die ersten Töne und war erneut verblüfft: Meine Finger kannten noch die meisten Abläufe und flogen über die Tasten. Das Klavier war ziemlich verstimmt. Aber ich fand es so gerade besonders schön. Ich musste schlucken. Musik war so wunderbar. In meinen Augen sammelten sich Tränen. Ich blinzelte durch den Schleier und versuchte, die Noten in Melodien umzusetzen. Recall those days, look back on all those times, think of the things we’ll never do. Meine Finger tasteten sich voran bis zum letzten Akkord. But please promise me that sometimes you will think of me. Mittlerweile waren alle Dämme gebrochen und ich flennte einfach nur hemmungslos. Krass, was so ein bisschen Klavierspielen auslösen konnte! Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie sehr ich es vermisst hatte.


Emma
„Urghs, Norovirus“, dachte ich angewidert und nahm einen Schluck von meinem Cider. Das war er, einer dieser Momente. Wenn sich die leise, aber beharrliche Sehnsucht nach einer eigenen kleinen Familie wegduckte und ich mein kinder- und seit neuestem partnerloses Dasein plötzlich ungemein schätzte. Ich saß am berühmten ‚Salthill Prom‘ von Galway in einem kleinen Pub direkt an der langen Promenade und hatte tatsächlich gerade Ishiguros Never let me go zu Ende gelesen. Eine Geschichte über menschliche Ersatzteillager, die sich einem vorgefertigten Lebensweg fügen mussten. Ich öffnete Neles E-Mail auf meinem Handy und lud das angehängte Word-Dokument herunter. Einen Dissertationstext auf dem Smartphone zu lesen war noch qualvoller als sowieso schon, aber ich war neugierig, welche Gedanken sich die Literaturexpertin unseres Freundeskreises dazu gemacht hatte.

Ich las ein paar Zeilen und blieb direkt am Ende des ersten Absatzes hängen: „Place (…) shapes and constraints the stories that are told, or, indeed, that could be told. (Bruner, „Life as Narrative“ 703)” Nachdenklich hob ich mein Pint wieder an die Lippen und stellte es ab, ohne zu trinken. Ich blickte aus dem Fenster. Das verpönte irische Wetter war mir gnädig gestimmt. Seit ich vor drei Tagen gelandet war, zeigte sich der Himmel wolkenlos und die Temperaturen kletterten auf bis zu 16 Grad. Eine leichte Brise warf übermütige, kleine Wellen gegen die felsige Abgrenzung der Promenade. Es wimmelte vor viel zu luftig gekleideter Sonnenanbeter*innen. Familien mit kleinen Kindern, eine Gruppe Teenager, vielleicht vierzehn Jahre alt, ein älteres Pärchen – sie alle hatten vermutlich ganz tief im Kleiderschrank gewühlt und ihre kaum getragenen Shorts, T-Shirts und Sandalen hervorgekramt. Frühling in Irland.

Ich grübelte weiter. Orte bestimmten also die Geschichten, die geschehen konnten, zogen Grenzen, gaben einen Kontext vor. So hatte ich das noch nie gesehen. Im Gegensatz zu den Figuren in Never Let Me Go war der Ort, an dem ich mich befand, für mich nicht festgeschrieben. Ganz im Gegenteil: Jetzt, wo ich den Roman fertiggelesen hatte, gingen mir die Ausreden aus, um darüber nachzudenken, wohin zur Hölle ich eigentlich wollte und was ich dann dort tun würde. Ich konnte gehen, wohin ich wollte. Die Insel, genau genommen die ganze Welt, standen mir offen. Wieder spürte ich, wie ich einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung meines bisherigen Lebensentwurfs ging. „Und Neles aktuellem Lebensentwurf“, schoss es mir durch den Kopf. Seit sie ihr Elternhaus übernommen hatte, war sie ‚verortet‘. Alle weiteren Ereignisse, oder auch Geschichten, in ihrem und Antons Leben würden sich um diesen Ort herum entwickeln. Sie hatte ein richtiges Zuhause. Ich nippte an meinem Cider, unsicher, ob ich das beneidenswert oder einengend fand.

Die Tür des Pubs öffnete sich quietschend und ein schmaler, junger Mann mit Brille und Pferdeschwanz kam herein, sah sich kurz um und lief dann zielstrebig zu einem Tisch am Fenster, wo bereits zwei Frauen und ein weiterer Typ, alle ungefähr in meinem Alter, saßen. Es gab ein großes ‚Hallo‘, der Gute hatte es wohl entgegen aller Erwartungen überraschend doch geschafft. Vielleicht war er in der Arbeit aufgehalten worden, hatte schon abgesagt. Aber jetzt war er da. Er erinnerte mich an Jonathan. Während ich die Gruppe von meinem einsamen Tischchen in der Ecke beobachtete, wurde mir zum ersten Mal klar, dass ich allein war. Allein auf Reisen. Das hatte ich noch nie gemacht. Australien, Japan, Mexico – ich hatte schon einige Ecken der Welt gesehen, aber immer in Begleitung von Freund*innen. Jetzt saß ich da mit meinem einsamen Pint. Vogelfrei und verloren zugleich.

Gedankenverloren verkroch ich mich hinter meinem Irland-Reiseführer und blätterte ziellos darin herum. Irgendwie war mir nicht nach Stadtleben. „Back to the roots“, dachte ich. Raus aufs Land. Ich drehte eine weitere Seite um und stockte. Ein großes Foto zeigte eine dramatische Küstenlandschaft. Knorrige Felsen, brausende Wellen, ein endloser grüner Hügelteppich. Eine enge Straße passte sich bereitwillig an die störrischen Buchten der Halbinsel an. Der Ring of Beara unten im Südwesten. Kerry. Kurzentschlossen nahm ich mein Handy zur Hand und rief workaway auf, eine Webseite für Freiwilligenarbeit. Menschen, die Hilfe mit Kinderbetreuung, Farmarbeit oder was auch immer brauchten, trafen auf Reisende, die bereit waren, ein paar Stunden am Tag auszuhelfen. Dafür gab’s in der Regel Kost und Logis. Noch in Deutschland hatte ich mich registriert, jetzt machte ich mich auf die Suche nach meinem ersten ‚Host‘. Nach wenigen Minuten wurde ich fündig. Ein Künstlerpaar auf eben jenem Ring of Beara suchte jemanden, der es beim Einrichten seiner neuen Galerie mit Café unterstützen würde. Mit flinken Fingern formulierte ich eine Nachricht an die beiden, versuchte möglichst freundlich und enthusiastisch zu wirken, und schickte ab. Ich spürte ein leichtes Flattern in der Magengegend. Meine Irland-Story hatte begonnen.


Nele

Emma erzählt Nele von ihrem ersten Ziel in Irland

Ich zupfte die Kopfhörer aus den Ohrmuscheln und schaute mich suchend nach Freja um. Sie war gerade darauf konzentriert, Sand mit einer gelben Plastik-Eiswaffel in ein rotes Flugzeugförmchen zu schaufeln. Ein Sammelsurium an weiteren bunten Plastikbehältern wartete noch darauf, befüllt zu werden. Wir hatten heute ausnahmsweise mal an die Sandelsachen gedacht. Yay. Ich wandte mich wieder meinem Smartphone zu. Emma war online. Sollte ich sie anrufen? Aber die Gefahr, jederzeit unterbrochen zu werden, machte die Vorstellung unbequem. Und wozu hatten wir so schlaue Geräte?

Nele auf dem Spielplatz

Freja war vom Bauch abwärts von einer feuchten Sandschicht bedeckt. Die Matschhose hatten wir natürlich wieder vergessen. Genau wie Wechselkleidung. „Da ist der Fail“, dachte ich. Allerdings brachte das trübe Aprilwetter einen unschätzbaren Vorteil mit sich: Der Spielplatz war relativ leer. Keine Muttis mit Dinkelvollkorn-Brezelchen. Keine Omis mit Sakrotan-Tüchern. Nur wir und der Matsch. Freja bibberte. Ihre Hände, dick eingesandet, waren Eisflossen. Na super. Ihre Nase lief so stark, dass der Rotz schon über ihre Lippen geflossen war. Vom Norovirus zur Erkältung in unter drei Tagen. Gratulation, Mama. „Komm, meine Liebe“, seufzte ich. „Wir gehen nach Hause in die Badewanne.“ Auf dem Weg – Freja auf dem Arm, das Laufrad und die Sandsachen unbeholfen unter den Arm geklemmt – begegneten wir einer Mami, die ihr etwa zweijähriges Kind im besten Boogaboo zum Spielplatz fuhr. Das Kind war so dick eingepackt, dass die Arme mit den Fäustlingen unnatürlich vom Körper abstanden. Die beiden starrten uns an. Ich starrte wütend zurück. Mein Rücken ächzte unter der Last. Freja war super schwer. Ich setzte sie ab und bearbeitete sie fünf Minuten lang, ob sie nicht selbst laufen könne. Nope. Nach ein wenig Geschrei, viel Rotz und einigen interessierten Passanten, gab ich mich geschlagen – und ich nahm den Heimweg wieder auf. Gut, dass nächsten Montag wieder Yoga war.

Frejas Atem war tief und gleichmäßig. Kein Rasseln, kein Röcheln, kein Rotz. Sie hustete. Naja – fast. Ich lauschte ihr noch eine Weile und genoss die Ruhe. Es duftete schwach nach Frejas Shampoo und ihrem unverkennbaren Babygeruch. Sie strömte eine Art Schlafhormon aus, dass mir die Glieder ganz schwer wurden. Dazu mischte sich der Geruch von feuchter Schafswolle und süßer Honigmilch. In diesem kleinen Zimmerchen war die Welt in Ordnung. Scheinbar hatte die heiße Wanne wirklich ihren Sinn erfüllt. Freja war ganz friedlich gewesen zu Hause. Hatte sich anstandslos ausgezogen und in der Wanne brav mit ihren Entchen gespielt (und deren ekelhaften Ausstoß ins Wasser geblasen – Badeenten waren so mit das Unhygienischste, was man sich vorstellen konnte). Sie hatte sich sogar die Haare waschen und kämmen lassen ohne großes Brimborium. Hatte ihr Müsli aufgegessen, ihre Zähne putzen lassen und nach zwei Büchern zugelassen, dass ich das Licht ausmachte. Sie hatte mich an sich rangezogen, mich umklammert, mir einen dicken Knutscher auf die Wange gedrückt und gesagt: „Jetzt kannst du auch gut schlafen.“ Dann hatte sie sich an mich geschmiegt und war schließlich am Ende des zweiten Lieds („Misty Mountains“) eingeschlummert. Traumhaft.

Ich schälte mich vorsichtig unter der Decke hervor. Freja murmelte leise vor sich hin, atmete dann aber ruhig weiter. Meine Füße waren schon ganz kalt, weil sie unten rausgeguckt hatten. Auf Zehenspitzen tapste ich aus dem Zimmer und drückte vorsichtig die Tür ins Schloss. Klick. Aufatmen. Ich legte den Kopf in den Nacken und drückte die Schulterblätter zusammen. Es knackte. Dabei fiel mir ein, dass die Küche noch ein einziger Sauhaufen war. Ergeben trottete ich die knarzende Treppe hinunter. Bis ich das Gröbste abgespült, verräumt, gewischt und entsorgt hatte, war es schon wieder halb zehn. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mein Kapitel zu überarbeiten. Emma hatte mir ein paar Kommentare zurückgeschickt. Sie fand unter anderem verwirrend, wie ich den Begriff des Topos verwendete. Der Topos war bei mir das System der räumlichen Relationen im Roman, das hatte ich von Juri Lotman. Ich bezog Topos allerdings nicht nur auf die Orte, in denen sich die Figuren bewegten, sondern auch auf deren Fantasie- oder Sehnsuchtsorte. Nach dieser Logik konnten Orte, die weit voneinander entfernt lagen, im Text ganz nah aneinander rücken, getrennt nur durch ein paar Zeilen oder Zeichen. Im Grunde fand ich das gut, musste aber zugeben, dass das ganze Konzept von Raum, und Bewegung im Raum, dadurch schwammig wurde. Konnte ich das Problem heute lösen? Unwahrscheinlich.

Ich ließ mich aufs Sofa im Wohnzimmer plumpsen und starrte vor mich hin. Anton war noch immer bei der Arbeit. Mal wieder hatte ich keinen Antrieb, ein Buch in die Hand zu nehmen oder auf einen Bildschirm zu glotzen. Stattdessen richtete ich heute mein Augenmerk auf das Bücherregal – Ikea Typ Ivar. Geschätztes Alter: knapp 30 Jahre. Erstaunlich, wie lange es schon durchgehalten hatte. Mich beschlich der Verdacht, dass die Bücher und Fotoalben mit zur Stabilität beitrugen. Ich stand auf und zog wahllos ein Album mit rosa-grün geschecktem Einband heraus. Ich schlug es auf. 8. Buch für Lore und Nele.

Wie immer, wenn ich etwas in Händen hielt, das meine Mama geschrieben hatte, fühlte ich einen kleinen Stich. Das erste Bild zeigte mich mit meiner Schwester Lore, Hand in Hand vor dem geschmückten Weihnachtsbaum. 24. Dezember 1991. Ich schaute nochmal genau hin. Hinter den Zweigen lugte Ivar hervor. Meine Schwester und ich trugen beide fürchterliche Kleider, die wir ziemlich sicher von unserer Großtante aus Paris geschenkt bekommen hatten – der Versuch, sich für Heiligabend festlich herauszuputzen. Ich blätterte weiter. Unser Garten. Die Zäune, Wege und Beete nicht krumm und schief, sondern frisch angelegt. Mein Kinderzimmer. Gelbe Bettwäsche mit bunten Herzen. Der Teppich im Wohnzimmer, bevor meine Eltern den Dielenboden wieder freigelegt hatten. Meine Schwester, wie sie mich als Jungfrau Maria verkleidete. Unsere Gasse. Das Kopfsteinpflaster ungewohnt verfugt, jeder Stein fest verankert. Da: Ivar gefüllt mit Büchern und einem alten Röhrenfernseher.

Ich hob den Blick. Anstelle des Fernsehers prangte dort jetzt ein Flachbildschirm verbunden mit dem World Wide Web. Viel hatte sich nicht geändert. Die Sofas waren damals nigelnagelneu gewesen. Statt verknautscht sahen sie straff aus und waren ein paar Nuancen heller. Meine Oma und mein Opa! Erstaunlich, die beiden hatten bis zuletzt so ausgesehen, wie auf dem alten Foto. Ich, wie ich Omas Lippenstift ausprobierte. Wie alt war ich da? Ich rechnete kurz nach. Ich musste in etwa in Frejas Alter sein. Ich starrte mein junges Ich an und versuchte, Ähnlichkeiten zu entdecken. Das Grinsen. Die Augenpartie. Ich fand einen Eintrag meiner Mama: Liebe Nele! Du hast viel Charme aber des Öfteren bist Du mit deinen 2 ½ auch umwerfend eigensinnig! Da, wieder dieser kleine Stich.

Es war schon merkwürdig, wie sich das Rad weiterdrehte. Vor nicht allzu langer Zeit, war ich es, die im Garten im Sandkasten buddelte. Und es war meine Mama, die versuchte, in Bildern einzufangen, wie ihre Töchter Tag für Tag größer wurden. Sie selbst war nur selten im Bild – hatte sich nur dadurch verewigt, von ihrem Gegenüber angestrahlt zu werden, wenn sie den Auslöser drückte. Hatte den Farbfilm zum Entwickeln gebracht, jedes Bild mit Prittstift aufgeklebt. Und hier und da kommentiert. Hatte die Historie unseres Familienlebens in zwanzig dicken Bänden festgehalten. Und nun war es an ihren Töchtern, etwas zurückzugeben. Etwas von ihr in die Welt zu tragen. Mein Blick schweifte über die Wände, die sie mit roten Lilien verziert hatte. Über die Bilderrahmen, in denen sie einige unserer schönsten Werke ausgestellt hatte. Über die Tonfiguren und Vasen, die sie auf den freigelegten Eichenbalken arrangiert hatte. Alles ihr Werk.

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