Emma
Eingestampft. Fassungslos starrte ich den Betreff der neuesten E-Mail an, der ich ein weiteres Stück meiner Lebenszeit widmen sollte. Das Filmprojekt wurde eingestampft. Ich lachte zynisch und schüttelte den Kopf. Nach meinem durchgeschufteten Wochenende im kuscheligen Gin-Tonic-Nebel bei den Jakobs und zwei weiteren turbulenten 14-Stunden-Tagen, an denen ich aus den Augen verlor, wo vorne und hinten ist, hatte ich es tatsächlich geschafft. Alles war vorbereitet, die Film-Crew konnte anrücken. Hätte anrücken können, besser gesagt. Mal wieder hatte ich für die Tonne gearbeitet und das nur, weil es sich irgendein weißer Mann um die fünfzig anders überlegt hatte. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal eine halbe Sekunde über seine Entscheidung nachgedacht, ein achtloser Nebensatz in Richtung seiner Sekretärin, während er sich von ihr seinen Nachmittagsespresso servieren ließ. Mit Keks.
Ich rieb mir die Schläfen und versuchte, die anrollende Welle des Frusts ungerührt über mir hinwegschwappen zu lassen. Die wohlige Tiefenentspannung, die ich immer nach einem Wochenende mit meinen Freund*innen mit mir nach Hause trug, war endgültig weggeblasen. „Pass auf dich auf, Emma“, hatten sie gesagt. „Du siehst gar nicht gut aus“, hatten sie bemerkt. „Das wird schon wieder“, hatten sie gefloskelt, wenn es wirklich gar nichts mehr zu sagen gab. Missmutig schlug ich den Laptop zu und starrte aus dem großen Bürofenster hinunter auf die Straße. Ich beobachtete eine schick gekleidete Mutter mit Kinderwagen, die im Gehen an einem To-Go-Becher nippte, die andere Hand fest am Bügel des Buggys. Zwei junge Männer in schnittigen Anzügen sprangen geschickt auseinander, um ihr auszuweichen, lachten ihr zu und schlenderten weiter, die Jackets lässig über die Schultern geworfen, die hellen Hemdsärmel hochgekrempelt. Es war Feierabendzeit. Die Sonne schien. Ich klappte meinen Laptop wieder auf und kramte in meinem müden Hirn nach einer halbwegs sinnvollen Antwort auf diese Unverschämtheit.
Keine Begründung, nur ein Satz: Sehr geehrte Frau Lorenz, das Filmprojekt wurde eingestampft. FYI. Mit freundlichen Grüßen, Anita Zimmermann, Sekretärin CEO-Office. Ich überlegte, ob ich mich geehrt fühlen sollte, dass ich direkt vom CEO-Büro Bescheid bekommen hatte und nicht etwa über drei Ecken von meinem Chef. Ich war offenbar präsent, das war doch was. „Pfff“, machte ich, als mir klar wurde, wie egal mir das war. Was kümmerte mich irgendein CEO irgendeines Unternehmens, für das ich nur Dienstleisterin war? Ich blickte wieder hinunter auf die Straße. Zwei Studentinnen liefen ins Bild, hielten genau unter meinem Fenster kurz an und machten ein Selfie. Lächeln, klick, ein Moment festgehalten, der in etwa genauso belanglos war wie ich mich in diesem Moment fühlte.
„Jetzt sei halt nicht so bitter“, dachte ich genervt. Meine inneren Monologe hatten in den letzten Wochen spürbar zugenommen. Eine harsche Stimme, die mir sagte, ich solle mich zusammenreißen. Ich müsse diesem Druck jetzt eben standhalten, das wäre halt so und würde auch wieder besser werden. Ich müsse doch zu schätzen wissen, was ich alles hatte. Obwohl diese Stimme unangenehm scharf gegen meinen Hinterkopf rieb, musste ich ihr Recht geben. Nach meiner Stelle würden sich unzählige, brotlose Geisteswissenschaftsabsolvent*innen die Finger lecken. Ich hatte viel gelernt in den letzten zwei Jahren und wurde von meinem Chef stark gefördert. Das war keine Selbstverständlichkeit. Meine Finger schwebten immer noch unschlüssig über der Tastatur. Sehr geehrte Frau Zimmermann,…….. Ich beschloss, zuerst mit Rainer zu sprechen.
„Hast du die E-Mail gesehen? Wegen des Filmprojekts? Ich meine, du warst in Cc:“, fragte ich, als ich ihn in der Kaffeeküche fand. Er zog die Mundwinkel gequält nach unten und klopfte mir kurz auf die Schulter. „Ja, tut mir leid, Emma. Aber ich kann da leider nichts machen, es ist ihnen doch zu teuer.“ Mir entglitt ein sarkastischer Lacher, ein Bellen fast: „Nachdem sie den Kostenvoranschlag ja vorher noch nie gesehen hatten…“ Rainer sah mich mitleidig von der Seite an. „Ich weiß, dass du dich da ganz schön reingehängt hast in den letzten Tagen. Aber so hast du wenigstens eine Sorge weniger.“ Ich lachte nochmal. Das stimmte. Eine Sorge weniger. „Dann sage ich jetzt alles ab, ja?“, versicherte ich mich. Rainer nickte und lächelte entschuldigend.
„Auf dich, Emma, willkommen zurück bei den Lebenden!“ Iris hob ihr Bierglas und stieß es klirrend gegen meins. Ich nickte und versuchte, erleichtert zu erscheinen. Die verkorkste Veranstaltung war inzwischen über die Bühne gegangen, auch ohne Film und überraschenderweise zur Zufriedenheit aller. Meine Bürotage hatten sich deutlich zusammengezogen und ließen wieder Raum für ein abendliches Bier in unserem Lieblings-Pub. Gleichzeitig türmte sich bereits der nächste Berg an Aufgaben vor mir auf, gespickt mit eng getakteten Deadlines. Aber darüber wollte ich heute Abend nicht reden. Genau genommen wollte ich überhaupt nicht mehr über die Arbeit reden. Ich konnte mich selbst nicht mehr hören und ließ mich bereitwillig von der schnarrenden Stimme in meinem Hinterkopf zurechtweisen: Passt doch alles, sei endlich zufrieden.
„Ah, da kommt Alex“, sagte Charlotte und zeigte hinter mich. Ich drehte mich um. Da kam Alex. Die Hände tief in die Hosentaschen gegraben schlängelte er sich zwischen eng gestellten Holztischen zu uns durch. „Hiii“, sagte er etwas langgezogen und setzte sich mir gegenüber. Kein Kuss, keine Umarmung. Alexander und ich waren nie ein besonders herzliches Paar gewesen und ich redete mir ein, dass das genau das Richtige für mich war. Ich war schließlich keine Romantikerin, das ständige Rumgeschmuse in der Öffentlichkeit war nicht mein Ding. Auch jetzt rief ich mir diese Seite meiner selbst in Erinnerung und verdrängte damit den sanften Stich, der sich in solchen Situationen gerne gegen meinen Brustkorb drückte. Ich lächelte meinen Freund an. Er lächelte zurück. Die Welt schien in Ordnung. Endlich.
In bester Pärchenmanier seilten wir uns wenig später ab. Charlotte und Iris wollten noch in die Hipster-Bar an der Ecke weiterziehen, die wir selbstverständlich nur ironisch cool fanden, aber wir murmelten etwas von ‚nicht zu spät ins Bett‘ und ‚morgen früh raus‘ und überließen die beiden sich selbst. Jetzt saßen wir auf Alexanders Couch und scrollten zum ersten Mal seit Wochen wieder gemeinsam durch Wohnungsanzeigen. Wir reckten die Köpfe zusammen und ich konnte seine Schulter warm an meiner spüren. Er starrte konzentriert auf den Bildschirm und ich vermutete fast, dass er mich vergessen hatte. Vorsichtig rückte ich näher und gab ihm einen Kuss auf die kratzige Wange. Er roch vertraut, nach Heimkommen. Ich gab ihm noch einen Kuss, ließ meine Lippen dieses Mal ein wenig länger auf seinem Bart ruhen, aber er rührte sich nicht. Volle Konzentration. Tunnelblick. Ich unterdrückte einen Seufzer und wendete mich ebenfalls wieder der Wohnungssuche zu.
Keines der Angebote schien Alexander anzusprechen. Zu teuer, zu klein, zu wenige Zimmer. Indiskutabel war auch ein Balkon. Wir wollten schließlich eine Verbesserung zu unseren jetzigen Wohnungen. Sonst könnten wir uns das Umziehen ja gleich sparen. Auf diese Weise erstellte Alexander eine Matrix für unser hypothetisches Zusammenleben. Wir beide, unsere Zweisamkeit, spielten zwischen den Parametern Fläche, Ausstattung, Lage und Preis erst einmal keine Rolle. Ruckartig stand ich auf und ging zum Kühlschrank. „Willst du auch was trinken?“, fragte ich und holte gleichzeitig eine Packung Chips aus einem der Hängeschränke. Ich riss sie auf und kippte den Inhalt in eine Tupperschüssel. Maßnahmen gegen mein schlechtes Gewissen.
Ich wollte so nicht über Alexander denken, wo ich doch wusste, dass er seine Liebe anders ausdrückte. Indem er unermüdlich für mich Abendessen kochte, weil ich meine Einkäufe so gar nicht im Griff hatte. Indem er mein Fahrrad reparierte, weil ich zu faul war zu lernen, wie man ein Loch im Reifen flickt. Indem er akribisch nach der perfekten Wohnung für uns beide suchte. „Gibt’s noch Cola?“, fragte er geistesabwesend, das Gesicht blass im fahlen Bildschirmlicht. Ich fand eine Dose Cola Light in der Kühlschranktür und stellte sie zusammen mit der Chipsschüssel vor Alexander auf den Couchtisch. „Hier, Schatz, mach‘ mal Pause“, sagte ich liebevoll. „Oh Gott, nennen wir uns jetzt Schatz, sind wir schon so weit?“, stichelte Alex. Seine Augen blitzten, er scherzte nur. Ich lachte, leicht gepresst. Kosenamen waren auch nicht unser Ding.