Emma
Ich schlug die Augen auf und starrte einen Moment lang an die Decke. Langsam bahnte sich das Sirren meines Weckers seinen Weg durch meine schläfrigen Gehirnwindungen. Ich atmete ein und schloss die Augen wieder: Another day in paradise.
Ausatmen.
Wie jeden Morgen versuchte ich, meine Welt zu ordnen. Links von mir lag der Inbegriff einer sicheren Zukunft und drückte eine sanfte Kuhle in die 1,40 Meter breite Matratze meines Ikea-Betts. Alexander. Mein Alexander seit sechseinhalb Jahren. Wir würden bald zusammenziehen, suchten bereits nach bezahlbaren Dreizimmerwohnungen im Großraum Nürnberg, gerne mit Balkon, gerne ein bisschen außerhalb.
Einatmen.
Alexander und ich waren fast genau da, wo uns die Gesellschaft erwartete. Ein bisschen hinten dran vielleicht. Er war 30, ich 29, da könnte man natürlich bereits einen Ring am Finger tragen. Aber immerhin schlenderten wir samstagvormittags regelmäßig durch Möbelhäuser, um das optimale Ecksofamodell ausfindig zu machen. Oder einfach Inspiration zu sammeln für das gemeinsame Nest. Nein, wir möchten keine geschlossenen Hängeschränke in der Küche. Wir machen das wie die Schweden und stellen unser Geschirr auf Regalbretter. Ja, wir brauchen unbedingt einen doppelten Kleiderschrank, du weißt ja, wie viel Zeug wir haben. Und hast du die hippen Messinglampen gesehen, die wären doch was für die Essecke? Traute Zweisamkeit. Erzählte man davon später der Schwiegermutter, der Schwester oder der besten Freundin, formten sich zufriedene Lächelfalten um deren Augen, in denen es sich unsere gesamte Zukunft gemütlich zu machen schien. Das passt bei den beiden, die Sache ist geritzt.
Einatmen.
Ich spielte mit dem Gedanken, mich nach rechts zu drehen. Auf meinem Nachttisch stand das einzige Foto, das ich je eingerahmt hatte. Raue Klippen an der Westküste Irlands. Genau der Moment, als sich eine mächtige Welle gegen die Felsen warf und unter grollendem Getöse zersprang. Fünf Jahre war es her, seit ich das letzte Mal auf dieser wilden Insel unterwegs gewesen war. Das Bild entstand auf der Fahrt von Galway nach Limerick. Wir entschieden uns für einen Umweg über die „Cliffs of Kilkee“, die uns in ihrer Ursprünglichkeit so in den Bann zogen, dass wir spontan eine Nacht in der Gegend blieben. Die Wucht dieser Felsküste, die sich stur ins Meer keilt – egal, wie heftig die Wassermassen sich auch wehren – erfasste mich bis aufs Mark. Noch immer bildete ich mir ein, den Wind im Gesicht und das Salz auf der Haut zu spüren, wenn ich dieses Foto sah.
Ich schmunzelte stumm. Blödsinn. Ausatmen. Ich schlug die Augen wieder auf und blickte weiter an die Decke. Wie immer entschied ich mich für das bequeme Dazwischen und wagte zögernd einen ersten Gedanken an den bevorstehenden Tag. Freitag. Thank god it’s Friday. Missmutig zog ich die Nasenflügel nach oben. Jede Woche dasselbe Spiel. Das unermüdliche Streben nach den verheißungsvollen freien Tagen am Ende einer jeden Arbeitswoche. Wieder schmunzelte ich lautlos, etwas unwirsch dieses Mal und drückte mich bestimmt nach oben. „Stell‘ dich nicht so an“, dachte ich, während ich mit allen zehn Finger durch meinen verknoteten Haarschopf fuhr. Ich hielt einen Moment inne, zog meinen Kopf mit beiden Händen sachte in Richtung Brust, um meinen Rücken zu dehnen. Einatmen. Ausatmen. Freitag.
Und damit setzte ich endlich meine Morgenmaschinerie in Gang. Ich schwang die Beine aus dem Bett, fühlte kurz mit den Fußballen nach dem vertrauten Kratzen meines bunten Webteppichs, der schon seit ich denken konnte neben meinem Bett lag. Während ich auf dem Weg ins Badezimmer durch mein geräumiges WG-Zimmer lief, warf ich einen kurzen Blick auf Alexander. Das Kissen fast liebevoll umarmt lag er auf dem Bauch und schnarchte sachte vor sich hin. Für einen kurzen Moment wollte ich ihm über den dichten braunen Bart streichen, ihm vielleicht sogar einen Kuss auf die Wange geben, seinen herben Geruch aufnehmen und den Tag über in der Nase behalten. Meine Füße wollten schon die Richtung wechseln, da erinnerte ich sie daran, wie sehr Alexander es hasste, geweckt zu werden. In den frühen Morgenstunden hatte er keinen Sinn für romantische Gesten. „Vor allem heute nicht“, dachte ich grimmig.
Leise öffnete ich die Zimmertür und glitt hinaus in den dunklen, kühlen Gang unseres Altbaus. Ich teilte mir die Wohnung mit zwei Freundinnen. Sie waren der Grund, warum ich so lange gezögert hatte, mit Alexander den nächsten Schritt zu gehen. Wir kannten uns seit Jahren, hatten uns gemeinsam von planlosen Erstsemestern zu immer noch relativ planlosen Endzwanzigern entwickelt. Unzählige weinschwere Abende am Küchentisch hatten aus Studienfreunden eine kleine Familie geschnitzt. Dass ich diesen letzten Ausläufer des Studentenlebens bald gegen ein ausgewachsenes Pärchendasein eintauschen würde, war schwer vorstellbar, als ich der Stille zwischen unseren Zimmern lauschte. Nichts fühlte sich mehr nach Zuhause an als dieser allmorgendliche Moment, wenn unser Zusammenleben in müder Selbstverständlichkeit um den knarzenden Holzflur unserer Wohnung drapiert lag.
Vorsichtig schlich ich über den Gang und knipste das Licht im Badezimmer an. Ein erster Blick in den Spiegel zeigte fahle Wangen und verquollene Augenlider, die träge auf Halbmast hingen. Ich zog eine Grimasse und spulte zügig mein Katzenwäscheprogramm ab: Zähne putzen, Gesicht waschen, Kontaktlinsen. Schließlich griff ich nach dem Outfit, das ich am Vortag zusammengestellt und an die Heizung gehängt hatte, wollte mich schon fast für meinen Anflug von Selbstorganisation loben. Dieser Kleiderbügel im Badezimmer war keine Selbstverständlichkeit. Er bedeutete, dass ich nicht wie sonst zurück in mein Zimmer trampeln, im Kleiderschrank wühlen und damit riskieren musste, Alexander zu wecken und seinen Start in den Tag zu ruinieren.
Während ich den Saum meiner Bluse in den Hosenbund stopfte, musste ich mir jedoch eingestehen, dass es sich dabei lediglich um ein Friedensangebot gehandelt hatte. Alexander und ich hatten am Vorabend gestritten. Ich seufzte und klatschte mir unwirsch Makeup unter die Augen, um die Erinnerung an die giftigen Worte zwischen uns zu verdrängen. Vergeblich. Mit jedem Handgriff faltete sich ein böser Satz, ein genervtes Augenrollen, ein verächtliches Schnauben vor mir auf, bis das nur wenige Quadratmeter große Badezimmer vollgestopft war mit den bitteren Vorwürfen eines schief gelaufenen Netflix-Abends.
Ich beschloss, dass das Ausmaß meiner Schönheitsmaßnahmen einem normalen Bürotag genügen musste und flüchtete in die Küche. „Ihr habt euch vertragen, lass‘ es gut sein“, dachte ich und konzentrierte mich auf unsere Siebträgermaschine. Ich ließ den gefüllten Siebträger einrasten, stellte meine Lieblingstasse darunter und drückte den An-Knopf. Das Surren und Zischen der Kaffeemaschine beruhigten das aufgebrachte Rauschen in meinen Ohren ein wenig und als ich mich an den Küchentisch setzte, war ich fast überzeugt, dass ich den Streit beilegen konnte. War es am Ende nicht sowieso nur eine belanglose Kabbelei gewesen? Eine sinnlose Auseinandersetzung ausgelöst von der übertriebenen Serienauswahl eines Streaminganbieters. Alexander wollte, dass ich auswähle, was wir ansehen. Ich war müde nach einem weiteren Elf-Stunden-Tag im Büro und wollte mich nur noch hinlegen und mein Hirn auszuschalten. Dann der erste Vorwurf: „Immer muss ich mir Gedanken um alles machen.“ Ich seufzte. Wahrscheinlich ein bisschen zu laut. Vielleicht war es auch kein Seufzer, sondern ein genervtes „Woah“. „Na gut“, sagte ich, „dann schauen wir eben Friends.“ Stille. Ich konnte fühlen, wie sich Alexanders Kiefermuskeln verspannten. „Im Ernst?“, fragte er. „Das haben wir doch schon hundertmal durch. Bist du denn gar nicht neugierig auf was Neues?“ Mein Kopf schmerzte von den langen Stunden am PC, mir steckte noch die missglückte Präsentation vor dem gesamten Team in den Knochen und jetzt war ich also auch noch langweilig. „Such‘ einfach was aus, bitte“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor – und das war der Beginn eines Schlagabtauschs, der sich mehr und mehr in sich selbst verrannte. „Ich bin dir also nicht gut genug“, schrie ich ihn irgendwann an. „Wenn ich dir dieses Gefühl gebe, wenn ich so ein schlechter Mensch bin, wieso bist du dann überhaupt mit mir zusammen?“, schoss er zurück. Und damit waren wir verkeilt. Wieder einmal. Wenn dieser Moment gekommen war, gab es kein Vor und kein Zurück mehr.
Ich spürte, wie sich ein Kloß in meiner Kehle formte und nahm einen großen Schluck von meinem Kaffee. Verdrossen blickte ich an mir hinunter. Die dunkle Jeans, die helle Bluse und der graue Blazer – ein schwacher Versuch zu signalisieren, dass ich mir sehr wohl Gedanken um seine Bedürfnisse machte. Nein, ich habe ihn nicht aus den Augen verloren. Ja, ich nehme Rücksicht auf ihn. Nein, ich fahre nicht nur meinen eigenen Film. Hoffte ich zumindest.
Die letzten beiden Jahre waren aufregend gewesen. Kaum hatte ich das Masterstudium abgeschlossen, war ich in meine erste Festanstellung geschlittert. PR-Agentur. Seit einigen Monaten organisierte ich vor allem Veranstaltungen für zwei unserer größten Kunden. Das machte mir Spaß, aber der Druck war hoch, genauso die Erwartungen, ich war viel unterwegs. Zwischen langen Tagen im Büro und erschöpften Abenden in nüchternen Business-Hotels blieben Alexander und ich oft auf der Strecke. Da konnten wir noch so oft sonntags brunchen gehen, wir fanden uns immer wieder in derselben Situation wieder: Eine kleine Unstimmigkeit konnte einen Flächenbrand entfachen, der sich mehr und mehr in die Basis unseres Zusammenseins fraß. So viel zum Thema ‚die Sache ist geritzt‘.
Müde lehnte ich mich zurück und legte den Kopf gegen die kühle Küchenwand. „Wird schon wieder“, dachte ich, mein Mantra der letzten Wochen. „Alles halb so wild.“ Ich atmete noch einmal tief ein, schnappte Laptoptasche und Autoschlüssel, schlüpfte in ein paar flacher Schuhe und hievte mich schwerfällig durch die Wohnungstür. Another day in paradise.
„Emma, der Chef wartet schon auf dich“, empfing mich Linda, unsere Büroassistentin. „Es brennt mal wieder.“ Ich verdrehte die Augen – innerlich. Hoffte ich zumindest. Musste die PR-Welt immer ausgerechnet am Freitag untergehen, fragte ich mich und sah meinen Feierabend in unerreichbare Ferne verschwinden. Trotzdem beschleunigte ich meinen Schritt und eilte den Gang hinunter, wo besagter Chef hinter einer Glaswand wie ein eingesperrter Tiger in seinem Büro auf- und abwanderte. Das Handy am Ohr, Schweißperlen auf der Stirn, aufgeregte Gesten. Ich schnaubte leise und formulierte im Kopf schon mal eine Nachricht an meine Mitbewohnerinnen, dass ich es nicht zu den geplanten Freitagabenddrinks in unserer Stammkneipe schaffen würde. Vorsichtig klopfte ich an die offene Tür und räusperte mich.
„Rainer, ich bin da“, sagte ich. Er schaute kurz auf, nickte und bedeutete mir, mich irgendwohin zu setzen. Ich entschied mich für das schwarze Ledersofa in der Ecke und stellte meinen Laptop auf den niedrigen Glastisch davor. Während sich nach und nach alle nötigen Programme öffneten, versuchte ich herauszuhören, was schief gegangen war. Ich war mir relativ sicher, dass ich keine gravierenden Fehler gemacht hatte und versuchte, mich vorerst nicht in den Sog aus künstlichem Stress und Panik zerren zu lassen, der Rainer offenbar schon voll erfasst hatte. Mit einem leisen „Pling“ öffnete sich Outlook. 43 neue E-Mails seit gestern Abend. Resigniert ließ ich meinen Blick zurück zu meinem Chef wandern. Ich wollte gar nicht wissen, was der Grund für all das Drama war.
Rainer war ein attraktiver Mittvierziger, der Stereotyp eines erfolgreichen Geschäftsmanns in seinen makellos sitzenden Anzügen, dem akkurat getrimmten, grau melierten Bart und der teuren Armbanduhr. Die einzigen Überbleibsel seiner bewegten Studententage waren seine Haare, die sich immer einen Tick zu lang und zu wild um sein Gesicht kräuselten. Mit Mitte zwanzig hatte er seine PR-Beratung gegründet, inzwischen war er so etwas wie ein Halbgott in der Medienwelt. Er konnte sich seine Kunden aussuchen, nahm nur Projekte an, die der Entwicklung seiner Agentur nutzten. In diese komfortable Position war er gekommen, weil er bei allem was er tat 200 Prozent gab. Rainer war verbissener Perfektionist und grenzenloser Workaholic – und erwartete das auch von seinen Mitarbeiter*innen.
Er war noch immer in sein Telefonat vertieft. Inzwischen war klar, dass ein wichtiger Veranstaltungsort für unseren Kunden weggebrochen war. Eine große Beauftragung drohte zu scheitern. Viel Geld stand auf dem Spiel. Ich legte den Zeigefinger auf das Touchpad meines Laptops und rief meine E-Mails auf. Viele Ausrufezeichen und Großbuchstaben in aufgeregten Nachrichten. Re:, Re: re:, Re: re: re: …….. Über Nacht hatte eine wahre E-Mail-Schlacht zwischen meinem Chef, dem Inhaber des Veranstaltungsorts und unserem Kunden stattgefunden. „Du checkst deinen Posteingang wohl nie nach Feierabend, oder?“ Ich blickte auf. Rainer hatte aufgelegt und setzte sich mir gegenüber in einen Sessel, der perfekt zum Ledersofa passte. Eine Augenbraue hochgezogen sah er mich kritisch an. Da war er, der Fehler. Ich war nach Feierabend nicht erreichbar gewesen. „Gestern nicht, nein“, entgegnete ich leise. „Was genau ist passiert?“
Love it!