Kapitel 2

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Kapitel

Nele

„Es kann keine Geschichte ohne ein Ende geben und gleichzeitig kein Ende ohne eine Geschichte.“ (Freeman, Hindsight 135) Ich nahm einen Löffel Bio-Mangoquark in den Mund und lutschte versonnen daran herum. Kein schlechtes Ende für mein Kapitel. Ich blätterte zum tausendsten Mal in meiner zerfledderten Kopie des Romans Vom Ende einer Geschichte und las ziellos einige der angemarkerten Zitate. Ich hatte das Buch mit endlos vielen pinken, gelben, blauen und grünen Zetteln gespickt – ein Farbcode, dessen Sinn mir selbst inzwischen entglitten war. Dazu kamen Markierungen mit Neongelb, pinkte Unterstreichungen und Kuligekritzel an den Rändern und zwischen den Zeilen. Interliniar-Glossen. Keine Bibel war je so akribisch gelesen worden. Im Laufe der letzten Monate hatte ich jedes einzelne gedruckte Wort von Julian Barnes unter die Lupe genommen, es gedreht, gewendet und schließlich entschieden, ob es zitierfähig war. Barnes-Exegese. Ich seufzte. Es war Zeit, dass ich dieses Kapitel endlich abschloss. Ich fischte nach mehr Mangoquark, aber der Becher war schon leergekratzt. Ich beschloss, dass ich jetzt nicht mehr produktiv war, speicherte und klappte den Laptop zu.

Mein Kopf schwamm noch von akademischen Phrasen. Narrative Strategien der Sinnstiftung. Performative Bedeutungserzeugung im Akt des Erzählens. Ich legte den Kopf in den Nacken und drückte die Schulterblätter zusammen. Es knackte wie immer. Ich ließ den Kopf einmal kreisen und dachte zum hundertsten Mal darüber nach, mir einen „vernünftigen“ Computer, eine Tastatur und einen großen Bildschirm zuzulegen. Wie immer ignorierte ich den Vorschlag. Lieber eine Runde Yoga. Als ich gerade von der Kobra in den herabschauenden Hund überging, hörte ich entferntes Gedudel. Mein Handy. Ich stolperte die knarzende Treppe herunter und drückte auf den roten Knopf. Anton. „Ich hab’ schon fünfmal bei dir durchgeklingelt“, sagte er gehetzt. „Ich steck im Termin fest. Kannst du bitte Freja abholen? Tut mir echt leid, Nele, aber hier ist grade die Hölle los.“

Mein Blick schnellte zur Küchenuhr. Fünf vor zwei. „Bin unterwegs.“ Ich legte auf und hüpfte auf einem Bein ins Schlafzimmer, während ich aus der Jogginghose rausschlüpfte. Auf der Treppe zog ich den Reißverschluss meiner Jeans hoch, wickelte mir einen Schal um den Kopf, krallte mir die Schlüssel und bugsierte mein Fahrrad aus der Tür, nicht ohne es an drei Ecken anzuschlagen. Zum Glück zeigte sich der Februar heute von seiner sonnigeren Seite. Ich strampelte zur Kita und ignorierte dabei ein paar Verkehrsregeln. Völlig verschwitzt stand ich schließlich vor der Kitatür. Ich hasste das. Die Tür wurde jeden Tag um Punkt zwei Uhr verriegelt. Zu spät kommende Eltern mussten klingeln und ihre Schmach so vor aller Augen büßen. Man ließ mich warten. Ich klingelte noch einmal. Die kurzhaarige Erzieherin öffnete schließlich die Tür – mit hochgezogenen Brauen. „Freja ist wieder in den Igelgruppe“, sagte sie. Was sie meinte war: „Die arme Freja hat Asyl bei den größeren Kindern gefunden. Sie können von Glück sagen, dass wir um zwei Uhr nicht die ganze Kita dichtmachen. Können Sie sich nicht an die Abholzeiten halten, so wie die andern Eltern auch?“

Ich lächelte freundlich, schob mich durch die Tür und begann Frejas Habseligkeiten einzusammeln. Die dunkelhaarige junge Frau wischte wie immer schon den Boden in der Marienkäfergruppe. Sie sagte hilfreich: „Freja ist wieder in der Igelgruppe!“ Ja, vielen Dank. Heute hätte ich ausnahmsweise pünktlich kommen können. Ich hatte Anton gebeten, Freja abzuholen, damit ich endlich dieses blöde Kapitel fertigbekam. Seit zwei Jahren zog sich meine Dissertation schon – zäh wie Kaugummi. Kein Wunder, neben meinem Job im Lehrstuhlsekretariat und meinen zwei Lehraufträgen kam ich einfach nicht dazu. Nur der Freitagvormittag war für die Dissertation geblockt. In der Theorie. Praktisch erledigte ich in den paar Stunden alles, wozu ich sonst nie kam: Arztbesuche, Telefonate, Einkäufe, Wäsche, Rechnungen, Steuer, und nicht zuletzt Unterrichtsvorbereitung für meine Seminare. Nur heute hatte ich mir vorgenommen, endlich mal voranzukommen. Ich ärgerte mich kurz über Anton und seufzte dann. Er konnte ja auch nichts dafür. Resigniert öffnete ich die Tür der Igelgruppe.

Freja war gerade damit beschäftigt, abgewetzte Schaumstoffwürfel in einer Ecke aufzutürmen. Wie alles, was Zweieinhalbjährige machen, tat sie es sehr konzentriert und mit großem Ernst. Als ich sie erspähte, setzte mein Herz einen Schlag aus. Das passierte häufiger, wenn ich sie ein paar Stunden nicht gesehen hatte. Manchmal vergaß ich zwischendrin einfach, dass ich eine Tochter hatte. Die blonde Erzieherin hatte mich allerdings auch schon entdeckt. „Freja, guck doch mal, deine Mami ist da!“ Ich wappnete mich innerlich. Freja war aktuell unberechenbar: Mal fiel sie einem um den Hals, mal wälzte sie sich schreiend auf dem Boden, wenn man sie aus der Kita abholen wollte. Freja schaute auf und schien eine Sekunde zu zögern. Dann ließ sie den krümeligen Schaumstoffwürfel fallen und rannte mir entgegen. Sie warf sich in meine Arme und ich musste kurz dagegen ankämpfen nach hinten umzufallen. Ich vergrub mein Gesicht in ihren leicht angeschwitzten Haaren. Sie roch wie immer fantastisch.

„Ich bin mit dem Fahrrad da, Freja“, verkündete ich in der Hoffnung, sie schnell aus der Kita lotsen zu können. Freja schaute auf und krähte in Richtung der blonden Erzieherin: „Ich darf mit dem Fahrrad nach Hause fahren!“ „Das ist aber toll, Freja!“ Die Erzieherin suchte meinen Blick. „Kinder unter drei müssen eigentlich bis zwei Uhr abgeholt sein.“ Ich schluckte herunter, dass ich erst vor wenigen Minuten erfahren hatte, dass ich Freja heute abholte. Das ging sie gar nichts an. „Tut mir Leid, kommt nicht mehr vor“, versprach ich lahm. Sie verzog ärgerlich den Mund. „Das nächste Mal berechnen wir einen Aufschlag. Nach vierzehn Uhr ist unser Personalschlüssel zu niedrig, um Kinder unter drei zu betreuen.“ Ich nickte ergeben. Zum Glück endete der Vortrag an dieser Stelle, weil die blonde Erzieherin von einer Dreijährigen mit diversen rosa Spangen in den Haaren abgelenkt wurde, die auf Toilette wollte. Ich schnappte Freja und zerrte sie hinter mir her, während ich gut gelaunt etwas von Fahrradfahren plapperte. Ich hoffte, dass das Freja genügend ablenken würde. Im Gang stand nämlich ein verführerisches Klettergerüst mit Rutsche, auf das die Kinder beim Abholen „keinesfalls“ klettern durften. Ich war mir sicher, es hatte mit Abholzeiten, Versicherungsgründen und Aufsichtspflicht zu tun. Außerdem beschwerten sich regelmäßig Eltern, wenn sich andere Kinder nicht an die Kita-Regeln hielten.

Hinter uns schloss sich mit einem dezenten Klick die Tür zur Garderobe, ein Zwischenraum wie die Luftschleuse eines Spaceshuttles, der Kita und Außenraum trennte. Von hier aus gab es kein Zurück mehr. Yeah. Freja ließ sich klaglos anziehen, während sie mir von ihrem Tag berichtete. Ihre Freundin Frieda hatte heute Fieber gehabt und war abgeholt worden – ein Umstand, der Freja stark beeindruckt hatte. Ich seufzte innerlich: hoffentlich erwischte es uns dieses Mal nicht. Kitaviren waren fies. Ein gefährlicher Cocktail braute sich da regelmäßig zusammen und kippte insbesondere Anton und mich aus den Latschen. Kinder waren da widerstandsfähiger: Freja war oft nur der Krankheitsüberträger. Aktuell zeigte sie zumindest noch keine Anzeichen. Sie plapperte munter, während die zweite Schleuse uns in die Außenwelt entließ. Ich bugsierte Freja mühsam in den klapprigen Fahrradsitz. Zum Glück liebte sie Fahrradfahren und es war gleichzeitig der schnellste Weg nach Hause.

Trotz Mangoquark hatte ich ein riesengroßes Loch im Bauch und versuchte, schnell etwas Essbares zu kochen, ohne Freja fahrlässig umzubringen. Seit Neuestem interessierte sie sich brennend, haha, für alles, was auf dem Herd zubereitet wurde. Sie rührte und schnippelte von Herzen gerne, schälte erstaunlich gut Karotten und schöpfte Sauce. Es war zuckersüß und schrecklich zugleich. Einerseits traute ich ihr eine Menge gesunden Menschenverstand zu, andererseits musste ich mich stets daran erinnern, dass sie eben nur ein halber Mensch war, der gerade erst begonnen hatte, Lebenserfahrung zu sammeln. Ich wusste manchmal nicht, ob es besser war, nicht hinzusehen, oder jeder ihrer Bewegungen wie ein Schatten zu folgen. Heute machten wir Pfannkuchen. Ein großer Spaß. Heißes Fett in der Pfanne. Klebriger Teig in der Schüssel. Nachdem Freja ein Ei auf den Boden gefallen war und sie auf einen fast fertigen Pfannkuchen eine Kelle Teig gegossen hatte, verbannte ich sie aus der Küche. Ohne Erfolg natürlich. Den Rest der Zeit klebte sie mir am Bein, während ich versuchte, ihr kein Öl auf den Kopf zu spritzen.

Zum Glück hatte ich mir am Nachmittag nichts vorgenommen. In den letzten zwei Jahren hatte ich gelernt, dass das einfach sinnlos war. Schon wenn ich auf dem Klo eine Minute länger brauchte als gewohnt, krähte Freja durchs ganze Haus: „MAMA! MAMA, WO BIST DU?“ Freja forderte ungeteilte Aufmerksamkeit. Da ich nur drei Nachmittage pro Woche für sie reserviert hatte, fand ich das auch völlig in Ordnung. Auf Nachfrage beschloss Freja, dass wir auf den Spielplatz gehen würden. Sie vornedran auf dem Laufrad. Ich als Packesel und Verkehrslotse hinterher. Städte und insbesondere Straßen bargen eine erstaunliche Anzahl an Gefahren, denen sich Freja mit Todesmut stellte. Auch hier wechselte ich stetig zwischen Wegschauen und Nachhechten. Entspannt hatte ich schon lange nicht mehr auf eine grüne Ampel gewartet. Das Laufrad potenzierte das Ganze ums Fünffache – nämlich an Geschwindigkeit mit der Freja auf Straßenkreuzungen zuraste. Es war schrecklich, aber ich freute mich, wie mobil und selbstsicher sich meine Tochter durch die Welt bewegte. Eltern sind eine komische Spezies.

Auf dem Spielplatz erwartete uns eine ganze Phalanx an Boogaboo-Kinderwägen unterstützt durch eine Kavallerie teurer Lastenfahrräder in der zweiten Reihe. Die ersten zaghaften Sonnenstrahlen des Jahres hatten also nicht nur uns nach draußen gelockt. Freja schlängelte sich auf ihrem Laufrad zur Frontlinie durch, lies das Rad achtlos fallen und rannte zur Schaukel, den Helm noch auf dem Kopf. Ich bereitete mich innerlich auf die nächsten Stunden vor. Eine Zweieinhalbjährige war eine Sache. Ein Spielplatz voller Eltern, genau genommen voller Mütter, eine völlig andere. Aber da musste ich jetzt durch. Freja brüllte über den ganzen Platz: „MAMA! ICH WILL AUF DIE SCHAUKEL!“ „Da, gleich mal einen guten Eindruck hinterlassen“, dachte ich und arbeitete mich vor zu meiner Tochter. Die Schaukel war gerade besetzt von einem blassen Kind, das von seiner Mutter achtsam angestupst wurde und sich kaum von der Stelle bewegte. Offenbar hatte Freja das hin und her Geruckel nicht als Schaukeln erkannt und war ganz nah rangerückt. Die Mutter schaute irritiert zu mir. „Können Sie Ihrem Kind bitte sagen, dass es hier wegmuss? Quentin schaukelt noch.“ Ich verkniff mir zu entgegnen, dass sie das meiner Tochter auch selbst sagen konnte und schnappte Frejas Hand. „Komm, wir gehen auf die Rutsche.“ „Ich will aber jetzt schaukeln!“ „Ich weiß, aber Quentin schaukelt gerade.“ Freja warf einen zweifelnden Blick auf das Kind und setzte wieder an, aber ich war schneller: „Ich geh jetzt rutschen!“ Damit rannte ich Richtung Rutsche davon. Freja hinterher: „Nein, ICH will rutschen!“ Kinder waren manchmal so berechenbar.

Auf der Rutsche begrüßte uns eine ältere Frau mit den Worten: „Den Helm sollten Sie dem Jungen abnehmen. Der stranguliert sich ja noch beim Klettern!“ Ich lächelte und befreite Freja von ihrem roten Helm. „Das ist ein Mädchen. Freja.“ Die Frau musterte Frejas Latzhose kritisch. „Ein Mädchen in Grün?“ Sie wandte ihren Blick wieder dem Enkel zu, der seit Minuten die Rutsche blockierte. „Komm, Valentin, Oma gibt dir die Hand!“ Sie fasste den Jungen fest an der Hand, aber der rührte sich nicht. Freja war schon hochgeklettert und schaute mich fragend an. Ich hob die Brauen und hoffte, sie verstand, dass sie jetzt warten musste. Die Frau wandte sich mir zu: „Wissen Sie, Valentin mag es nicht, wenn andere Kinder zu nah an ihn rankommen. Er kennt das ja nicht von zu Hause – hat kein Geschwisterchen, wissen Sie.“ Sie machte eine Pause. Ich wunderte mich, ob das ein versteckter Hinweis war, Freja von der Rutsche zu heben und wartete ab. Die Frau lächelte gequält und ging vor der Rutsche in die Hocke. „Oma fängt dich auf, Valentin.“ Valentin rührte sich nicht. Er starrte Freja an als hätte er noch nie ein anderes Kind gesehen. „Valentiiiin“, flötete die Oma.

Ich seufzte. Freja wurde ungeduldig und fing an hin und her zu wippen. Die Oma runzelte die Stirn. „Passen Sie auf, der Junge fällt gleich runter.“ „Ein Mädchen“, korrigierte ich. „Freja.“ „Ah ja“, sagte die Frau abwesend. „Geht sie denn schon in den Kindergarten?“ „In die Kita, ja.“ Die Furchen in der Stirn der Frau wurden tiefer. „Kita? Also unter Drei? Ich finde das ja schlimm. Meine Nichte hat ihre Tochter auch schon mit zwei Jahren in die Betreuung gegeben. Das gab’s bei uns ja früher nicht. Drei Jahre finde ich das Minimum. Und wann kam ihre Tochter in die Krippe?“ Oh nein, dachte ich, nicht schon wieder. Ich wappnete mich gegen einen Feuersturm und sagte eine Spur zu fröhlich: „Freja ist mit sechs Monaten in die Kita gegangen.“ Der Frau fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, dann nickte sie verständnisvoll. „Jaja, wenn man muss, gell… Das ist schon schlimm…“ Ich lächelte gequält, pflückte Freja von der Rutsche, klemmte mir das protestierende Kind unter den Arm und stapfte rauchend Richtung Karussell. Ich hasste diesen Spielplatz.

Manchmal wunderte ich mich immer noch, wann und wie ich in dieses Leben geraten war. Wann hatte er stattgefunden, dieser Wendepunkt, der mich hierhergeführt hatte? War es der Moment, als ich auf dem Badezimmerboden gebannt auf die zwei graurosa Streifen gestarrt hatte, die mir verkündeten, dass wir ab sofort zu Dritt sein würden? Oder ein paar Wochen früher, als Anton und ich beschlossen hatten, dass wir an einem Freitag eine Freja zeugen würden: Die nordische Göttin der Liebe, eine Herrscherin, eine Powerfrau! Dass wir ein Kind wollten und dabei nicht unser Leben umschmeißen würden. So wie früher, als Kinder noch einfach so passierten. Ein freies Kind für freie Menschen. Als wir beschlossen hatten, dass da Platz war für ein Kind in unserem Leben.

In der Tat hatten wir jede Menge Platz. Als meine Mama vor fünf Jahren sehr plötzlich starb, wurde ebenso plötzlich ein Haus frei. Ein kleines, altes Fachwerkhaus in bester Wohnlage in Heidelberg-Neuenheim. Unbezahlbar für Studenten wie uns. Und ungewohnt. Anfangs machte mir die Stille des Hauses sehr zu schaffen. Meine Mama pflegte eine bedingungslose Willkommenskultur: Jeder durfte bei uns machen, was er wollte. Frei nach dem holländischen Spruch durf, leef, geniet – trau dich, lebe, genieße. Graviert in ein Stück Treibholz prangte er über unserer Eingangstür. Kurz nach meinem Einzug duckte ich mich jedes Mal unter dem Schild hindurch. Mittlerweile spürte ich eine Mischung aus fröhlicher Nostalgie und trauriger Freude, wenn ich es beim Heimkommen sah. Es war schon krass, dass wir jetzt in ihre Fußstampfen treten durften. Mussten. Das Häuschen gehörte uns schon seit mehreren Generationen. Meine Oma, inzwischen auch verstorben, war hier aufgewachsen, genau wie meine Mama. Ich hatte sogar noch meine Uroma vor Augen, wie sie in der Küche Apfelkuchen zubereitete und lächelnd darüber schimpfte, dass das Haus nur aus Treppen zu bestehen schien. Als meine Oma nach langen Witwenjahren mit Ende fünfzig einen neuen Freund fand und zu ihm zog, übernahm meine Mama samt Mann und Kind, meiner Schwester Lore, das Haus. Bei der Renovierung ging sie mit mir schwanger und so bedeutete das Häuschen und der Garten lange Jahre meine kleine Welt.

Nach einigen Wochen bei Lore, die zu der Zeit gerade in Montpellier lebte, und weiteren Reisen, tastete ich mich wieder an das Haus heran. Die Schichten der Familiengeschichte umhüllten jedes Zimmer wie ein Palimpsest – ein Schriftstück, das immer wieder ausradiert und neu beschrieben worden war. Bilder an der Wand, Schränke voller Erinnerungen, Puppen und Bären meiner Oma, CDs und VHS-Kassetten meiner Mama. Mein Kinderzimmer. Da ich sowieso gerade mit dem Bachelor-Studium fertig war, schrieb ich mich für den Master in Heidelberg ein. Ich wohnte ein Jahr lang allein in dem stillen Haus. Zwischen den Bildern und Fotos und Vasen und Kisten, die langsam ein wenig einstaubten. Bis Anton eine Stelle in einem Heidelberger Architekturbüro fand und zu mir zog. Erst nur ein paar Tage die Woche. Schließlich ganz. Und ich blieb am Lehrstuhl. Auch heute, nach fünf Jahren noch, hatte sich das Haus nur in natürlicher Evolution weiterentwickelt. Das Schild hing immer noch über der Haustür.

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