Kapitel 8

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Kapitel

Nele

Sex war einfach immer eine gute Idee. Ich lag auf dem Sofa und war einfach zufrieden. Drei Stunden vorher hatte Freja einen Zwergenaufstand am Abendbrottisch gewagt und ich hatte sie unzeremoniell ins Bett verfrachtet, ohne selbst einen Bissen gegessen zu haben. Als ich blinzelnd gegen das grelle Licht die Treppe runterstolperte, kam Anton gerade erschöpft von der Arbeit. Ein Bauherren-Ehepaar ging ihm gerade besonders auf die Nerven, weil es beratungsresistent war und immer in letzter Sekunde alle sorgsam durchdachten Pläne wieder über den Haufen warf. Wir ließen uns gemeinsam auf das zu enge Sofa plumpsen und erzählten uns Kopf an Kopf von unserem jeweiligen Tag. Mein vormittägliches Ringen mit Kognitiver Narratologie und die nachmittäglichen Kämpfe mit Freja inklusive deren missglückte Kacka-Pipi-Versuche. Seine Stories von besagten Bauherren, die ihr Geld besser in eine psychotherapeutische Eheberatung gesteckt hätten als in ein Architekturbüro. Nachdem der erste Frust von der Seele war, schwiegen wir uns gemütlich eine Weile an. „Ich hab’ Hunger“, stellte ich fest. Anton grinste mich an. „Wir haben noch Fischstäbchen im Eisfach!“ Guilty pleasures. Wir produzierten eine Wagenladung Fischstäbchen mit Ketchup und Mayo. Geil. Im Eisfach entdeckten wir auch noch eine vergessene halbe Schale Vanilleeis, noch vom Weihnachtsessen. Megageil. Ich kratzte gut einen Zentimeter Eiskristalle ins Spülbecken, füllte großzügig zwei Müslischalen und schnippelte eine etwas angemackerte Banane darüber. Anton schmolz eine halbe Tafel Bitterschokolade, die er geschenkt bekommen hatte und die niemand mochte. Banana-Split. Hammergeil. Wir schauten eine Folge Dr. Who und vernichteten dabei unsere Beute. Dann verkeilten wir unsere Extremitäten zu einem großen Knäul und ließen Netflix die nächste Folge abspielen. Der perfekte Freitagabend. Nach der Hälfte der Folge befreite ich mich aus dem Knoten und verschwand kurz ins Bad.

Als ich zurückkehrte war Anton nackt. Ich musste so lachen, dass ich beinahe die Treppe wieder hinten runtergefallen wäre. Er grinste verlegen und hob entschuldigend die Schultern. Tja. Und dann hatten wir einfach richtig schönen Sex. Es lohnte sich immer und ich wunderte mich jedes Mal, dass wir nicht öfter auf die Idee kamen. Jetzt hatte ich mir Antons viel zu großen Bademantel übergeworfen und mich mit einem Buch auf das Sofa gekuschelt. Anton zockte in seinem Zimmer. Ich kontrollierte reflexartig mein Handy. 22:41 leuchtete es mir entgegen. Noch immer recht früh. Ich drückte mich glücklich noch ein bisschen tiefer in die Kissen und schlug mein Buch auf. Harry Potter. Zur Feier des Tages. Ich konnte dieses ganze Literaturzeugs ja nicht auch noch in meiner Freizeit lesen. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich ein Blinken. Eine Nachricht. Ferngesteuert griff ich zum Handy. Emma.

Wir tauschten noch eine Weile Belanglosigkeiten und den neuesten Tratsch aus, dann wünschten wir uns eine gute Nacht. Das Handy vibrierte. 23:45. Ich hatte irgendeinem Mechanismus im Telefon gesagt, dass das meine Schlafenszeit war. „Don’t judge me“, murmelte ich und ließ mich noch ein wenig tiefer ins Sofa sinken. Emma konnte einem echt leidtun. Sollte sie doch nach Irland fahren. Die Idee hatte was. Eine Weile sann ich über die paar wilden Tage nach, die wir gemeinsam dort verbracht hatten. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Herber Whiskey und eiskalter Atlantik. Durchtanzte Partynächte und eine lange Wanderung an den Klippen, mit schneidendem Wind in den Haaren. Boah, ich hatte auch Lust, mal wieder da hinzufahren. Ich vergrub mich unter meiner etwas muffigen Alpakadecke. Irgendwann demnächst. Bald.


Emma

Haja, wieso nicht. Ich legte das Handy aus der Hand und blies die Backen auf. Mein halb leerer Thai-Curry-Teller stand verlassen neben dem Klippenfoto auf dem Nachttisch und hüllte mein Zimmer in einen sanften Kokosmilchdunst. Ich konnte nicht glauben, dass ich den Gedanken an Irland nicht sofort weggefegt hatte. Ihn sogar in einer Whatsapp-Nachricht an Nele formuliert und ihm damit offiziell eine Daseinsberechtigung erteilt hatte. Irland, mein “Sehnsuchtsland” wie Rosamunde Pilcher es vermutlich ausdrücken würde. Vor sieben Jahren hatte ich ein Semester lang in Dublin studiert. Ok, „studiert“. Um ehrlich zu sein, sah ich das University College Dublin nur sporadisch von innen – außer, um zweimal die Woche beim schnuckeligen Cathal aus Galway Irisch zu lernen. Die paar Fetzen, die hängen blieben, beeindruckten wiederum andere schnuckelige Iren auf unseren ausgedehnten, Smithwicks-schweren Touren entlang der Dubliner Camden Street, wo sich ein Pub ans andere reihte. Neben den durchzechten Nächten an der Seite bärtiger Rugby-Spieler bestand mein Auslandssemester vor allem aus Schlafen und Friends schauen. Meine Tage begannen selten vor 12 Uhr mittags, der universitäre Lerneffekt war minimal. Ob das nun die persönlichkeitsbildende Erasmus-Erfahrung war, die meine Eltern und Professor*innen erwarteten, sei dahingestellt. Fakt war, dass ich in diesen sechs Monaten in Dublin, einer Hauptstadt, die sich anfühlte wie ein Dorf in zu großen Schuhen, mein Herz an Irland verlor. Immer wieder kehrte ich für Urlaube zurück, fuhr mit Nele und Charlotte die Westküste entlang, verbrachte ein Wochenende mit Alexander in Belfast, spazierte mit meiner Schwester die Grafton Street in Dublin entlang und schwelgte gemeinsam in Erinnerungen. Auch sie hatte Jahre vor mir einige Monate in der Stadt verbracht. Irland, unser “Sehnsuchtsland”.

Ich ließ mich auf den Rücken fallen und starrte an die Decke. Einatmen. Ausatmen. Vorsichtig ließ ich zu, dass sich der Gedanke erneut in meinem Kopf formte: „Ich will zurück nach Irland.“ Ich spürte ein freudiges Prickeln in der Magengegend. Die Idee schien glasklar. Die einzige logische Konsequenz. Abgesehen davon, dass sie nicht unlogischer sein konnte. Ich würde befördert werden, war dabei, meine Karriere voranzutreiben. Und meine Beziehung. Alexander und ich hatten eine Wohnung gefunden. Potenziell zumindest. Auf eine Insel am Rande Europas abzuhauen war in dieser Situation nicht unbedingt sinnvoll. Ich setzte mich wieder auf, machte das Handy an und las noch einmal Neles Nachrichten. Ich find’s gut. Ich besuch‘ dich in Irland. Ich bezweifelte, dass ihr Ratschlag durchdacht gewesen war. Dass ihr klar war, was ich alles aufgeben müsste, um das durchzuziehen. Ich wusste es ja selbst noch nicht. Und trotzdem. Die Leichtigkeit, die Selbstverständlichkeit ihrer Nachricht – Ich besuch‘ dich – ließen die Idee realistisch erscheinen. Machbar.

Ich schälte mich aus dem Bett und lief hinüber zu meinem Regal in der Ecke, das als unerbittliches Schandmahl jeden, der es nicht eh schon wusste, darauf aufmerksam machte, wie unordentlich ich sein konnte. Auf den oberen beiden Brettern mischten sich wild Bücher und DVDs. Mein Blick fiel auf die zahlreichen Staffelboxen verschiedener amerikanischer Sitcoms. Von How I met your Mother bis Gilmore Girls – Serien, die ich jetzt auf Netflix schaute. Alexander hatte Recht, mal wieder. Ich war wirklich nicht besonders abenteuerlustig, was mein Entertainmentprogramm anging. Bis vor nicht allzu langer Zeit schleppte mich Alex regelmäßig ins Kino. Wollte meinen Horizont erweitern. Tatsächlich war ich ihm dankbar dafür. Ich hatte einen Bachelor-Abschluss in Medien- und Filmwissenschaft, kannte aber die wichtigsten Klassiker der Filmgeschichte nicht. Das Schweigen der Lämmer, zum Beispiel, nie gesehen. Genauso wenig wie Pulp Fiction oder Star Wars. Dafür hatte ich im Grundstudium ein Semester lang Apocalypse Now von vorne bis hinten durchanalysiert. In Redux-Version. Ich musste kurz lachen, als ich mich daran erinnerte, wie Nele und ich an einem herrlichen Sommernachmittag stundenlang in der abgedunkelten Bude unseres Kommilitonen Olli festgesessen waren, eingehüllt von dichten Marihuana-Schwaden, und verzweifelt versuchten, mit ihm ein sinnvolles Handout für unser Referat zusammenzustellen. Thema: „Psychedelik in Apocalypse Now: Die Rolle von Wahn und Wahnsinn in der Figurengestaltung“. Nele und ich hatten keinen blassen Schimmer, worauf der Dozent dabei hinauswollte. Olli fabulierte ununterbrochen vor sich hin, den Joint fest zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt, und gestikulierte wissend mit beiden Händen, während er sprach. Er war überzeugt, dass er das Thema voll erfasst hatte. Er war ja auch angehender Regisseur. Da fällt es eben leicht, einen Film auf eine andere Ebene zu heben. Diese wunderbare Kunst. Irgendwann ergaben Nele und ich uns unserem Schicksal und rauchten einfach mit. Arbeiteten an unserer eigenen Psychedelik, anstatt der von Apocalypse Now.

Kopfschüttelnd wendete ich mich dem dritten Regalbrett zu. Neben einem weißen Korb, in dem sich sämtliches Papierzeug von Geburtstagskarten bis Gehaltsabrechnungen ineinander verkeilten, fand ich einen Notizblock. Wie immer, wenn ich etwas durchdenken wollte, musste ich eine Liste machen. Selbst wenn diese nur zwei Punkte haben würde – ich musste diese vor mir sehen, um mich ordnen zu können. Ich ging zum Schreibtisch und wühlte unter einem Berg ungelesener Zeitungen nach einem Kugelschreiber. Noch so ein Mahnmal. Sorgfältig gefaltete Ausgaben der Süddeutschen, die bewiesen, dass ich gerne eine Version meiner selbst erschaffen würde, die bestens informiert war über Politik und Weltgeschehen. So wie Charlotte. Und Jonathan. Aber ich kam einfach nicht zum Lesen, obwohl ich eh schon nur die Wochenendausgaben bekam. Mit Stift und Block bewaffnet setzte ich mich schließlich zurück auf mein Bett. Die Knie angewinkelt, den Rücken an die Wand gelehnt, begann ich zu schreiben. Überschrift: „Irland“. Sehr kreativ. Ich steckte mir den Kuli zwischen die Zähne und überlegte. Wenn, dann würde das mehr als eine einwöchige Urlaubsreise werden. Ich notierte:

  • Job kündigen (?)
  • WG (?)
  • Auto
  • Alexander….(?)

Da war es. Mein Leben in vier Stichpunkten. Ich schloss die Augen und stellte mir das Unvorstellbare vor. Was, wenn ich alles aufgebe? Wieder überraschte ich mich selbst. Ich fühlte mich als hätte ich nach langem Suchen endlich das richtige Puzzleteil gefunden. Das passt.

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