Emma
„Emma, Rainer will dich sprechen.“ Linda wieder, die Büroassistentin. Nicht schon wieder, dachte ich und wappnete mich für einen weiteren Sturm selbst auferlegten Wahnsinns. Drei wunderbare Tage lang hatte ich das Gefühl gehabt, meine To-Do-Liste unter Kontrolle zu haben. Keiner der aufgeführten Punkte machte Sperenzchen, alle saßen brav an Ort und Stelle und warteten geduldig darauf, abgehakt zu werden. Die Wichtigsten ganz oben, die mittel-wichtigen darunter und ganz unten all die armen Aufgaben, die seit Monaten vor sich hinwaberten und allmählich unangenehm faulig zu riechen begannen. Ich lief den Gang entlang und betrachtete eingängig den anthrazitfarbenen Teppich. Ein bleiernes Band ins Verderben, dachte ich.
Zu meiner Überraschung war Rainer bester Laune, als ich sein Büro betrat. Er strahlte mich an: „Da ist sie ja, mein bestes Pferd im Stall!“ Ich lachte unsicher. „Was ist denn mit dir los?“, fragte ich verwirrt. Wir setzten uns in seine Sofaecke, die immer so tat als wäre ein Meeting informell, aber gleichzeitig eine unbiegsame Autorität ausstrahlte. Ich strich mit der Hand kurz über die kalte, schwarze Oberfläche meines Sitzpolsters und legte sie dann in meinem Schoß ab.
„Du hast super Arbeit geleistet, du weißt schon, mit dem Event“, begann Rainer, während er mir ein Glas Wasser reichte. „Ich hatte gerade ein Feedbackgespräch dazu mit unserem Kunden. Sie hätten dich gerne als Hauptansprechpartnerin, Emma. Key Account. Ich kann dich zur Teamleitung machen.“ Ich sah ihn überrascht an. Damit hätte ich nicht gerechnet – nicht nach den vielen Momenten der letzten Wochen, in denen die Welt gefühlt der sicheren Apokalypse entgegensteuerte, weil der neue Veranstaltungsort keine Stehtische mit Hussen in der korrekten Farbe des „Corporate Designs“ zur Verfügung stellen konnte oder das Zitat in der Pressemitteilung, das auf Deutsch für hervorragend befunden wurde, auf Englisch plötzlich nicht mehr zusagte. „Ist das dein Ernst?“, fragte ich. Rainer lächelte. „Du hast bewiesen, dass du mit schwierigen Situationen klarkommst. Du hast dir den Arsch aufgerissen – und harte Arbeit zahlt sich aus.“
Ich lauschte in mich hinein und wartete darauf, dass ich mich zu freuen begann. Das waren gute Neuigkeiten. Ich hatte mir den Arsch aufgerissen – und jetzt ging meine Karriere in die nächste Phase. So sollte es sein. Key Account klang gut, nach Erfolg und Gehaltserhöhung. „Was denkst du, Emma? Das ist doch genial, oder?“ Rainer war euphorisch. „Ich weiß, das ist unser schwierigster Kunde, aber wenn du das ein Jahr lang durchhältst, stehen dir alle Türen offen. Garantiert.“ Ein Jahr. Ein Jahr, und dann stehen alle Türen offen. Fragte sich nur, wohin die führen würden. Ich gab die Warterei auf mein eigenes Glücksgefühl auf. „Ob ich mir das antun soll?“ Mit einem hölzernen „Haha“ signalisierte ich halbherzig, dass ich nur witzelte.
Rainers Gesichtsausdruck wurde ernst. Er zog die Augenbrauen zusammen und schaute mich eindringlich an, beugte sich sogar ein wenig vor. „Alles in Ordnung, Emma? Freut dich das gar nicht?“ Ich wand mich innerlich. Ich war krankhaft harmoniebedürftig, hasste es, zu widersprechen. „Doch, klar freue ich mich über das positive Feedback“, sagte ich zögernd mit einer kurzen Pause zwischen ‚mich‘ und ‚über‘. „Aber?“, fragte Rainer. „Ähm…“ Ich versuchte, Zeit zu gewinnen und wusste nicht genau, wofür. Natürlich freute ich mich. Wie sollte man sonst eine Beförderung aufnehmen? Ich hob den Kopf, um Rainer anzulächeln. Die kleine Bewegung strengte mich an. Mir war es noch nicht gelungen, die Schwere loszuwerden, die der Stress des Veranstaltungsprojekts auf meinen Kopf gelegt hatte. „Nee, klar, das ist super“, sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihm. „Ich bin wohl einfach ein bisschen urlaubsreif.“ Rainer nickte verständnisvoll. Mit dieser Aussage konnte er etwas anfangen. Urlaubsreif zu sein war schick im Agenturumfeld. Wer Urlaub brauchte, hatte viel Stress gehabt. Wer viel Stress hatte, arbeitete viel und wer viel arbeitete, war offensichtlich wichtig. Die Formel funktionierte – Hauptsache, man kam nicht auf die Idee, tatsächlich Urlaub zu nehmen. „Pass‘ auf“, sagte Rainer, wieder voller Elan. „Geh‘ ins Wochenende und denk‘ darüber nach. Du musst das natürlich nicht machen, du kannst auf deiner aktuellen Stelle bleiben. Überleg‘ dir in Ruhe, was du willst – und wir reden am Montag darüber.“ Erleichtert verließ ich sein Büro. Ich hatte Zeit gewonnen. Jetzt musste ich nur noch rausfinden, wofür ich die brauchte.
„Und was machen Sie beruflich, Frau Lorenz?“ Die Immobilienmaklerin lächelte mich freundlich an und umklammerte bestimmt ihr Klemmbrett mit der einen Hand, den Kulli in der anderen gezückt. „Ich arbeite in einer PR-Agentur, unbefristeter Vertrag“, antwortete ich brav. Überleg‘ dir in Ruhe, was du willst. Das Gespräch mit Rainer klang mir noch in den Ohren, aber ich zwang mich, mich auf die Dame mittleren Alters mit den krausen, braunen Locken zu konzentrieren. Kaum hatte ich das Büro meines Chefs verlassen, hatte Alexander mich angerufen. Das tat er sonst nie während der Arbeit. Leicht beunruhigt war ich rangegangen. Hoffentlich war nichts passiert. „Emma, ich hab‘ eine Wohnung, die wir uns ansehen können“, rief er. Seine Stimme klang aufgekratzt. „Aber wenn, dann gleich heute Abend, hast du Zeit?“ Ich schluckte etwas überrumpelt. Plötzlich waren unsere Pläne keine digitale Fantasie auf irgendwelchen Immobilien-Webseiten mehr, sondern manifestierten sich konkret in einer Wohnung – die existierte, und frei war. „Hallo?“ Alexander wurde ungeduldig, klang nicht mehr freudig, sondern direkt wieder angenervt. Ich räusperte mich. „Klar hab ich Zeit, ich freu‘ mich“, sagte ich und war froh zu merken, dass das nicht gelogen war.
Und jetzt standen wir also da – in einer kahlen Wohnung, die unsere erste gemeinsame werden könnte. Drei Zimmer. Balkon. Alles da. Die Maklerin nickte zufrieden und notierte etwas auf ihrem Klemmbrett. Unbefristet angestellt, vermutete ich. „Schauen Sie sich ruhig noch mal in Ruhe um“, schlug sie vor. Ihren Namen hatte ich schon wieder vergessen. Frau Meyer. Oder Müller. Ich war so schlecht mit Namen. Grübelnd ließ ich den Blick schweifen. Vielleicht war’s auch Schmidt. „Wie findest du die Einbauküche?“ Alexander riss mich aus meinen Gedanken und marschierte voran in den benachbarten Raum. Die Küchenzeile wirkte, als würde sie auf keinen Fall Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen. Weiße Fronten aus billigem Holz. Schmale silberne Griffe an den Hängeschränken. Geschlossene Hängeschränke, so gar nicht schwedisch. Das hatten wir eigentlich nicht gewollt. „Passt doch, oder?“, meinte ich unbestimmt. Alexander zuckte die Schultern. „Ist halt nix besonderes, aber ist ok.“
Wir schlenderten weiter ins Schlafzimmer – klein, aber ausreichend. Es war, als würde die Wohnung präzise die Linie des Annehmbaren treffen. Ein perfekter Kompromiss. Ich stellte mich neben Alexander und strich ihm mit der Hand über den Rücken. „Wir könnten uns ein großes Bett kaufen“, meinte ich augenzwinkernd. Er lächelte mich kurz an, wurde dann aber wieder ernst: „Am besten mit zwei Matratzen, das ist besser für den Rücken.“ Da war sie wieder, die Matrix der Rationalität. Recht hatte er natürlich. Und trotzdem meldete sich wieder der winzige Stich zwischen meinen Rippen. Ich ignorierte sowohl den Stich als auch Alexander und ging zurück ins Wohnzimmer. Die Maklerin – ich hatte beschlossen, dass sie Frau Meyer hieß – empfing uns strahlend. „Na, ist das nicht eine tolle Wohnung für ein junges Paar?“ Ich fand es ein wenig seltsam, von uns selbst in der dritten Person zu sprechen, nickte aber freundlich und trat auf den geräumigen Balkon hinaus. Er ragte in den Hinterhof des Gebäudekomplexes. Eine alte Kastanie streckte ihre kahlen Äste fast bis ans Geländer. Die Abendsonne stemmte sich dagegen und warf lange, krakelige Schatten an die Hauswand. Hier war genug Platz für einen Tisch und zwei Stühle, vielleicht sogar eine Bank oder ein kleines Sofa. Der perfekte Platz zum Wein schlürfen, tratschen, lesen. Die Wohnung war schön, keine Frage.
„Und, was denkst du?“, fragte Alexander, als wir ins Auto stiegen. „Super“, antwortete ich und verdrehte die Augen über mich selbst. In letzter Zeit sagte ich ganz schön oft ‚super‘. „Besonders der Balkon hat mir gefallen“, fügte ich hastig hinzu. „Ja, und bezahlbar ist sie auch“, sagte Alex. Er drehte den Zündschlüssel und legte den Rückwärtsgang ein. „Ich bin mir nur nicht sicher“, begann er zu grübeln, während er aus der engen Parklücke am Straßenrand rangierte, „ob man wirklich gleich die erste Wohnung nehmen sollte, die man sich anschaut. Und gescheite Parkplätze gibt’s auch nicht.“ Ich verdrehte wieder die Augen, dieses Mal über ihn. Alexander fand immer ein Haar in der Suppe. Ich ließ ihn in Ruhe ausparken und sagte erstmal nichts.
Erst als wir auf die Autobahn auffuhren, hakte ich nach: „Warum sollten wir nicht die erste Wohnung nehmen, wenn sie uns doch gefällt?“ Er zuckte die Schultern. „Ich weiß auch nicht. Vielleicht gibt’s noch was Besseres.“ Schweigend fuhren wir zurück. Er setzte mich an meiner Wohnung ab. Normalerweise übernachteten wir am Wochenende beieinander, aber Alex wollte sich noch mit Arbeitskollegen treffen. „Am Montag müssen wir Bescheid geben, überleg’s dir halt“, sagte er, bevor ich ausstieg. Ich nickte. „Okay, danke, dass du das organisiert hast. Die Wohnung hat mir wirklich gut gefallen“, versicherte ich und beugte mich zu ihm. Etwas steif drehte sich Alexander zu mir und gab mir einen knappen Abschiedskuss. „Bis morgen!“, verabschiedete ich mich und kletterte aus dem Auto. Alex winkte und fuhr davon.
Ich seufzte. Die Wogen schienen geglättet zu sein. Alles verlief wieder nach Plan. Ich war erleichtert – glaubte ich zumindest. Die Schwere in meinem Kopf war inzwischen in die Magengegend gewandert und ließ sich nicht mehr richtig zuordnen. Ich beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken und sperrte die Haustür auf. Erstmal Abendessen, vielleicht waren die Mädels ja zu Hause. Ich malte mir schon aus, wie ich ihnen bei einem Teller Pasta von der Wohnung erzählen würde, als ich die Tür zu unserer WG öffnete und enttäuscht feststellte, dass das Ganglicht aus war. Niemand zuhause. Ich hängte meine Handtasche an die Garderobe, warf meine braune Lederjacke achtlos darüber und ging in die Küche, um meine Vorräte zu prüfen. Nichts da, nicht einmal Tomatensoße. Eine einsame Karotte lag in meinem ansonsten leergefegten Kühlschrankfach. Ich schnaubte. Also auch keine Pasta.
Schicksalsergeben griff ich zum Handy und rief beim Thai-Imbiss meines Vertrauens an. „Nummer 14 wie immer?“, fragte die freundliche Dame am anderen Ende der Leitung. „Ja, wie immer. Dankeschön“, murmelte ich und kramte schon mal nach meinem Geldbeutel. Das rote Chicken Curry war zwar kein Gourmetgenuss und ich wollte gar nicht wissen, welche antibiotikaverseuchten Kreaturen dafür ihr Leben hatten lassen müssen, aber dafür wurde es innerhalb von fünfzehn Minuten geliefert. Auf „Kim’s Asia Box“ war Verlass und ich wusste, wovon ich sprach. Etwa dreimal die Woche retteten mich meine unermüdlichen Freunde aus dem dampfenden Imbisswagen im Industriegebiet vor dem Hungertod, wenn sich im Büro mal wieder alle erfolgreich davon überzeugt hatten, dass absolut keine Zeit für Mittagspause war.
Gedankenverloren kaute ich auf einem gummiartigen Stück Hähnchen herum. Ich saß im Bett und ließ eine Folge Friends laufen, ohne wirklich zuzuschauen. Überleg’s dir halt. Diesen Satz hatte ich heute zweimal gehört. Überleg‘ dir was du willst. Ich ließ den Satz auf mich wirken. Mein Blick schweifte vom Fernseher hinüber zu meinem Nachttisch und blieb an dem Foto aus Kilkee hängen. Ich hörte auf zu kauen. „Ich will nach Irland“, dachte ich und runzelte erstaunt die Stirn.