Kapitel 4

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Kapitel

Nele

Verpennt, verstrubbelt und überglücklich schlurfte ich in einem übergroßen Sweatpullover von Anton an den Küchentisch und kroch auf die uralte Eckbank. Frühstück! Jonathan hatte schon literweise starken Kaffee gekocht, der in den Tassen auf dem Tisch vor sich hin dampfte. Fredi war beim Bäcker gewesen und siegreich heimgekehrt, beladen mit Brötchen und süßen Krapfen. Celia stand am Fenster und rauchte eine Sonntagskippe – „zur Feier des Tages“ – mit einer Tasse sirupartigem Kaffee in der Hand. Sie verfocht die Meinung, dass Kaffee schwarz wie der Teufel, heiß wie die Hölle und süß wie die Liebe sein musste. Freja quakte fröhlich im Wohnzimmer. Anton und Charlotte hatten sich die Morgenschicht der Kinderbetreuung geteilt und mich schlafen lassen. Ein seltener Luxus. Mit großem Eifer erklärte Freja Charlotte gerade, was sie in ihrem Kaufladen so alles zu verkaufen hatte. Er war unser Weihnachtsgeschenk an sie und hatte vorher meiner Schwester und mir und davor noch meiner Mama gehört. Das Original-Teil aus den Sechzigern mit drei abblätternden Farbschichten war wahrscheinlich unter dem Label Vintage-Shabby-Chic reines Gold wert beim Sotheby’s der Neuenheimer Mütter.

Freja riss hörbar Schränke und Schubladen auf und knallte bunte Bauklötzchen – nein, wir hatten nicht das gute Erzi-Gemüse – auf den Tresen. Ich musste lächeln bei dem Gedanken, was die Neuenheimer Mütter wohl dazu sagen würden. Anton hatte sich nochmal auf die selbstaufblasenden Matten gelegt, als er kam, um mich zum Frühstück zu rufen. Der Liebe. In der Tat hatte ich die Extraportion Schlaf bitter nötig gehabt, nachdem wir bis um fünf Uhr früh gezecht hatten. Meine ausgelassene Stimmung sowie die allzu schwungvolle Geste, mit der ich meinen Kaffee nahm und gleich halb über den Tisch kippte, sagten mir, dass ich immer noch einen im Tee hatte. Ich war einfach keinen Alkohol mehr gewöhnt.

Nichts schlägt das Gefühl, als Gastgeberin kein Gastgeber sein zu müssen. Der Tisch hatte sich von allein gedeckt, alle wuselten eifrig durch die Küche. Ich hatte nicht das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. Nach dem ersten Schluck Kaffee und einem prüfenden Rundumblick fiel mir allerdings auf, dass eine fehlte. Emma. Während die anderen noch Käse und Wurst auf Brettchen häuften, Charlotte gemeinsam mit Freja ein paar Äpfel schnitt und Celia eine Anekdote aus ihrem letzten Backpacking-Urlaub teilte, machte ich mich auf die Suche. Ich fand Emma in meinem Kinderzimmer auf dem Bett sitzend, ihren Laptop auf dem Schoß. Durch die halb geöffnete Tür beobachtete ich, wie sie leblos auf den Bildschirm starrte, das Handy in der Hand. Sie hatte abgenommen. Sie sah gar nicht gut aus. Die Augen standen hervor, genau wie ihre Wangenknochen. Die Arme ragten bleich und dünn aus dem XL-Shirt, das ich ihr zum Schlafen überlassen hatte. Ihr Körper sah saft- und kraftlos aus und die letzte Nacht hatte dunkle Schatten unter ihre Augen gemalt. Ich klopfte leise an die offene Tür.

„Huhu! Es gibt Frühstück…“ Emma hob langsam den Blick. Ihre Augen waren verdächtig gerötet. Ich marschierte wortlos durch die Tür, durchquerte in zwei Schritten das winzige Zimmer und pflückte ihr zuerst Laptop und Handy aus den Händen. Dann setzte ich mich zu ihr auf die quietschende Matratze und nahm sie in den Arm. Sie wehrte sich nicht. Entspannte sich aber auch nicht. Vielleicht eine klitzekleine Sekunde. Ich drückte kurz und ließ sie wieder los. „Emma, du siehst furchtbar aus.“ Ihr entfuhr ein hysterisches Glucksen. „Magst du nicht einfach hierbleiben? Das Zimmer ist frei“, bot ich an. Sie warf mir einen strafenden Blick zu. Ich sah aber auch den Anflug eines Lächelns. „Ich bin eine Mutter und offiziell dazu berechtigt, Entschuldigungen auszustellen“, fabulierte ich hilflos weiter. Die Themen Arbeit und Alexander hatten wir gestern Nacht gemeinsam mit Charlotte schon ausgiebig bequatscht. Und begossen. Ich wusste auch nicht, wie ich ihr helfen konnte. Außer Aufmuntern vielleicht.

Emma ließ pfeifend die Luft entweichen wie ein Dampfkessel und sackte weiter in sich zusammen. „Sorry, dass ich so ein Wrack bin“, seufzte sie. „Quatsch!“, entgegnete ich. „Ne, ich kann das ja alles selber nicht mehr hören“, murmelte sie. Sie legte den Kopf nach vorne und strich mit beiden Händen über ihren Nacken. Eine Geste, die ich in den vergangenen vierundzwanzig Stunden schon häufiger gesehen hatte. „Wann fahrt ihr heute?“, fragte ich. „Hast du Lust, nach dem Frühstück einen kleinen Spaziergang zu machen?“ Sie blies wieder Luft aus den Backen. „Ich erreiche heute eh niemanden mehr“, stellte sie fest. Ich lächelte sie an und rieb ihr tröstend den Rücken, wie ich es bei Freja machte, wenn sie sich mal wieder den Kopf gestoßen hatte. „Du schaffst das, Emma. Du bist nämlich richtig gut. Ich weiß das. Du weißt das. Dein Chef weiß das. Aber du musst auch auf dich Acht geben. Ok?“ Sie atmete durch, rang sich ein Lächeln ab und nickte. „Ok.“

Als die Tür hinter Emma und Charlotte ins Schloss fiel, breitete sich ganz kurz die gewohnte Stille im Haus aus. Freja zupfte an meinem Ärmel. „Wo gehen die hin? Wo gehen die Schallotte und die Emma denn hin?“, fragte sie traurig. „Nach Hause“, antwortete ich. „Und Feedi und Jonathan? Und Seela?“ „Auch nach Hause“, seufzte ich. „Gehen wir auch nach Hause?“ „Wir sind hier zu Hause, Freja.“ „Du und der Papa und die Feeja.“ „Genau.“ Sie dachte einen Moment darüber nach. „Warum gehen die Schallotte und die Emma nach Hause? Und der Feedi und der Jonathan und die Seela?“ „Weil die woanders wohnen.“ „Warum?“ Ich seufzte wieder und schenkte Freja endlich meine ganze Aufmerksamkeit. „Charlotte und Emma wohnen in Erlangen. Die beiden gehen da zur Arbeit. Und Fredi, Jonathan und Celia müssen auch arbeiten.“ „Im Büro?“, quakte Freja. „Ja, im Büro.“ „Am Kompiuter?“ „Ja, genau.“ „Wie du und der Papa?“ „Wie ich und der Papa“, echote ich. Stille. „Warum?“ Sie guckte mich mit großen braunen Augen an. Manchmal war es schwer, Freja eine zufriedenstellende Antwort zu geben.


„Guten Morgen Frau Jakob. Was macht Ihr Magnus Opus?“ Albert Gunnich. Nicht schon wieder. Allein der Klang seiner leisen, immer leicht gehetzten Stimme löste in mir Abwehrreaktionen aus. Ich schloss die Augen, zwang mich ruhig einzuatmen und setzte mein gefaketes Telefonlächeln auf. Allerdings unnötigerweise. Wie gewohnt ohne eine Antwort abzuwarten, sprach Herr Gunnich weiter. Ein paarmal versuchte ich, ein Wort in seinen Redefluss zu quetschen, doch ohne Erfolg. „Ich erwarte eine Rückmeldung asap. So schnell es geht. Wie Sie sicher verstehen, hat das höchste Priorität. Und wenn Sie dann bei Gelegenheit wieder auf meinen Computer schauen könnten – das Schreibprogramm funktioniert schon wieder nicht richtig. Sie kriegen das sicher im Handumdrehen hin, Sie sind doch ein digital native. Ach ja, und vergessen Sie nicht, das nächste Mal die Post mit nach oben zu bringen. Heute kam ein Bücherpaket und ich möchte nicht, dass meine Frau das hochträgt. Und wegen Frankfurt, haben Sie sich das notiert? Um sechs müssen wir spätestens los. Ein Auto wäre das Beste. Es hat wirklich äußerste Dringlichkeit. Danke.“ Er legte auf. Während der Hörer nutzlos tutete, löste sich mein Fake-Lächeln auf und ich versuchte Herrn Gunnichs Vortrag in verdauliche Stücke zu zerhacken. Ein Konzert. André Rieu – sie hatten Karten geschenkt bekommen. Hatte ich das richtig verstanden? Die Gunnichs gingen auf ein Konzert. Heute Abend. In Frankfurt. PRIVAT. Und ich sollte ihre Anfahrt organisieren. Nicht sein Ernst.

Ich scrollte genervt durch meinen Posteingang und fand fünf E-Mails von Margarete Gunnich, meiner Chefin. Und Doktormutter. Alle trugen den Titel Bitten, einige den Zusatz Dringend! Ich öffnete die erste Mail und fand wie immer ein Word-Dokument im Anhang, ebenfalls mit dem Titel Bitten. Ich überflog das Dokument. 10 Seiten! Wie immer montags wunderte ich mich darüber, was die Gunnichs am Wochenende trieben. Sie schienen ihre gesamte Zeit darauf zu verwenden, mich beschäftigt zu halten. Im Dokument und auch in den Folgemails stand nichts von André Rieu. Gut möglich, dass Frau Gunnich noch gar nicht in die Pläne ihres Gatten eingeweiht war. Um diese Zeit war sie normalerweise noch nicht ansprechbar. Nur Herr Gunnich fand nichts merkwürdig daran, morgens um acht gleich als erstes die Sekretärin seiner Frau anzurufen. Und ihr Befehle zu erteilen. Ein Konzert. Heute Abend. PRIVAT. Das war doch nicht sein Ernst. Ich seufzte. Der Montag versprach lang zu werden.

Um elf Uhr hatte ich die dringlichsten Bitten (Dringend!) aus den diversen E-Mails und Word-Dokumenten notdürftig abgearbeitet oder an die Hiwis und die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter outgesourct. Ich hatte mich auch bereits durch alle Autoverleihs der Stadt durchtelefoniert. Fehlanzeige. Ich hatte die Bahnverbindung gecheckt und sogar nach günstigen Hotels in Frankfurt gefahndet („Weil zu so einer späten Uhrzeit, da ist auf die Bahn kein Verlass. Sie verstehen. Ich kann es mir nicht leisten, in Frankfurt festzusitzen. Ich habe morgen einen wichtigen Vortrag in Köln. Da brauche ich auch meinen Schönheitsschlaf.“). Ich kotzte innerlich. Wie konnte es sein, dass ein kinderloses Ehepaar, zwei Koryphäen der Literatur- und Kulturwissenschaft mit zwei fetten Professorengehältern, kein Auto hatten? Oder sich kein Taxi leisten wollten (die Konzertkarten gab’s ja offensichtlich umsonst)? Oder keinen Chauffeur? Oder gleich einen Leibeigenen? Ah, nein. Sie hatten ja einen. Mich.

Inzwischen waren weitere Bitten-E-Mails in meinen Posteingang geflattert neben der üblichen Flut an Student*innen-Mails. Es klopfte leise und Margarete Gunnich steckte ihren Kopf durch meine Bürotür. „Können Sie kurz rüberkommen?“ Sie verschwand. Ich ließ seufzend alles liegen und schnappte einen Stapel Papiere, die ich schon vorbereitet hatte. Jede Seite säuberlich in einen Plastikumschlag verpackt („Ohne Knitter bitte, ich habe schon genug Unordnung in meinem Leben!“), oben geheftet mit einer bunten Büroklammer („Nicht die silbernen, die rosten so schnell!“) und mit farbigen Post-Its markiert („Wo muss ich unterschreiben?“). Zum Notieren der neuerlichen Bitten, die sicher kommen würden, packte ich einen Notizblock und einen Stift ein. Ich schloss meine Bürotür zwei Mal ab („All die sensiblen Daten, die bei Ihnen abgeheftet sind!“) und ging in das geräumige Büro von Frau Gunnich gegenüber.

„Ah, Frau Jakob“, sagte sie und strahlte über ihre Goldrandbrille als sei ich zufällig vorbeigekommen. Ich lächelte und erkundigte mich höflich nach ihrem Wochenende. Sie winkte ab. „Ach bei diesem scheußlichen Wetter kann man ja nichts Rechtes machen. Ich glaube, ich werde wieder krank. Heute Morgen habe ich fürchterlich Kopfschmerzen.“ Ihre grünen Augen blitzten. Ich entdeckte das obligatorische Fläschchen Homöopathikum prominent platziert auf ihrem Schreibtisch. Allerdings wirkte Frau Gunnich heute recht frisch und gesund. „Und wie geht es Ihrem Töchterchen?“, fragte sie mich. „Kann sie denn schon laufen?“ Ich lächelte gequält. „Ja, sie kann laufen, rennen und Laufrad fahren.“ „Ach du liebe Güte, da muss man ja gut auf alles aufpassen, wenn da ein Kind überall dagegen rennt!“ Sie lachte und zwinkerte. Frau Gunnich hatte ein sehr abstraktes Bild vom Elternsein. Ein bisschen wunderte ich mich manchmal über ihr fehlendes Einfühlungsvermögen. Schließlich hatte sie ein Buch darüber geschrieben, dass Lesen Empathie fördert. Natürlich nur das Lesen der richtigen Bücher, also der Bücher, die Frau Gunnich las.

Nachdem ich in mein Büro zurückgekehrt war (ich hatte Frau Gunnich geholfen, ein YouTube-Video samt Ton anzustellen, mit der Schwierigkeit, dabei Google nicht verwenden zu dürfen und keine Daten an Dritte weiterzugeben), erwartete mich ein gefährlich blinkendes Telefon. Gerade als ich auf „verpasste Anrufe“ klicken wollte, ging der nervige Klingelton schon wieder los. Albert Gunnich flüsterte durch den Hörer und dozierte zehn Minuten lang über seine To-Do-Liste des heutigen Tages und der kommenden Wochen. Ich hatte schon auf Durchzug geschaltet, als er eine Pause einlegte. „Wie bitte?“, brachte ich hervor, während sich mein Puls verschnellerte. „Sie haben sicher schon eine Lösung für heute Abend. Richtig“, knurrte er. Eine Feststellung. Ich begann die Situation zu erklären, aber Herr Gunnich schnitt mir das Wort ab. „Ich habe Ihnen gesagt, ich erwarte eine Rückmeldung a-s-a-p, as soon as possible. Ein Auto werden Sie ja wohl auftreiben können. Es wird ja jemand am Lehrstuhl ein Auto haben.“ Er legte auf. Ich starrte fassungslos das Telefon an, das wieder unschuldig vor sich hin tutete. Das war genug. Ich klingelte bei Angela durch: „Mayday, mayday!“ „Oje, das klingt nicht gut. In fünf Minuten im Common Room?“ „Bitte!“

Ohne Angela hätte ich den Job schon vor Langem hingeschmissen. Sie war Idealistin, nahm ihre Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin sehr ernst und würde hundertprozentig eines Tages selbst Professorin sein. Mit ihr konnte ich stundenlang über Theorien fachsimpeln und Ideen austauschen. Sie motivierte mich, an meiner Dissertation dran zu bleiben, identifizierte Schwachstellen und lieferte Inspiration für weitere Kapitel und Recherchen. Und nicht zuletzt war sie mein Kummerkasten, wenn es um die Gunnichs ging. Dieses unfehlbare Paar, der Glanz unseres Instituts! Nur Angela teilte mit mir Einblicke in die Abgründe, die sich manchmal auftaten, wenn man allzu nah mit ihnen zusammenarbeiten musste.

Nachdem ich mich ausgiebig bei Angela ausgekotzt hatte, stellten wir gemeinsam das Institut auf den Kopf, um ein Auto aufzutreiben. Es half ja nichts. Natürlich war weder bei den Hiwis, armen Studenten am Tropf der Uni, noch bei den wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen, prekär-verdienenden Fahrradfahrer*innen, etwas zu holen. Auch das Umfeld besagter Klientel hatte so kurzfristig kein Auto anzubieten. Zumindest nicht inklusive Fahrer*in – klar, Albert Gunnich würde nicht selbst fahren. Der Tag schleppte sich voran, während ich den Berg an Bitten und Student*innenanfragen langsam abarbeitete. Albert Gunnich rief noch ganze drei Mal an. Irgendwann wurde er richtig patzig, aber das war mir dann auch schon egal. Ich konnte nun mal kein Auto her hexen.

Gegen fünf klopfte es wieder sacht an meiner Tür. Margarete Gunnich schlüpfte gut gelaunt herein und legte mir einen Stapel Papiere in Klarsichtfolie hin. Neue Bitten. „Gehen Sie jetzt los zum Konzert? Ich habe Ihrem Mann die Zugverbindung ausgedruckt und auf einer Karte genau eingezeichnet, wie Sie hinlaufen können. Zurück fahren mehrere Regionalverbindungen, die habe ich aufgelistet. Außerdem gibt es die Möglichkeit, ein Taxi zu rufen. Die Telefonnummern habe ich auf dem Dokument markiert und schon angerufen: Es sollte kein Problem sein, um die Zeit ein freies Auto zu bekommen, wurde mir versichert. Kosten stehen auch dabei.“ Frau Gunnich lächelte mich freundlich an. „Nein, nein. Ich gehe nicht zum Konzert. Mein Kopf ist immer noch ganz schwummrig. Das ist lieb, dass Sie das alles recherchiert haben. Mein Mann fährt bei einem Kollegen mit. Sie wissen schon, der uns die Karten geschenkt hat. Schauen Sie, dass Sie bald Feierabend machen, ja?“ Sie winkte und schloss hinter sich leise die Tür.

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