Emma
„durf, leef, geniet“ – Wie immer, wenn ich vor Neles und Antons Eingangstür stand, überkam mich ein heimeliges Gefühl des Willkommenseins. Das alte, verwinkelte Häuschen der beiden war für uns Freunde Zufluchtsort und zentraler Treffpunkt. Hier fanden Silvesterfeiern statt, hier wurde sich nach langen Reisen in die Arme gefallen, hier wurden Liebeskummertränen in Rotwein ertränkt. Letzteres war mein Stichwort. Alexander war nicht mitgekommen, Iris auch nicht. Dafür stand Charlotte neben mir und schleppte meinen Arbeitslaptop für mich durch die Gegend. „Bist du sicher, dass das nötig ist? Am Wochenende zu arbeiten?“, fragte sie skeptisch. „Die drehen immer noch alle durch. Jetzt wollen sie auch noch einen Film für ihr dämliches Event“, maulte ich. „Am Mittwoch steht die Crew auf der Matte und will Locations und Interviewpartner sehen.“ Beim Gedanken daran wurde mir übel. Eine völlig unmögliche Zeitschiene. Aber der Film war ein Wunsch des CEOs höchstpersönlich und glich daher einer Anforderung direkt aus den himmlischen Gewölben Gottes. Ich drückte den Klingelknopf. Erstmal Rotwein. Dass es erst halb zwei war, würde ich großzügig ignorieren.
Die Probleme mit der fast gescheiterten Veranstaltung hatten sich in den letzten zwei Wochen überschlagen. Kaum war ein Hindernis überwunden, tat sich das nächste auf. Ich hatte seit Tagen kaum geschlafen. Meinem Umfeld bluteten die Ohren von meinen ständigen Jammertiraden. Besonders Alexander hatte die Schnauze voll. Sobald ich von der Agentur sprach, sah er aus, als ratterte ein Garagentor vor seinen Augen herunter. Er machte dicht. „Du hörst ja eh nicht auf mich, dann brauche ich mir das auch nicht anhören“, sagte er dann.
Am Abend zuvor hatte sich der Frust, der sich bedrohlich zwischen uns aufgestaut hatte, sein Ventil gesucht. Wir saßen in seinem Wohnzimmer, nebeneinander auf der Couch, quadratische Pappboxen mit chinesischem Takeaway auf dem Schoß. „Hörst du mir überhaupt zu?“, fragte er mich. „Klar“, sagte ich und hatte keine Ahnung, wovon er gesprochen hatte. „Und was denkst du dazu?“, fragte er. „Klingt gut“, entgegnete ich, in der Hoffnung, dass diese Antwort zufällig passen würde. Sein Gesicht verdunkelte sich. Fehlanzeige. „Sag‘ einfach, wenn ich die Klappe halten soll“, sagte Alexander kraftlos. Ich stellte meine Nudelbox auf den Couchtisch und drehte mich zu ihm, vergrub meine Nase in seinem Nacken, gab ihm einen zarten Kuss auf den Hals. „Tut mir leid, Alex, die Arbeit macht mich einfach fertig zur Zeit. Sag‘ bitte nochmal.“ Sofort verhärtete sich sein Halsmuskel und er zuckte leicht mit der Schulter. Als würde er mich abwerfen wollen. „Aha“, sagte er.
Ich ließ von ihm ab und wandte mich wieder meinem Abendessen zu. Unzählige Antworten bauten sich in mir auf, stapelten sich gegen meine Stimmbänder und taten alles, um gesagt zu werden. Unterstütz‘ mich doch, wollte ich rufen. Nimm‘ mich in den Arm, wollte ich betteln. Ich biss mir auf die Unterlippe und schob mir eine Gabel gebratener Nudeln in den Mund. Ich war mir sicher, würde er mir wieder mit „Du hörst ja eh nicht auf mich“ kommen, ich würde ihm eben jene Gabel in die garagentorverschlossenen Augen stechen. Und so starrte ich schweigend vor mich hin und versuchte, die gereizte Stimmung, die zwischen uns vor sich hin knisterte, zu ignorieren. Leider tat es mir Alex nicht gleich. „Was hast du denn jetzt?“, wollte er wissen. „Alles gut“, murmelte ich unbestimmt und griff nach der Fernbedienung, um den Fernseher anzuschalten. „Ok, dann lassen wir’s halt“, sagte Alexander mit einem entnervten Seufzer. Ich schaute ihn von der Seite an. Zum ersten Mal in sechseinhalb Jahren formte sich ein Gedanke in meinem Kopf: Ja, warum lassen wir’s nicht einfach? Erschrocken senkte ich den Blick und spießte ein Stück Hühnchen auf. Hatte ich das gerade wirklich gedacht? Verwirrt angelte ich mein Diensthandy vom Tisch und scrollte wie ferngesteuert durch meine E-Mails. „Das meine ich“, kommentierte Alexander. „Kein Wunder, dass du nicht schlafen kannst.“ Er zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. „Gut, dass wenigstens du alles besser weißt“, schnappte ich und sank sofort in mir zusammen. Das war’s gewesen für den Abend. Traurig beobachtete ich, wie die Worte ihren Weg hinüber zu Alexander fanden, wie sie in seine Ohren krochen und sich ihre Bedeutung mit allen Untertönen, Facetten und Seitenbemerkungen in seinem Kopf entfalteten. Hautzelle für Hautzelle verzog sich sein Gesicht. Erst um die Augen herum, die sich zu verärgerten Schlitzen verengten, dann um die Mundwinkel, die sich verächtlich nach unten zogen.
Das aufgeregte Stimmengewirr hinter der schweren Holztür holte mich zurück unter das Eingangsschild der Jakobs. Charlotte ließ die Klingel nochmal durchs Haus plärren. Wir hörten, wie Anton etwas zu Freja sagte, sein Ton glockenhell vor lauter typisch-elterlichem Enthusiasmus. Ich schluckte. „Du musst dich einfach zusammenreißen“, dachte ich. „Eigentlich läuft doch alles wunderbar.“ Es stimmte, eigentlich konnte ich mich nicht beschweren. Die Arbeit war anstrengend, aber unterm Strich war ich erfolgreich, verdiente einigermaßen vernünftiges Geld. Und oben drauf hatte ich einen Partner, mit dem ich viel gemeinsam hatte und der bereit für den nächsten Schritt war. Genau wie ich. Was will man mehr? Vielleicht war ich einfach zu streng mit Alexander. Vielleicht musste ich mich einfach mehr bemühen, seine Sichtweise zu verstehen. Vielleicht wollte er mir einfach nur helfen. Vielleicht.
„Hör mal, ich glaub‘, Freja kommt“, sagte Charlotte und schmunzelte leise, als zwei kleine Füßchen Schritt für Schritt die steile Treppe hinuntertrapsten. Schließlich bewegte sich die Türklinke Millimeter für Millimeter mit einem leisen Quietschen nach unten und die Tür öffnete sich ruckelnd. Freja strahlte uns triumphierend an, stolz, die immense Anstrengung des Türaufmachens ganz allein gemeistert zu haben. „Ja hallo, Freja“, sangen Charlotte und ich im Chor. Ebenfalls gebührend enthusiastisch. Wir polterten in den engen Flur und blieben mit unseren Rucksäcken im Türrahmen hängen beim Versuch, der Kleinen nicht aus Versehen eine Kopfnuss zu verpassen. Umständlich stapelten wir unsere Sachen in der Garderobe auf, streiften die Schuhe ab und erklommen schließlich die knarzende Holztreppe hinauf ins Wohnzimmer.
Oben angekommen merkte ich, wie sich die verkrampfte Stressfalte auf meiner Stirn unweigerlich glättete und sich meine düsteren Gedankenwolken ein wenig lichteten. Auf den beiden geschwungenen Ledersofas fläzten bereits Jonathan und Fredi und teilten eine Ausgabe der ZEIT unter sich auf. „Na, ihr Streber, tut ihr wieder so als wärt ihr politisch interessiert?“, scherzte ich und nahm die beiden in den Arm. Wir hatten uns seit gut drei Monaten nicht mehr gesehen. Jonathan arbeitete als Immobilienmakler, Fredi war Ingenieur. Unsere faulen Studententage lagen hinter uns und es wurde immer schwerer, alle Schäfchen des Freundeskreises zusammenzutreiben.
„Da seid ihr ja, schön dass ihr da seid!“ Nele kam aus der Küche geflitzt und strahlte uns herzlich an. Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Danke, dass wir da sein dürfen“, sagte ich und war ehrlich froh, dem heimischen Drama für zwei Tage entflohen zu sein. Hinter Neles Rücken tauchte Anton auf und schaute sich suchend um. „Wo ist denn Alexander?“, fragte er. Nele schoss ihm einen strafenden Blick zu. Fettnäpfchenalarm. „Mensch, Anton“, zischte sie. Ich quälte mir ein Lächeln aufs Gesicht und sagte betont leichtfüßig: „Ach, der wollte noch was für die Arbeit fertig machen und ist zuhause geblieben.“ Ich spürte wie die Blicke meiner Freunde an mir hafteten. Aus der unangenehmen Stille, die meine Antwort in den Raum spuckte, schloss ich, dass mein Schauspiel nicht sonderlich überzeugend gewesen war. Während ich sorgfältig darauf achtete, Blickkontakt mit allen Anwesenden zu vermeiden, schlängelte ich mich in die Küche und fischte ein Weinglas aus der Vitrine. Ich mochte das leise Ächzen, mit dem sich die fein verzierten Flügeltürchen des alten Möbelstücks öffneten. Nele war mir nachgelaufen. „Ist alles ok bei dir?“, fragte sie leise. „Klar, alles gut“, entgegnete ich. „Hast du nen Rotwein offen?“ Nele zeigte auf die Speisekammer und wendete sich einem riesengroßen Topf zu, der zufrieden vor sich hin brodelte. Es roch nach ihrem berühmten Chili. Sie war die Meisterin des Zubereitens von Leckereien in rauen Mengen, um die hungrigen Mäuler ihrer Freunde zu stopfen.
Ich nahm eine angebrochene Weinflasche aus dem Regal in dem engen Kabuff und hielt meine Nase prüfend über den Flaschenhals. Dornfelder, naja. Ich zuckte die Schultern und füllte mein Glas. „Willst du ein Wasser dazu?“, fragte Nele. Ich hatte bereits einen großen Schluck genommen und grinste ertappt. „Nein, passt…hör mal, ich muss noch bisschen was arbeiten, ich geh‘ nach oben, ja?“ Nele sah mich forschend von der Seite an. Wieder wich ich ihrem Blick aus und stahl mich aus der Küche. Ich schnappte mir meine Tasche und kletterte ein weiteres Stockwerk nach oben. In Neles altem Kinderzimmer setzte ich mich aufs Bett und klappte den Laptop auf. Ich verzog das Gesicht. 27 neue E-Mails. An einem Samstagnachmittag.
E-Mail öffnen, Antwort tippen, senden. E-Mail öffnen, Antwort tippen, senden. Wie ein gehorsames Maultier ackerte ich mich Zeile für Zeile durch die Liste an Nachrichten in meinem Postfach. Mein Chef wollte wissen, ob ich bereits Protagonist*innen für den Film zum Presseevent gefunden hatte. Unser Kunde hatte dazu Vorschläge geschickt. Alle unbrauchbar. Verzweifelt krabbelten meine Finger über die Tastatur. Eine kurze Anregung hier, eine höfliche Rückfrage da, und dabei bloß niemandem auf den Schlips treten, niemanden in der Abstimmungsschleife übergehen und schon gar nicht die eigene Überforderung durchschimmern lassen. Ich nippte an meinem Rotwein. Ich nippte nochmal, nahm dann einen beherzten Schluck und stellte das Glas trotzig zurück auf den kleinen Nachttisch neben dem Bett. „Was für eine Zeitverschwendung“, dachte ich grimmig. Dieser Film brachte der Veranstaltung überhaupt nichts, ließ das Stresslevel aber gnadenlos durch die Decke gehen. Und das nicht einmal nur für mich. Auf der verzweifelten Last-Minute-Suche nach Mitwirkenden machte ich das halbe Unternehmen unseres Kunden kirre. Ich schüttelte den Kopf. „Was für eine bodenlose Zeitverschwendung“, dachte ich wieder.
Ich spitzte die Ohren. Unten hörte ich meine Freunde reden. Fredi lachte schallend – wahrscheinlich über einen Witz, den er selbst gemacht hatte. Gläser klirrten. Offenbar war ich nicht mehr die einzige, die sich zu etwas verfrühtem Alkoholkonsum hinreißen ließ. Die Türklingel ließ das fröhliche Gewusel einen Moment lang innehalten. Dann setzte sich jemand in Bewegung, stapfte die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Ich hörte, wie ein weiterer Rucksack gegen die engen Wände des Hausgangs streifte, bevor der Neuankömmling sich ebenfalls seinen knarzenden Weg ins Wohnzimmer bahnte und mit großem „Hallo“ empfangen wurde. „Emma arbeitet oben“, filterte ich Jonathans Stimme aus dem Kreuzfeuer an Begrüßungen. Ich starrte missmutig auf den gleißend hellen Bildschirm meines Computers. Emma arbeitet und bisher kein Ende in Sicht. Ich schaute auf mein Diensthandy. Zwei entgangene Anrufe von Holger, der mich bei der Filmaktion unterstützen sollte. Anstatt ihn zurückzurufen, checkte ich mein privates Handy. Keine Nachricht von Alexander. Ich seufzte. Dann eben doch Holger.