Ich ließ meinen Blick langsam einmal um 360 Grad wandern und wischte mir den Schweiß von der Stirn. „Es muss erst schlimmer werden, bevor es besser werden kann“, rief ich mir die Worte von Marie Kondo ins Gedächtnis. Ich hatte mir ein paar YouTube-Videos der Japanerin angesehen. Angeblich gab es niemanden, der so gut – und gerne – aufräumte, wie sie. Und auf Punkt Eins ihrer Agenda stand: Sichten. Mir erschien das sinnig. Man musste sich erst einmal darüber klar werden, was für Zeug man so besaß. Dann pickt man das aus dem Haufen, was einem Freude bereitet – der Rest fliegt raus. Laut Marie Kondo und ihren zahlreichen Anhängern war das Aufräumen eine Art Lebensphilosophie: äußere Ordnung schafft innere Ordnung. Ich lächelte angesichts dieser abgedroschenen Idee. Wieso hatte ich eigentlich bei meiner Dissertation nicht daran gedacht? Die Semiotik des Aufräumens. Oder: Die Bedingtheit von (Un-)Sinn und (Un-)Ordnung am Beispiel autobiographischer Lebenskrisen. Hörte sich doch recht überzeugend an.
Vor einer Woche war endlich das Sommersemester zu Ende gegangen. Mein letztes Semester. Seitdem genoss ich den Luxus, tatsächlich nur eine Fünfzig-Prozent-Stelle zu haben. Die beiden Unterrichtsstunden inklusive Vorbereitung fielen weg. Die Hausarbeiten-Schwemme würde erst in etwa vier Woche über mich hereinbrechen. Dann allerdings als zusätzliche Aufgabe parallel zum neuen Job. Ich grinste. Das war es mir definitiv wert. Ab nächster Woche würde ich außerdem in den Genuss meines Resturlaubs kommen. „Und das ist auch gut so“, dachte ich mit Blick auf das Chaos in meinem alten Kinderzimmer. Es war so drückend heiß, dass man es draußen kaum aushielt. Dazu lag ein Gewitter in der Luft. Perfekt, um meinen Freitagvormittag dem Ausmisten zu widmen.
Ein nicht unerheblicher Stapel Papier balancierte auf meinem Schreibtischstuhl. Meine Dissertation. Darüber auf dem Schreibtisch stapelten sich tausende Seiten wissenschaftlicher Artikel und Exzerpte – viele davon säuberlich von mir abgetippt, markiert und mit bunten Klebezetteln versehen (mit Farbcode). Daneben türmten sich mehrere Bücherstapel, ebenfalls gespickt mit Zetteln. Einen gewissen Trennungsschmerz verspürte ich schon – da steckten schließlich zwei Jahre Arbeit drin. Aber eine vertraute Stimme in meinem Hirn schnarrte: „Und du hättest noch weitere drei Jahre daran verschwendet, würdest du jetzt nicht den Schlussstrich ziehen.“
Ich seufzte und griff automatisch nach dem obersten Buch, Barnes’ Vom Ende einer Geschichte. Ich schlug das in Mitleidenschaft gezogene Cover auf und blätterte ziellos durch die dünnen Seiten. Tony Webster. Ein Kerl, der nie das eigene Leben in die Hand genommen hatte. Der nur vor sich hinlebte und es vermied, Entscheidungen zu treffen. „Das war eine weitere Angst: dass sich das Leben nicht wie im Roman entwickeln würde“, las ich. Das war vielleicht auch besser so. Viele der Romane, die sich hier türmten, hatten eher ein mäßig gutes Ende. Und überhaupt. Wer brauchte schon so viel Drama. Die wirklich spannenden Dinge fühlten sich in der Realität nun einmal eher normal an.
Ich klappte das Buch zu und packte alles in einen großen Karton, den ich schwitzend und fluchend die enge Treppe runter schleppte. Da die Recycling-Tonne voll war, stapelte ich die Kartons in unserem Schuppen. Von vollen Müllbehältern würde ich mich nicht aufhalten lassen. Drei Kisten standen schon wieder da. Zwei davon – vollgestopft mit Deko-Krims-Krams, Lampen und unnützen Geschenken in Originalverpackung – würde ich später auf der Straße platzieren. Zum Mitnehmen! Aber besser nicht vor dem Gewitter.
Ich floh vor der Hitze wieder ins Haus. durf, leef, geniet grüßte es im Vorbeigehen. Auf halber Strecke hielt ich im Wohnzimmer inne und schaute mich um. Meine Augen hatten sich noch nicht zu hundert Prozent an die neue Einrichtung gewöhnt. Anton und ich hatten lustig Zimmer durchgetauscht. Wir hatten in allen denkbaren Räumen des Hauses probegeschlafen und uns schließlich für das alte Arbeitszimmer meiner Mama entschieden. So kam es, dass alle Möbel durch das Haus rotiert waren und schließlich einen neuen Platz gefunden hatten. Seitdem war viel altes Zeug in die Tonnen, den Schuppen und auf die Straße gewandert. Auch das Wohnzimmer hatten wir auf den Kopf gestellt – das Klavier hatte jetzt einen Ehrenplatz neben dem Fenster: Dort hatte man das beste Licht zum Spielen. Das Ivar-Regal hatte die Aktion überlebt. Es durfte weiter die alten Alben und den Fernseher beheimaten. Freja sollte jetzt in mein altes Kinderzimmer ziehen. Ich wollte es streichen und mit meiner Tochter zusammen einen Himmel über ihr neues Bettenlager malen.
Ich beschloss, kurz Pause zu machen, und ließ mich auf die Polster fallen, die das alte Sofa abgelöst hatten. Ich zückte mein Handy aus meiner kurzen Sporthose. Es war schon alarmierend warm. Keine neue Nachricht von Emma. Kein Wunder – in Chile war jetzt früher Morgen. Dann konnte ich ihr ja einen guten Start in den Tag wünschen. Ich streckte alles von mir, um möglichst wenig Hautkontakt mit mir selbst zu haben und drückte ‚Start’:
Neles Erfolgserlebnis des Tages
Ich spielte noch eine Weile mit meinem Handy herum und hörte mir wahllos ein paar ältere Voicemails von Emma an. Und ein paar ältere von mir. Witzig, wie sich der Ton in den letzten paar Wochen geändert hatte. Über die Zeit waren wir immer vertrauter miteinander geworden – die tägliche Sprachnachricht ein willkommenes Ritual. Ideal, um sich ein paar Gedanken von der Seele zu reden. Erst vor ein paar Wochen war Emma bei uns für ein paar Nächte untergeschlüpft, der Frankfurter Flughafen war ja von uns bequem zu erreichen. In einer weinseligen Nacht hatte sie mir endlich detaillierter von ihrem Abenteuer mit Ciarán berichtet und gestanden, dass sie mir das zu der Zeit verschwiegen hatte. Ich grinste, als ich die entsprechende Nachricht fand: ein Krampf im Daumen, na klar!
Ich scrollte ein wenig weiter zurück und lauschte einigen unserer ersten Nachrichten. Emma und Alexander hatten erst vor ein paar Monaten Schluss gemacht. Emma klang ganz anders damals: viel steifer und einfach weniger glücklich vielleicht. Weniger selbstsicher. Ich stolperte über meine euphorische Nachricht anlässlich Michaels Kündigung: Vor nicht allzu langer Zeit wollte ich noch unbedingt eine Unikarriere machen. War wirklich nur so wenig Zeit vergangen? Ich zwang mich, WhatsApp zu schließen und starrte noch eine Weile vor mich hin. Draußen donnerte es. Oje, hoffentlich zog das Gewitter vorüber, bevor ich Freja aus dem Kindergarten abholen fuhr. Ich sollte die Zeit bis dahin noch schnell nutzen. „Na gut.“ Ich drückte mich mühsam hoch und machte mich an den Aufstieg. Auf den letzten Treppenstufen in Frejas zukünftiges Reich schwirrte mir noch das Barnes-Kapitel aus meiner Dissertation durch den Kopf. Wie lang ich an einem passenden Ende gefeilt hatte! „Es kann keine Geschichte ohne ein Ende geben und gleichzeitig kein Ende ohne eine Geschichte.“ Schon schade, dass nun niemand meine Dissertation lesen würde.
Kurz entschlossen zog ich erneut mein Handy aus der Hosentasche.
Je näher ich unserem Haus kam, desto stärker klopfte mein Herz, bis es mir in die Kehle hinein hämmerte. Ich musste schlucken, als ich im etwas zugewucherten Vorgarten unter dem Schild anhielt – durf, leef, geniet – und nach meinem Schlüssel fahndete. Leise hörte ich ein Stimmchen. Ich lauschte: „Papa? Papa, ich geh’ mal auf’s Klo.“ „Soll ich mitkommen?“, brummte der sonore Bass von Antons Stimme kaum hörbar durch die Holztür. „Nein. Ich rufe dich dann, okay?“, piepste Freja selbstbewusst. Ich hörte lautes Poltern auf der Treppe. Freja tapste in Richtung Badezimmer. Die Hand auf der Klinke wartete ich ab. Hatte Freja etwa in vier Tagen Abwesenheit gelernt, alleine auf die Toilette zu gehen? Triumphal erklang die Spülung. Ich schluckte erneut und wartete mit angehaltenem Atem noch ein paar Augenblicke. Dann klingelte ich.
„Papa! Papa, es hat geklingelt! Ich mach die Tür auf!“ Erneutes Gepolter. Ich trat einen Schritt zurück und setzte mich in die Hocke. Die Tür öffnete ruckartig. „Hallo Freja“, strahlte ich sie an. Freja blinzelte einen Moment. Sie hatte einen grünen Fleck auf der Nase und war barfuß auf dem kalten Steinboden. Ich riss mich zusammen, beides nicht unmittelbar zu kommentieren, und nahm ihr Bild in mich auf. Sie sah anders aus. Irgendwie älter. Ihr Gesicht war unbeschwert und erschien mir so glatt – weniger rund, als das Babygesicht, das ich in Erinnerung hatte. Mit ihren langen Wimpern und den schulterlangen Haaren wirkte sie schon erschreckend weiblich. Ihr ganzer Körper hatte sich gestreckt. Sie war schon so ein großes Kind!
Frejas braune Augen hellten sich auf. „MAMA!“ Sie nahm den wenigen Anlauf, den die Türschwelle ihr gestattete, und fiel mir um den Hals. Sie quetschte mich mit beeindruckender Kraft und ich drückte sie ebenso fest an mich und sog ihren Duft ein. Ich musste die Tränen zurückkämpfen: Mein Gott, wie hatte ich sie vermisst! „Mama! Bist du wieder da?“, nuschelte sie in meinen Schal. „Ja, Freja, ich bin wieder da!“ „Warst du in Ialand? Bei der Emma?“ „Ja, genau.“ „Und jetzt bist du wieder hier?“ „Ja, Freja, ich bin wieder hier – bei dir!“ Freja löste sich und guckte mich an. „Es ist schön, dass du wieder da bist“, sagte sie ernst. Dann kletterte sie auf meine Knie und schmiegte sich an mich. Ich hielt sie fest umklammert und wippte beruhigend vor und zurück. Anton war inzwischen die Treppe heruntergekommen und grinste mich breit an. Auch er war barfuß und hatte rote Spritzer auf den Wangen. „Willkommen, Mama“, sagte er. Ich drückte Freja einen Kuss auf den Scheitel und murmelte: „Ich will mal Papa begrüßen.“ Sie ließ sich unter Protest absetzen und ich faltete mich in Antons vertraute Umarmung. Angekommen.
Als Freja im Bett war, saßen Anton und ich noch mit einem Glas Wein auf unserer Eckbank und erzählten einander alles, was wir in den vergangenen vier Tagen beim anderen verpasst hatten. Nun ja, fast alles. Dann trat eine angenehme Stille ein, in der ich Antons Bart kraulte und er meinen Arm streichelte. Wir saßen im Löffelchen, mein Rücken an seinen Bauch gelehnt. „Ich hab’ mir im Flugzeug ein paar Gedanken gemacht“, setzte ich neu an. „Mh“, brummte Anton fragend. Ich atmete einmal tief durch. „Ich warte jetzt ab, ob ich bei der Studienstiftung genommen werde…“ Ich war schon in die zweite Runde gekommen. Ein Professor kurz vor der Rente hatte mich zur Geschichte der englischen Literatur ausgefragt – und dabei komplett ignoriert, dass ich mich in meiner Dissertation nur mit zeitgenössischer Literatur auseinandersetzte. Da mein Wissen in Literaturgeschichte sehr lückenhaft war, standen meine Chancen auf das Stipendium entsprechend schlecht.
„Ok. Und was, wenn du nicht genommen wirst“, fragte Anton. Ich legte mir kurz ein paar Worte zurecht. Die paar Tage in Irland hatten mich Frischluft schnappen lassen. Und mir einen Einblick in ein anderes Leben gegeben. Emma hatte die Seile gekappt, war frei, ungebunden. Sie führte ein Leben, das ständig die Richtung ändern konnte. Wer schrieb denn fest, welche Leben möglich waren? Ich drehte mich halb um und sah Anton in die Augen. „Dann schmeiß ich die Doktorarbeit und such ich mir endlich einen richtigen Job.“
Emma
Energisch stopfte ich meinen dicken Wollpulli, der inzwischen zu meinem Lieblingskleidungsstück geworden war, in meinen viel zu vollen Rucksack und blickte mich suchend um. Mein acht Quadratmeter großes Zimmerchen war leergeräumt. Einzig ein Stapel Bücher, den ich auf dem Nachttisch zurückließ, zeugte davon, dass ich gut drei Monate hier verbracht hatte. Drei Monate statt der geplanten vier Wochen. Ich hatte vorgehabt, mindestens an drei verschiedenen Orten in Irland zu leben, mindestens drei verschiedene Jobs zu machen, mindestens drei verschiedene Hosts kennenzulernen. Natürlich hatte ich mir dazu eine Liste gemacht, mit einem senkrechten Strich in der Mitte. Favorisierte Orte auf der einen Seite, favorisierte Tätigkeiten auf der anderen. „Kilkenny“, „Connemara“ und „Wicklow Mountains“ stand links, „Im Hostel arbeiten“, „Farmwork“ und „Au Pair (?)“ rechts. Nach einer Woche bei Kate und Damien war die Liste zerknüllt im Abfalleimer gelandet.
Ich zog meine ramponierte Pappmappe mit meinen Reiseunterlagen aus meiner Handtasche und prüfte, ob ich alles eingepackt hatte. Busticket nach Dublin – check. Reisepass – check. Flugticket – check. Ich starrte einen Moment lang das unscheinbare Din A4-Blatt an, das mich einmal um den Erdball nach Südamerika bringen würde. Santiago de Chile genau genommen. Eine Mischung aus Angst, Aufregung und Vorfreude erfasste mich bis in die Haarspitzen. Ich würde Spanisch lernen, in den Anden wandern gehen, mir an schwarzen Vulkanstränden den kalten Pazifikwind um die Nase wehen lassen. Es klopfte an der Tür. „Emma, kommst du?“, hörte ich Alicias dumpfe Stimme von der anderen Seite. Ich klappte meine Mappe zu und verstaute sie wieder sicher in meiner Tasche. Heute war Eröffnungstag der Galerie. Der Moment, auf den wir alle gemeinsam hingearbeitet hatten. Alicia hatte sich extra herausgeputzt. Sie trug ein hellblaues Kleid mit feinen weißen Blümchen und hatte sich die langen, blonden Haare zu einem dicken Zopf geflochten. Einzelne Strähnen hatten sich gelöst und umspielten kunstvoll ihr Gesicht. „Du siehst toll aus“, lächelte ich sie an und legte ihr den Arm um die Schultern.
Gemeinsam gingen wir hinüber in die Galerie, wo Kate aufgeregt zwischen ihren Bildern herumhuschte und sie akribisch gegeneinander ausrichtete. Ein Millimeter hier, ein Millimeter da, dass auch ja keines schief hing. Damien stand grübelnd vor seiner geliebten Braunbärenskulptur und dirigierte den schwitzenden Ole, der selbige abwechselnd ein Stück nach links und dann wieder zurück nach rechts schieben musste. Das Lampenfieber flirrte förmlich zwischen den sorgfältig platzierten Kunstwerken unserer Gastgeber. Alicia und ich verzogen uns in die Café-Ecke und bereiteten uns mit einigen letzten Handgriffen auf unsere ersten Besucher*innen vor.
Eine Stunde später drängten sich etwa 40 Leute auf den wenigen Quadratmetern, die Kate und Damien nicht für ihre Werke beansprucht hatten. Die niedrigen Holztische des Kunstcafés wackelten charmant unter der Last von Kuchentellern und Teetassen und Alicia strahlte vor Stolz, dass ihre selbstgebauten Möbelstücke tapfer ihren Dienst taten. Hinter einem klobigen Nashorn, das Damien aus Treibholz zusammengenagelt hatte, entdeckte ich Kates grauen Haarschopf. Mit großen Gesten redete sie auf Sean O’Donnell ein, den schirmbemützten, schnauzbärtigen Bürgermeister von Alliehies. Sie strahlte übers ganze Gesicht, sodass sich tiefe Freudenfalten um ihre Augen bildeten. Wie aus dem Nichts erschien Damien auf der Bildfläche, legte einen Arm um die Schultern seiner Frau und schüttelte mit der anderen Hand die des Bürgermeisters. Ich sah den beiden an, wie stolz sie waren. Wehmütig ließ ich meinen Blick nach oben über das kleine Holzschild wandern, das ich für die Tresenecke gestaltet hatte.
Allihies, my friend. You smile with your streets, you talk with your hills, you kiss with your stormy days. Allihies, my friend.
Ich verzog peinlich berührt das Gesicht. “Ganz schön kitschig“, schnarrte es in meinem Kopf, als ich von dem dezenten Klingeln, mit dem sich die Tür öffnete, aus meinen Gedanken gerissen wurde. Ciarán zwängte sich durch einen schmalen Spalt. Offenbar wollte er vermeiden, den Nieselregen, der draußen durch die Gassen wehte, mit hereinzubringen. Er schaute sich suchend um und lächelte, als er mich erspähte. Zwei Schritte schaffte er in meine Richtung, da klopfte ihm schon jemand auf die Schulter. Ciarán kannte jeden in Allihies und jeder kannte ihn. Er drehte sich um und schüttelte beherzt die Hand eines älteren Mannes, dem eine Pfeife aus dem Mundwinkel baumelte. Manchmal sahen die Iren schon herrlich stereotyp aus.
Die beiden wechselten ein paar Worte, vermutlich über den bevorstehenden Viehmarkt in Kenmare. Dann eiste sich Ciarán los und quetschte sich zwischen einer rothaarigen, jungen Frau mit einem rotwangigen Kind auf dem Arm und dem örtlichen Pfarrer, der sich die Wehwehchen zweier alter Frauen in dicken Strickjacken und knielangen Röcken anhörte, zu mir durch. „Hier ist ja richtig was los, fantastisch“, rief er begeistert und grinste mich breit an. Mein Herz hüpfte ein bisschen. Ciarán konnte sich so wunderbar für andere freuen. Aus unserer Affäre war inzwischen waschechte Zuneigung geworden.
Vor ein paar Tagen hatte Ciarán über einem Teller selbst gemachten Sheppard Pies vorsichtig gefragt, ob ich nicht einfach bleiben wolle. In Allihies, bei ihm. An sich sprach da nichts dagegen. Ich kannte inzwischen viele Leute im Dorf, bestimmt würde ich einen Job finden, der mich um die Runden brachte. Damien hatte auch schon angeboten, dass ich gegen eine kleine Miete im Cottage wohnen bleiben könnte. All das klang zu schön, um wahr zu sein und doch zögerte ich. Ein vages Gefühl sagte mir, dass ich nicht gekommen war, um zu bleiben. Und seit dem desaströsen Absturz in Galway war klar: Ich brauchte mehr Zeit, um mich zu lösen. Eine eigenständige Person zu werden und herauszufinden, was mir im Leben wichtig war. Die Reise musste noch ein bisschen weitergehen.
„Spielst du heute Abend im Pub?“, fragte ich, während ich Ciarán eine Tasse Tee über den Tresen reichte. Er pustete den heißen Wasserdampf davon und nickte. „Ja, ab acht ungefähr. Síle und Jimmy kommen vielleicht auch, dann machen wir eine Trad Session. Ansonsten spiel‘ ich halt wieder den Alleinunterhalter.“ Er nahm meine Hand und gab mir einen kratzigen Kuss auf die Fingerknöchel. „Kommst du vorbei?“, fragte er. „Klar“, antwortete ich und strich ihm liebevoll über die Wange. Mit einem großen Schluck trank Ciarán seinen Tee aus und verabschiedete sich. Er müsse noch die Lämmer füttern und den Hund einsperren, bevor er sich für den Abend fertig machen konnte. Alltag auf dem Land. Ich winkte ihm nach und beobachtete nachdenklich, wie er die Tür hinter sich schloss, den Kragen seiner Jacke hochschlug und in seinen rostigen Van kletterte. Beim Gedanken, ihn nicht mehr jeden Tag um mich zu haben, kamen mir fast die Tränen. Ciarán war ein Mann zum Wiedersehen. Irgendwann vielleicht.
Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche und zerstreute den aufkeimenden Abschiedsschmerz. Ich zog es hervor und linste auf den Bildschirm. Eine Sprachnachricht von Nele. Nach unserer Partynacht hatten wir noch zwei schöne Tage an der frischen Luft verbracht, waren wandern gewesen in der mystischen Hügellandschaft Connemaras, hatten einmal mehr die berühmten Cliffs of Moher bestaunt und in kleinen Küstenörtchen Seafood Chowder gegessen. Irland pur. Seit sie vor etwas mehr als drei Wochen abgereist war, hatte ich bis auf einige hastige Chatnachrichten kaum etwas von ihr gehört. Hatte sie ihre Dissertation nach der Ablehnung durch die Studienstiftung wohl wirklich abgebrochen? Gab es am Ende schon Neuigkeiten aus dem Bewerbungsmarathon, den sie kürzlich erwähnt hatte? Nele konnte sich schon immer gut verkaufen – ich hatte keine Zweifel, dass sie die Jobsuche schnell über die Bühne bringen würde. Möglicherweise hatte sie in der Zwischenzeit also eine komplett neue Richtung in ihrem Leben eingeschlagen.
Ich trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. 2:25 war die Aufnahme lang. Ob eine aufgelöste Karrierekrise in 2:25passte? Verstohlen sah ich mich um und überlegte, wie sehr es auffallen würde, wenn ich mich kurz verzog. Kate und Damien sprachen immer noch mit dem Bürgermeister. Inzwischen hatte sich der Pfarrer von den alten Damen losgeeist und sich zu dem Grüppchen dazugesellt. Alicia stand gedankenverloren vor einem von Kates Bildern und löste ihren Zopf auf. Die Gäste wirkten versorgt und in ihren Dorftratsch vertieft. Ich beschloss, dass die Lage entspannt genug war und winkte Ole herüber, um mich kurz an der Kaffeemaschine abzulösen. Als ich auf die Straße hinaustrat, schlug mir beißender Küstenregen ins Gesicht. Fröstelnd zog ich mir die Kapuze in die Stirn, drückte mich gegen die Hauswand, um dem Wind auszuweichen, und drückte auf „Play“.
Update von Nele
Nachdenklich blickte ich auf die beiden blauen Häkchen, die anzeigten, dass ich Neles Nachricht abgehört hatte. Ja, wer hätte gedacht, dass sich das Leben so entwickelt? Die akademische Nele als Jugendarbeiterin. Die zielstrebige Emma als planlose Reisende. Ich drückte auf den Aufnahmeknopf:
Ich reckte den Hals, um zu sehen, wie die Wolken vor dem kleinen Fenster waberten, als wären sie Lebewesen. Leider hatte ich so kurzfristig keinen Fensterplatz mehr bekommen. Ich war schon eine Ewigkeit nicht mehr in einem Flugzeug gesessen. Ganze fünf Jahre. Das hatten Anton und ich vor zwei Tagen herausgefunden.
Der Arme hatte mich wieder aufrichten müssen, nachdem von mir nur ein Häuflein Elend aus der Universität nach Hause gekrochen kam. Ich durfte nicht schon wieder an das Gespräch mit Frau Gunnich denken. Jedes Mal schossen mir erneut die Tränen in die Augen und in meinem Magen ballte sich eine maßlose Wut. Ich biss die Zähne aufeinander und fingerte an meinem Gurt herum. Es ärgerte mich, dass mir das Ganze so viel ausmachte. „Was soll’s“, könnte man doch sagen. Mir war schon klar, dass ich den Job als Sekretärin nicht ewig machen würde. Und die Dissertation? Zur Hölle damit! Die würde mir im Berufsleben sowieso nichts bringen – außer ich würde eine akademische Laufbahn einschlagen. Und das war von vornherein ein Kampf auf verlorenem Posten: Mir war bewusst, dass es sehr wenige Stellen gab, die von nimmermüden Profs wie Herrn und Frau Gunnich besetzt gehalten wurden. Aber dennoch, das musste ich mir jetzt eingestehen, gab es da eine kleine Stimme ganz hinten in meinem Kopf, die sich von Anfang an gefragt hatte: „Warum sollte nicht ich Professorin werden?“ Irgendwer musste es ja schließlich machen.
Frau Gunnich hatte den Realitäts-Check geliefert: Vergiss es! Offensichtlich war ich einfach nicht gut genug. Hatte nicht genügend Interesse an der Wissenschaft. Und mit Kind konnte ich es sowieso vergessen. Schluss. Punkt. Um. Als hätten Frau Gunnichs eigene Sätze nicht ausgereicht, schwirrten mir seitdem weitere durchs Hirn: Mit Kind kann ich eh nicht die nötige Konzentration aufbringen. Kein Wunder, dass mich bisher keine Stiftung wollte. Wieso habe ich eigentlich die letzten Jahre an eine Frau vergeudet, die mich so sieht? Ich ballte die Fäuste. Nicht. Dran. Denken. Das war doch der Plan. Mich abzulenken.
Es war Antons Idee gewesen. Ich hatte in einem Nebensatz fallen lassen, dass ich große Lust hatte, es Emma gleichzutun und einfach nach Irland abzuhauen. Und er meinte: „Nimm dir doch einfach Urlaub über das verlängerte Wochenende und besuch sie. Ich nehm’ die Kleine. Kein Problem.“ Es tat mir weh, dass jetzt Anton ausbaden musste, wofür er rein gar nichts konnte. Wegen meines spontanen Kurztrips über den Ersten Mai musste er sein Basketball-Training absagen. Außerdem wusste ich genau, wie sehr es schlauchte, wenn man Freja den ganzen Tag betreuen musste. Geschweige denn vier volle Tage!
In Dosen war sie wunderbar. Aber ihr Geturne und Gequake zerrte sehr schnell an den Nerven und bald an den Reserven. Es war unmöglich, dass sie einem mal fünf Minuten Zeit gab, sich zu sammeln. Das verstand eine fast Dreijährige nun mal nicht. Im Gegenteil. Bei derlei Wünschen stieg in der Regel der Nervfaktor exponentiell an. („Nein, Mama! Nicht die Augen zumachen! Du darfst jetzt nicht schlafen! Mama! MAMA! Ich will mit dir spiiieeeleeeen!!!“) Ich schüttelte mich und bedauerte erneut Anton, der sich der Aufgabe tapfer gestellt hatte. Weder seine Eltern, noch mein Papa waren an diesem Wochenende da und konnten mal zwei Stunden aushelfen. Pech gehabt.
Das letzte Mal, vor fünf Jahren, war ich auch nach Irland geflogen, sinnierte ich. Aus dem gleichen Grund: um Emma zu besuchen. Damals hatte ich sie auch sehr beneidet für den Mut, einfach eine Auszeit vom Uni-Alltag zu nehmen und ins Ausland zu gehen. Ich hatte zwar auch mit dem Gedanken gespielt, mich aber nicht dazu durchringen können. Und dann war die Frist abgelaufen. Irgendwie hatte ich mich davor gedrückt, mich und Anton einer solchen Distanz auszusetzen. Wir führten ja ohnehin schon über Jahre eine Wochenend-Beziehung. Dazu kam… ja was eigentlich. Mangelnder Mut? Angst vor Veränderung? Fehlendes Interesse? Manchmal ertappte ich mich dabei, dass mich andere Orte, Länder, Kontinente weniger reizten als das bei Gleichaltrigen üblich war. Ich war nicht bereit, dafür den mir bekannten und angenehmen Status Quo aufs Spiel zu setzen. Wofür auch? Was war denn so viel besser anderswo?
Scheinbar hatte sich auch bei Emma die anfängliche Euphorie etwas gelegt. Und wenn ich mir anschaute, wie Emma jetzt mit Ciarán und Alexander jonglierte, war ich wirklich froh, dass ich Anton hatte. Das musste super anstrengend sein, wenn man so ungebunden war. Wenn man ständig entscheiden musste, wie es weitergehen sollte. Ich hatte ein Zuhause. Auch wenn das mit der Uni gerade den Bach runterging: einige Konstanten in meinem Leben waren mittlerweile unerschütterlich. Das ersparte mir schon eine Menge. Emma wusste ja nicht einmal, wohin sie als nächstes gehen würde. Und wie lange. In die WG in Erlangen hatte sich mittlerweile ein Zweitsemester eingenistet, der sicher keine Anstalten machen würde, schnell wieder auszuziehen. Schließlich war die Wohnsituation in Erlangen wie immer angespannt. Die WG war in Top-Lage – von den Eins-A-Mitbewohnerinnen mal ganz abgesehen, die wohl auch ganz angetan waren von ihrem Neuzugang.
Das Flugzeug flog eine Kurve und legte sich sanft zur Seite. Dabei fiel die Sonne durch die gegenüberliegende Sichtluke auf mein Gesicht. Ich ergab mich einen Moment dem Gefühl zu schweben. Reisen hatte schon etwas. Keine Frage. Dieses Kitzeln im Bauch, voller Erwartung. Und die angenehme Vorstellung, die nächsten Tage keine Pflichten zu haben. Keine Pflichten! Wow. Wann hatte ich das das letzte Mal? Ich konnte mich wahrlich nicht erinnern. Anton hatte Recht – es wurde Zeit, dass ich mal rauskam.
Emma
Mit einem erleichterten Schnauben parkte ich den gemieteten Opel Corsa in einer Seitenstraße im hippen Westend Galways. Linksverkehr war einfach immer ein bisschen anstrengend am Anfang. Ich schloss den Wagen ab und sah mich um. Irgendwo hier musste unser Airbnb sein. Ein „Cozy Large Double Room In The Most Exciting Neighborhood of Town” wie das Inserat der privaten Unterkunft versprach. Während ich die Hausnummern der St. Joseph’s Avenue abscannte und mich wunderte, wie man eine derart schmale, unscheinbare Straße als „Avenue“ bezeichnen konnte, zückte ich mein Handy. „Shit, schon so spät“, entfuhr es mir. Viertel nach drei. Neles Bus würde theoretisch genau jetzt aus Dublin ankommen und ich hatte versprochen, sie am Busbahnhof in Empfang zu nehmen. Das Airbnb würde warten müssen. Ich machte auf dem Absatz kehrt und eilte in Richtung Stadtzentrum. Im Gehen ließ ich die Finger wie automatisiert über den Touchscreen tanzen.
Im letzten Moment wich ich einer älteren Dame aus, die ich in bester ‚Smombie‘-Manier fast über den Haufen gerannt hätte. Sie sah mich strafend an. ‘Könnt ihr jungen Leute nicht mal fünf Minuten nicht aufs Handy starren‘, schien ihr Blick zu sagen. Ich lächelte entschuldigend. Sie hatte ja Recht. Reumütig steckte ich das Telefon in meine Handtasche und eilte mit großen Schritten dem salzigen Küstengeruch von Galway nach. Die bunten Holzfronten der lose aneinandergereihten Cafés und Pubs wirkten vertraut, obwohl ich diese Ecke der Stadt erst kurz vor meiner Abfahrt nach Kerry entdeckt hatte. Sie markierten den Beginn meiner Reise, hier hatte ich mein anfängliches Heimweh in Red Ale ertränkt, einen ersten Tagebucheintrag verfasst und Eselsohren in meinen Reiseführer geknickt.
Als ich den schmalen Flussarm erreichte, der sich von der Mündung des Corrib aus wie ein Abtrünniger verselbstständigte als wollte er sich über den wohl kürzesten Fluss Irlands lustig machen bevor er sich nach einem ausladenden Bogen doch wieder in den Strom eingliederte, ließ ich von meinem Stechschritt ab. Ich zog am Salt House vorbei, wo sich in wenigen Stunden Galways Berufstätige zu einem Feierabendbier zusammenrotten würden, und gelangte schließlich zu der Brücke, die das Westend mit dem Stadtzentrum verband. Ich ließ den Blick am Claddagh Quay entlangschweifen, der sich an der breiten Flussmündung entlang zog und wo sich ein paar Studentengrüppchen in der blassen Sommersonne fläzten. Über ihnen drehten unzählige Möwen ihre Kreise und jaulten ihre Klagerufe in den blauen Atlantikhimmel. Ich mochte Galway, das sich mit dem rauhbeinigen Augenzwinkern einer irischen Küstenstadt so jung und hip in Szene setzte.
Ein leises Brummen in meiner Handtasche erinnerte mich daran, dass ich es eigentlich eilig hatte. Während ich die kopfsteingepflasterte Quay Street hinaufstolperte, bewies ich, dass ich aus meinem Fast-Zusammenstoß mit der Dame im Westend nichts gelernt hatte und entsperrte wieder im Gehen mein Handy. Nele.
Ich hob den Blick und schlängelte mich durch das kleine Publikum eines Gitarristen, der vor einem Souvenirshop voller Pullis aus echter Ayran Island-Wolle, Leprechaun-Kühlschrankmagneten und Guinness-T-Shirts inbrünstig seine Version von ‚Whiskey in the Jar‘ zum Besten gab. Die Quay Street war das touristische Epizentrum Galways. Hier drängte sich die Pubs im Schulterschluss und balgten sich mit mehr oder weniger lustigen Sprüchen, mühevoll mit Kreide auf große Tafeln gemalt, um die Aufmerksamkeit der Gäste aus aller Welt. „All children left unattended will be given an espresso & a free kitten” las ich zwischen den rot eingerahmten Fenstern des ‚Fat Freddy’s‘ und lachte unweigerlich auf. Ich mochte Galway, selbst hier, wo sich Irland selbst inszenierte und zum Land der ausgelassenen Trinkkultur und Wollsweater stilisierte. Die Quay Street lieferte, was Tripadvisor versprach.
Während die fast übertrieben irisch anmutenden, bunten Häuserfronten langsam der Globalisierung in Form von H&M, Zara und Co. Platz machten, verfluchte ich mein schlechtes Zeitmanagement. Ich freute mich riesig, dass Nele gekommen war. Angekündigt hatte sie es ja, aber geglaubt hatte ich ihr nicht. Es war das immer gleiche Phänomen, wenn man anderen von einem geplanten längeren Auslandsaufenthalt berichtete: Das Gegenüber bekam leuchtende Augen und sah sich schon im jeweiligen Land residieren, ganz umsonst und mit persönlichem Tourguide. ‚Ich komm‘ dich besuchen‘ war wohl die häufigste Reaktion, die ich auf meine Pläne bekommen hatte – egal, wie nahe oder eben nicht mir der oder die jeweilige Gesprächspartner*in stand. Ich lächelte dann freundlich und nickte. ‚Jaja, machst du eh nicht.‘.
Aber Nele hatte Wort gehalten. Die unwahrscheinliche Nele, die sich loseisen musste von Kind und Heim und Job. Ich hatte mir ausgemalt, wie ich dastehen würde, wenn der Bus aus Dublin um die Ecke bog, wie ich überschwänglich winken würde und wie wir uns schließlich herzlich in die Arme fallen würden. Eine wunderbare Szene, vereitelt durch einen Stau, der mir noch unwahrscheinlicher vorkam als Neles Besuch. In einem winzigen Dorf namens Adare war ich steckengeblieben. Gefühlt die einzige Ampel zwischen Killarney und Limerick machte den Ort zum Nadelöhr. Ich hatte mich nicht einmal aufregen können, dass ich mich verspäten würde, so baff war ich gewesen.
Kopfschüttelnd zog ich mein Handy wieder aus der Tasche und prüfte, ob Nele nochmal geschrieben hatte. Scheinbar nicht. Um sicher zu gehen, öffnete ich Whatsapp – die Nachrichtenanzeige der App spinnte manchmal. Ein paar Zeilen unter Neles Chat blieb mein Blick an Alexanders Profilbild hängen. Es hatte sich geändert. Ich zögerte. Waren das zwei Leute auf dem Foto? Ich beschloss, dass mich das nichts anging und spurtete weiter die Fußgängerzone entlang. Kurz bevor ich den Eyre Square erreichen und damit auf Nele treffen würde, hielt ich es doch nicht mehr aus. Zum gefühlt 34. Mal innerhalb der letzten zehn Minuten kramte ich mein Handy aus den erstaunlichen Tiefen meiner kleinen Lederhandtasche, öffnete den Messenger und tippte auf Alexanders Bild. Es breitete sich über meinen Bildschirm aus und präsentierte damit das volle Ausmaß des Unerwarteten: Alexander, strahlend von einem Ohr zum anderen und Arm in Arm mit einer beeindruckend schönen Frau, die ihm einen innigen Kuss auf die Wange gab. Mit geschlossenen Augen. So sehr ich mich bemühte, das sah verdammt nochmal nicht nach Freundschaft aus.
Ich spürte wie meine Körperfunktionen herunterfuhren und blieb resigniert stehen. Ich starrte auf das Foto. Alexander hatte eine Andere. Der Alexander, zu dem ich auf einer Ebene, die sich jetzt erst offenbarte, zurückwollte. Mein Hintertürchen in mein altes Leben fiel krachend zu, während Alexanders Offenbarung eines glücklichen Neuanfangs vor meinen Augen verschwamm. „Emma!! Da bist du ja!!“, hörte ich durch meinen Tränenstau eine vertraute Stimme. Nele. Ich wischte Whatsapp bei Seite, verzog die Mundwinkel zu einem Strahlen und lief ihr entgegen. Da war sie ja.
Nele
Emma war braungebrannt. Nein, nicht wie Tourist*innen, die sich zwei Wochen auf Mallorca in der Gluthitze gebraten hatten. Zum einen war die klägliche Sonne Irlands zu so einer Farbe vermutlich schlicht nicht in der Lage und zum anderen würde sich Emmas aktueller Hautton nicht nach ein paar Tagen ohne Sonnencreme in kleinen Röllchen runterschuppen. Nein, Emma war wettergegerbt. Wie es nur jemand sein konnte, der über Wochen und Wochen sehr viel Zeit an der frischen Luft verbracht hatte. Sie roch nach Salz, wie alles in Galway, Seife, Wind und leicht streng nach Schafswolle, was wohl an ihrem übergroßen Wollpullover lag. Kurzum: sie roch fantastisch. Ich strahlte sie an, blinzelte in der unerwarteten Sonne und ließ das Städtchen auf mich wirken. So hatte ich mir das vorgestellt!
„Wo geht man denn hier einen trinken? Komm, ich lad dich ein“, sagte ich überschwänglich und hakte mich bei Emma unter. Wir spazierten an einer Menge hübscher Caféfronten vorbei, während Emma mir erklärte, welche Läden in irgendwelchen Folkliedern besungen wurden. Wir schlängelten uns zwischen Tourist*innen und Einheimischen durch und ich unterdrückte den Impuls, ständig mein Handy zu zücken und von jeder einzelnen bunten Shopfront ein Erinnerungsfoto abzuspeichern. Ich hatte Sendepause. Endlich mal. Ich sog den scharfen Fischgeruch ein und genoss eine Weile unser zielloses Schlendern.
Irgendwann lichtete sich der Trubel ein wenig und wir kamen in eine etwas ruhigere Gegend. Neben einen Take-Away und einer Gaybar reihten sich hier ein Yogastudio und ein Waschsalon in das Stadtbild ein. „Und hier hab’ ich mich mal fürchterlich betrunken. Weißt du noch – ich hab’ dir ne Voicemail geschickt.“ Emma deutete auf einen unscheinbaren Pub mit dunkelroter Holzverschalung. In zwei Pflanzschalen baumelten etwas traurige Geranien rechts und links von einem Schild, das in großen geschwungenen Lettern den Namen des Pubs verkündete: The Blind Spot. Sehr treffend. Neben der verspielten und etwas Hipster-mäßigen Deko der anderen Läden trat der Pub so weit zurück, dass ich ihn andernfalls wahrscheinlich komplett übersehen hätte. „Perfekt!“ Ich zog Emma in Richtung der dunklen Eingangstür.
Drinnen war es schummrig und roch dezent nach Bier. Wir ließen uns auf zwei gegenüberliegende Lederbänke plumpsen und lehnten uns an die Holzwände, die unseren Tisch von den anderen trennte. Der Pub war beinahe komplett leer. Ich schob die Karte zur Seite. „Was trinkt man hier? Smithwicks? Willst du auch was essen?“ Ich erinnerte mich plötzlich sehr lebhaft an das letzte Mal, als ich in Irland essen gegangen war. „Meinst du, es gibt hier Seafood Chowder?“ Mit neuem Interesse wandte ich mich der Karte zu.
Emma
Verstohlen linste ich über den Rand meiner laminierten Speisekarte zu Nele hinüber. Mit zusammengezogenen Augenbrauen studierte sie die klägliche Auswahl von fünf Tagesgerichten, die handschriftlich auf fleckige Zettel gekritzelt im Umschlag der Karten steckten. The Blind Spot war nicht gerade für seine exquisiten Speisen bekannt. Auf den ersten Blick wirkte Nele einfach nur glücklich, mal wieder Urlaub zu haben. Je eingängiger ich sie musterte, desto mehr Details deuteten jedoch noch etwas anderes an. Sie hatte leichte Schatten unter den Augen, ihre Mundwinkel wirkten ungewöhnlich angespannt und sie war bleich. Jetzt, im Sommer! Die Nele, die sich bei den ersten warmen Frühlingsstrahlen in den Bikini warf und es stundenlang in der prallen Sonne aushielt. Die jede freie Minute draußen verbrachte, entweder mit Freja auf dem Spielplatz oder beim Laufen oder Wandern.
„Och, kein Seafood Chowder… naja, dann nehm‘ ich halt Fish and Chips!“, jubilierte sie einen Tick zu aufgekratzt. Ich legte meine Speisekarte auf der Tischplatte ab und lächelte sie an. „Nele? Wie geht’s dir denn?“ Sie runzelte irritiert die Stirn, vermied aber meinen Blick. Stattdessen sah sie durch die milchigen Fensterscheiben nach draußen und beobachtete einen Moment lang die vereinzelten schemenhaften Gestalten, die auf der anderen Seite vorbeihuschten. „Was meinst du? Super geht’s mir, ich hab‘ schließlich Urlaub!“ Damit schaffte sie es, sich ein ehrliches Grinsen übers Gesicht zu ziehen und mir in die Augen zu sehen. Ich legte den Kopf fragend zur Seite: „Ich meine nur, ich hab‘ den Eindruck, dass du ziemlich mitgenommen wirkst.“ Sie zuckte die Schultern. „Naja, die Arbeit lief schon außergewöhnlich beschissen in letzter Zeit. Und Freja ist nur noch trotzig. Klar ist das anstrengend.“ Das geballte Leid junger, berufstätiger Mütter heruntergebrochen auf drei nüchterne Sätze.
Nele beeindruckte mich immer wieder mit ihrer Art, mit Problemen umzugehen. Sie jammerte nicht, sie suhlte sich nicht in Selbstmitleid – ‚So wie ich‘, schoss es mir durch den Kopf – , sondern packte die Welt beim Schopf und machte sie sich passend. Als damals ihre Mutter gestorben war, war sie die einzige in der Familie gewesen, die für die Übernahme des Hauses infrage kam. Also zog sie ein, später kam Anton dazu und jetzt war es ihr gemeinsames Familiendomizil. „Es muss ja weitergehen“, hatte sie damals gesagt, mit demselben Schulterzucken. Ich beschloss, das Thema erstmal gut sein zu lassen. Sollte sie ruhig erst einmal ankommen und sich von der ausgelassen-fröhlichen Atmosphäre Galways mitreißen lassen. Ich ging zur Bar und bestellte uns zwei Bier. „Ach, und zweimal Fish and Chips. Sorry!“, rief ich dem beleibten Barkeeper nach. „Sure, luv, that’s grand“, murmelte er im Gehen.
Als ich mich umdrehte und mich im Dämmerlicht des Pubs nach unserem Platz umsah, war Nele weg. Toilette wahrscheinlich. Ich ging in unsere Ecke, zwängte mich wieder auf die schmale Bank und fischte mein Handy aus der Handtasche. Schon wieder. Ich rief einmal mehr Alexanders Profilbild auf und studierte es eingängig. Die beiden waren ein Paar, eindeutig. Ich seufzte. Verblendet wie ich war hatte ich mir eingeredet, dass der wenige Kontakt zu Alex eine Art Anker gewesen war. Ein Orientierungspunkt für meine weitere Reiseplanung. Oder auch Rückkehrplanung. Pustekuchen. Vor meinem inneren Auge tat sich ein Abgrund an Möglichkeiten auf, der mir die Kehle zuschnürte. Vogelfrei und verloren zugleich – ich war wieder am Ausgangspunkt meiner Irlandzeit angekommen.
Nele
„Godless. Diese Serie, ich sag’s dir“, ich fuchtelte so engagiert mit meinem vollen Pint herum, dass es ein wenig überschwappte. „Ich war so sauer, dass am Ende der Showdown zwischen diesen beiden Typen stattgefunden hat.“ Ich setzte mein Pint ab und mimte mit meinen Händen Revolver. „Piu! Piu! So ein Klischee! Dabei soll Godless der erste weibliche Western sein, starke Frauen und so weiter. Und dann entscheiden doch die Männer am Schluss unter sich, wer gewinnt: der ,Böse’ oder der ‚Gute’. Der dann nach siegreichem Duell auch noch schmalzig in den pinken Sonnenuntergang reitet. Da hätt’ ich fast gekotzt, ehrlich!“ Ich nahm einen beherzten Schluck Pale Ale. Emma nickte zustimmend und prostete mir zu. „Das hatten wir doch auch damals in Medienwissenschaft, weißt du noch“, sinnierte sie. „Dass Männer häufiger die Handlung dominieren und Frauen eher passiv sind…“ „Ja genau“, unterbrach ich sie. „Man hätte eigentlich alle Frauen aus der Serie rausschneiden können und die Handlung wäre fast dieselbe. So ätzend.“ Emma hob ihr Glas. Wir stießen an und tranken.
Mittlerweile hatte Emma mich in eine etwas coolere Bar im ‚Westend’ Galways gelotst. Hier saß man auf niedrigen Hockern und Sesseln und konnte neben den üblichen Stouts und Ales auch diverse Sorten Gin Tonic und Moskow Mule bestellen. Oma-Lampen aus den Fünfzigern bissen sich herrlich mit bunten Teppichen, die überall verteilt lagen. Ebenso wie mit den verschieden großen Bilderrahmen, die bunt zusammen gewürfelt jeden Quadratzentimeter Wand bedeckten. Aus den Lautsprechern quoll eine Mischung aus Swing und Elektropop. Emma und ich mussten uns tief über die Weinkiste beugen, die als Tisch zwischen uns stand, um einander zu verstehen.
Ich schüttelte den Kopf und versuchte meine Gedanken zu kontrollieren. Beim Thema Gendergerechtigkeit drohten mir regelmäßig die Pferde durchzugehen. „Das ist so krass. Bei uns an der Uni ist jetzt schon die Nächste in Elternzeit gegangen. Was meinst du, wie lange?“ Ich ob fragend die Brauen. Emma seufzte. „Ein Jahr?“ „Drei! Drei volle Jahre! Und die Begründung fand ich am geilsten: ‚Ja, mein Mann verdient nun mal besser.’ Klar, daran ändert sich natürlich auch nichts, wenn die Frauen reihenweise den Job hinschmeißen.“ Ich nahm empört einen weiteren Schluck. „Mit Steuerklassen und Ehegatten-Splitting brauch ich ja jetzt nicht schon wieder anzufangen – das hab’ ich dir ja oft genug an den Kopf gequatscht. Aber echt, das ist eine Enteignung von Frauen. Da werden Frauen einfach gezielt von Männern abhängig gemacht. Ich find das krass. Vor allem auch unter Akademikerinnen wie uns.“
Emma nickte. „Ja, deine Professorin ist ja das beste Beispiel, dass die Genderklischees nicht zuletzt von Frauen aufrechterhalten werden.“ Ich spürte schon wieder diesen heißen Ball in der Magengegend. „Absolut!“, pflichtete ich ihr bei. „Aber das ist ja eh das Geilste: Die kinderlose, reiche Akademikerin denkt natürlich, sie weiß, wie das als Mami so ist. Schluss mit der Karriere. Bis zur unbefristeten Sekretärinnen-Stelle und nicht weiter.“ Emma legte mir tröstend die Hand auf den Arm. „Lass dich von der nicht kleinkriegen. Du kannst dir auch nen anderen Prof suchen, wenn du weiter machen willst mit deiner Diss. Ich fand das ziemlich gut, was ich gelesen hab’.“ Ich sah sie zweifelnd an. „Echt?“ „Ja, echt. Ok, es war schon ziemlich verkopft das Ganze, aber hey: soll ja auch ne Doktorarbeit sein.“ Sie zwinkerte mir zu. Ich streckte die Zunge raus und wir prosteten uns erneut zu.
„Aber echt, ey. Mich nervt das so, dass mich niemand ernst nimmt. Das ist ja nicht nur Frau Gunnich. Ich hab’ das Gefühl, dass mich jeder nur als Mami sieht. Ich hasse das. Andere Mamis sind am schlimmsten! Da gibt’s so viele, die bestätigen das Klischee. Gerade bei uns in Neuenheim.“ Ich schüttelte den Kopf. „Da geht es dann darum, dass man Wollseide-Kleidung für den verzogenen Nachwuchs kauft, oder die nur Sesam-Dinkelkekse knabbern dürfen. Und die nennen sich dann alternativ.“ Emma schlug sich die Hand gegen die Stirn. „Ja, das ist geil. Und dann kutschieren ihre Bälger mit dem SUV in den Waldkindergarten.“ „Genau, genau!“ jubilierte ich. „Das ist so verlogen! Die Mamis hocken dann im ‚Elterncafé’ rum – ich wette, da geht nie ein Kerl hin – und gehen zum Babyschwimmen oder Kinderturnen oder dem ganzen Quatsch. ‚Ich bin so froh, wenn ich August mal abgeben kann. Dann kann ich endlich in Ruhe einkaufen gehen und den Haushalt machen.’ Vielen Dank für zweihundert Jahre Emanzipationsgeschichte.“
Emma kicherte in ihr Smithwicks. Ich drehte den schal gewordenen Bodensatz meines Ales hin und her. „Und das Schlimme ist, dass ich mich jetzt wie eine Versagerin fühle. Nach dem Motto: Siehste, klappt halt nicht als Mami.“ Ich nahm bitter den letzten Schluck. „Ohne Freja wär’ ich jetzt wahrscheinlich auch ganz woanders. Ich hätte diesen Uni-Job erst gar nicht angenommen.“ Emma verzog den Mund. Es entstand eine unangenehme Pause, in der sie an ihrem Bierdeckel herumspielte. „Tja, dann wärst du jetzt vielleicht da, wo ich jetzt bin. Yay!“ Wir blickten uns einen Moment über unsere Gläser an, während ich erfolglos versuchte, mich in Emmas Rolle zu versetzen. „Wir brauchen mehr Alkohol“, murmelte ich und stand leicht schwankend auf.
Emma
Eine tiefe Zornesfalte hatte sich auf Neles Stirn gebildet. Ich konnte zusehen wie sie sich in Rage redete. Immer wieder verzog sie ärgerlich das Gesicht und spuckte mir Wörter wie ‚Ehegattensplitting‘, ‚Steuerklassen‘ und ‚Elternzeit‘ entgegen. Ich nickte in regelmäßigen Abständen, um meine Zustimmung zu signalisieren, versuchte es hier und da mit einem kleinen Einwurf – immer in der Hoffnung, in die richtige Kerbe zu schlagen. Ihre Wut war nachvollziehbar, sie wuchtete all die Zeitungsartikel, Talk-Runden und Fernsehbeiträge, die das Thema Ungleichbehandlung zwischen Männern und Frauen in Deutschland immer wieder beackerten, in die Realität. Das passierte wirklich und es konnte – und würde höchstwahrscheinlich – auch mir einmal passieren. Und doch fühlte ich mich als würde ich ein Fußballspiel schauen, während ich meiner Freundin lauschte. Ich saß auf der Tribüne und sah mir ihre Kämpfe unten auf dem Platz aus der Ferne an, erlebte ihre Emotionen und verstand theoretisch, woher diese kamen. Die Spielregeln durchblickte ich jedoch nicht.
Da saßen wir: zwei Frauen, gleiches Alter, gleiche Bildung, gleiches Bier – und doch Welten voneinander entfernt. Während Nele aufgebracht nach Luft schnappte und ihre Tirade fortsetzte, fühlte ich mich um Jahre in meiner Entwicklung zurückgeworfen. Wie ich mir über ein paar belanglosen WhatsApp-Nachrichten eingeredet hatte, dass Alexander wieder mit mir zusammenkommen wollte. Albern. Wie ich jetzt schmollte wie ein kleines Kind, das seinen Teddybären verloren hat, weil diese Illusion geplatzt war. Und wie ich arbeits-, wohnungs- und vor allem ziellos durch die Gegend eierte – ohne Plan, ohne Perspektive, ohne höheren Grund. Vollkommen lächerlich. „Werd‘ erwachsen“, schnarrte die unangenehme Stimme, die seit meiner Kündigung im Rauschen der westirischen Wellen untergangen war.
Nele hielt kurz inne und schaute mich mit großen Augen an. „Ohne Freja wär’ ich jetzt wahrscheinlich auch ganz woanders. Ich hätte diesen Uni-Job erst gar nicht angenommen“, sagte sie und verschluckte sich ein wenig, als könnte sie selbst kaum glauben, dass ihr das gerade über die Lippen gekommen war. Ich zögerte einen Moment. „Tja, dann wärst du jetzt vielleicht da, wo ich jetzt bin. Yay!“, entgegnete ich kraftlos. Da saßen wir also, die Luft zwischen uns schwer vor lauter Sehnsüchten, die bei der jeweils anderen erfüllt zu sein schienen, und blickten uns ratlos an. Wir brauchten mehr Alkohol. „Aber nicht hier“, rief ich und hielt Nele gerade noch rechtzeitig davon ab, an die Bar zu stiefeln. „Wir gehen tanzen!“
Nele
Nach all den Jahren Beziehung mit Anton wunderte ich mich manchmal, ob ich auf andere Männer überhaupt noch attraktiv wirkte. In festen Händen zu sein, sparte einem natürlich jede Menge Energie. Aber eben auch ziemlich viel Nervenkitzel. Tinder. Tinder war bei einigen meiner Freund*innen gerade mega im Trend. Einmal links wischen. Einmal rechts. Wenn man gematcht war, konnte man sich darüber freuen, dass irgendein Typ das eigene Profilbild mit „würde ich Sex mit haben“ markiert hatte. Geil.
Mein Blick scannte den dunklen Raum nach brauchbarem Männermaterial ab. Die Iren waren schon ganz schick. Bärtig. Witzig. Ein bisschen klein vielleicht. Ich setzte mir eine persönliche Challenge: Einen Typen finden, der mich auf Tinder nach rechts wischen würde. „Diagnose: fuckable.“ Mehr nicht. Ein Spiel. Ok. Go.
Mit neuem Selbstbewusstsein bewegte ich mich über den Dancefloor und ließ den Blick weiter schweifen. Das Licht blitzte hier und da in ein paar interessierte irische Männeraugen. Ich fühlte mich gut. Leicht. Begehrt. Ich begann mit geschlossenen Augen zu tanzen. Als ich die Augen öffnete, stand vor mir ein süßer Ire mit rötlichem Wuschelkopf und grinste mich fragend an. Ich grinste zurück. Perfekt. Rechts wisch. Wir lauerten eine Weile tanzend umeinander herum. Dann legte er seine Hände auf meine Hüfte. Wir bewegten uns jetzt im Einklang. Rechts. Links. Wir rückten noch ein wenig näher. Seine Hand wanderte auf meinen Po. Das fühlte sich ziemlich gut an.
Emma
„WO ZUR HOLLR BIST DU??“, tippte ich aufgebracht. Der vierte Gin Tonic des Abends tat seine Wirkung und ich kniff mein rechtes Auge konzentriert zusammen, um die gefühlt 25. Nachricht an Nele einzutippen. Seit einer Stunde war sie spurlos verschwunden, irgendwo in der zappelnden Menge auf der Tanzfläche. Seitdem zog ich ununterbrochen meine Runden, reckte den Hals und zwängte mich zwischen schwitzenden Karohemdenrücken und klebrigen Frauenoberarmen durch. Es schien praktisch unmöglich, dass ich sie nirgends finden konnte – so groß war der Raum auch wieder nicht. Vor meinem inneren Auge begannen sich Horrorszenarien abzuspielen: Nele mit einem fremden Mann im Taxi, viel zu betrunken, am Ende sogar bewusstlos. Was, wenn ihr jemand etwas ins Getränk gemischt hatte? Nele bei irgendjemandem zu Hause. Nele, die einen Mann küsste, der nicht Anton war. Vielleicht sogar fremdging und damit alles aufs Spiel setzte. Mir wurde schlecht. Das war alles meine Schuld, schließlich hatte ich sie in dieses Loch gezerrt. Verzweifelt stellte ich mich auf die Zehenspitzen und musterte die wippenden Haarscheitel. Keiner davon war blond und kurz und sah nach Nele aus. Ich setzte meine Fersen wieder auf den Boden und schwankte leicht. Mir war schwummrig im Kopf. „Pause. Frische Luft“, dachte ich und stolperte die schmale Treppe des Clubs hinauf in Richtung Ausgang.
Draußen auf dem Bürgersteig atmete ich tief ein. Meine Gedanken überschlugen sich und surrten wild durch meinen Kopf. „Jetzt nur nicht die Nerven verlieren“, dachte ich und holte nochmals Luft. Mit zitternden Händen fingerte ich nach meinem Handy. Wen konnte ich anrufen? Wer konnte helfen? Ich versuchte es einmal mehr bei Nele. Mailbox, schon wieder. Ich legte auf und starrte auf mein Display. Schwankte ein wenig und fing mich mit einem kleinen Schritt zur Seite ab. Die Lösung erschien meinem benebelten Hirn glasklar. „Alexander“, dachte ich. „Ich muss mit Alexander reden.“ Kurzentschlossen tippte ich auf seinen Kontakt und wählte seine Nummer.
„Jaaaa?“, meldete er sich nach dem neunten Klingeln. Ich hatte mit klopfendem Herzen mitgezählt. „Alexander, ähm, hi“, stammelte ich. „Was ist?“, fragte er knapp. Er klang heiser und ich realisierte viel zu langsam, dass ich ihn aufgeweckt hatte. Es war schließlich mitten in der Nacht. „Hör mal, ähm, ich hab‘ ein Problem“, jammerte ich hilflos. „Nele ist hier bei mir in Galway und wir sind feiern. Sie ist verschwunden, ich weiß nicht weiter. “ Mir kamen die Tränen und ich schluchzte dramatisch ins Telefon. Alexander schwieg. „Hallo?“, weinte ich. Er räusperte sich. „Hast du in der Damentoilette nachgesehen?“ – „Ja..“ – „Die Bar abgesucht?“ – „Jaa…“ Alexander räusperte sich wieder, ich konnte sein Unbehagen förmlich in der Magengegend spüren. Im Hintergrund hörte ich eine verschlafene Frauenstimme. „Sorry, Schatz, meine Ex hat ein Problem – weiß auch nicht, warum die da jetzt gerade mich anruft“, murmelte er gedämpft. Seine Worte arbeiteten sich mühsam durch meinen Dämmerzustand und entlarvten mit bitterbösem Lächeln, wie absurd ich mich verhielt. Ich wankte wieder und stützte mich an der Hauswand ab. Sie war bei ihm. Jetzt gerade! Und er nannte sie Schatz! Ohne ein weiteres Wort legte ich auf, setzte mich auf den Bordstein und heulte wie ein Schlosshund.
Nele
„Das ist ok, aber zwischen uns läuft nix, klar? Nur tanzen!“, brüllte ich dem Rotschopf auf Englisch ins Ohr. Er nickte grinsend. Wir wiegten uns noch ein bisschen weiter hin und her. Ich war mittlerweile ganz schön heiß auf den Typ. Unsere Umarmung wurde immer enger, der Druck seiner Hand immer fordernder. Als seine andere Hand zu meinem Busen wanderte und sein Mund meinen suchte, ließ ich bedauernd von ihm ab. „Sorry, Dude!“, rief ich ihm zu und verschwand Richtung Toiletten.
Ich starrte mein Spiegelbild an und versuchte herauszufinden, was ich empfand. Bedauerte ich mein kleines „Fremdtanzen“? Eigentlich nicht. Bedauerte ich, nicht mit dem Typ in die Kiste zu steigen? Eigentlich auch nicht. Ich bedauerte, dass er nicht beim Tanzen hatte bleiben wollen. Mh. Ich strich mir eine schwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht. Attraktiv wohl doch noch. Wie viel Uhr war es überhaupt? Ich fingerte mein Handy aus meiner Tasche. Hups. Fünf verpasste Anrufe von Emma. Einige Whats-App-Nachrichten. Mit schlechtem Gewissen einerseits und einem unerhört verflucht guten Gefühl andererseits suchte ich meine Freundin.
Emma
Ich zitterte und schämte mich. Nicht, weil mich eine Gruppe junger Frauen in schwindelerregend hohen Absätzen und Kleidern, die nur halbherzig Brüste und Po bedeckten, im Vorbeigehen mitleidig musterte. Nicht, weil mir der Türsteher schon dreimal auf die Schulter getippt und mich gebeten hatte, nach Hause zu gehen. Und auch nicht, weil mich Nele inzwischen aufgegabelt und in ihren Schal gewickelt hatte. Ich schämte mich vor mir selbst – dass ich mich so zum Affen gemacht und genau die Rollenklischees erfüllt hatte, über die Nele und ich vor wenigen Stunden noch so arrogant gelacht hatten. Damsel in Distress. Macht einen auf unabhängig und muss am Ende doch den Ritter in der glänzenden Rüstung um Rettung anflehen. Der zu allem Überfluss mit einer neuen holden Maid im Bett liegt.
Ich vergrub mein Gesicht zwischen meinen Knien und stöhnte gequält. Nele strich mir über den Rücken. „Komm‘, wir gehen heim“, sagte sie. Sie versuchte, mitleidig zu wirken, aber ich konnte ihr heimliches Strahlen im Nacken spüren. Sie hatte einen tollen Abend gehabt, während ich sie wie eine Bekloppte gesucht hatte und schließlich nach einem inzwischen schwer nachvollziehbaren Akt der Selbsterniedrigung als besoffenes Häufchen Elend auf der Straße gelandet war. Ich schluckte meinen Ärger hinunter. Ich gönnte es ihr ja. Und es war schließlich nicht ihre Schuld, dass ich mich von meiner längst verflossenen Beziehung nicht lösen konnte. Es reichte. Entschlossen stand ich auf, hielt mich kurz an Neles Schulter fest, wischte mir mit ihrem Schal über die Wangen und winkte nach einem Taxi. „Genug“, dachte ich kopfschüttelnd. „Genug rumgeeiert.“
Ich versuchte angestrengt, mich auf den Text vor mir zu konzentrieren. Eine Theorie vom Psychologen Mark Freeman mit dem Titel „Axes of Identity“. Ich hatte ihn als Einstiegslektüre für mein Seminar zu Identitätsromanen geplant. Es ging im Groben darum, dass man sich unterschiedlich verhielt, je nachdem, mit welchem Personenkreis man interagierte. Über die Zeit baute man sich so verschiedene Varianten seiner Selbst. Freeman bezeichnete sie auch als „Personas“ oder „Masken“, die man in bestimmten sozialen Situationen über sich stülpte. So hatten zum Beispiel die eigenen Eltern ein anderes Bild von einem, als die Freund*innen, der Liebhaber, die Lehrer*innen und so weiter. Erstaunlicherweise, das war zumindest Freemans These, verinnerlichte man diese Masken aber ein Stück weit. Und so bestand die Gefahr, dass man sich selbst mit den Bildern identifizierte, die andere von einem hatten – und irgendwann handelte man nicht mehr nach den eigenen Wünschen, sondern danach, welche Erwartungen andere an einen stellten. Ich brütete, wie ich die Theorie meinen Student*innen am ehesten erklärlich machen konnte und bereute schon, dass ich diesen doch recht komplexen Text als Einstiegslektüre gewählt hatte. Ich wollte sie am Beispiel unseres ersten Romans arbeiten lassen: Inwiefern hatte die Protagonistin verschiedene „Personas“? Wie verhielt sie sich in bestimmten sozialen Konstellationen? Wie sah sie sich selbst? Wie wurde sie durch andere Figuren charakterisiert?
Ich war spät dran. Mein Unterricht startete schon in etwas mehr als dreißig Minuten. Nach meinem katastrophalen Abend, hatte ich erst einmal einen Tag Lebenskrise eingeschoben. Ich war völlig aufgelöst zu Hause angekommen. Anton hatte eine Weile gebraucht, bis er aus meinem wirren Gerede und Geheule Sinn ziehen konnte. Er hatte sich mit mir auf die Küchenbank gesetzt und sich alles im Detail angehört. Mir zugehört – von meinen wütenden Schimpftiraden bis hin zu meinem überbordenden Selbstmitleid. Nachdem ich alle meine Kraft rausgeweint hatte und Dank einer großen Tasse Tee auch wieder einigermaßen nüchtern war, hatte er angefangen, mir gut zuzureden. Vielleicht war das alles nur ein Missverständnis. Vielleicht hatte Frau Gunnich gar nicht verstanden, dass ich auf Michaels Stelle scharf war. Ob wir darüber gesprochen hätten. („Nicht direkt.“) Ob ich annahm, dass sie mir was reindrücken wollte. („Nein!“) Dass ich vielleicht nur das Gespräch suchen müsste. Dass das letzte Wort ja noch nicht gesprochen sei. Und so weiter. Er schaffte es, mich genügend zu beruhigen, dass ich schlafen konnte.
Am nächsten Tag blieb ich trotzdem zuhause – mit schrecklichen Kopfschmerzen. Ich berappelte mich über den Tag so weit, dass ich anfing, Gefallen an Antons Version der Geschichte zu finden. Wer sagte denn, dass die Neue schon eingestellt war? Woher sollte Frau Gunnich wissen, dass ich die Stelle wollte? Ja, ich hatte zu lange gezögert – vielleicht konnte ich das wieder gut machen?
Mein ursprünglicher Plan, Frau Gunnich die Leviten zu lesen, wandelte sich organisch in einen neuen Plan: Ich würde mit ihr Tacheles reden. Titten auf den Tisch. Wie sollte sie sonst wissen, was mich umtrieb? Ich konnte nicht erwarten, dass sie mir meine Wünsche von den Augen ablas. Frau Gunnich hatte wie immer nur ein kurzes Zeitfenster heute. Direkt vor meinem Kurs. Da ich den ganzen vergangenen Tag nur über die genauen Formulierungen nachgedacht hatte, die ich Frau Gunnich gleich vortragen würde, musste ich jetzt im letzten Moment doch noch kurz Unterrichtsvorbereitung erledigen. Selbstorganisation konnte manchmal ein Fluch sein.
Ein hektischer Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich schon vor einer Minute hätte rübergehen müssen. Wie von der Tarantel gestochen schreckte ich auf. Ich atmete tief durch und versuchte, mich von Zuversicht durchströmen zu lassen. Meine Mama hatte mir das beigebracht: „Amygdala nach vorne!“ Die Amygdala war ein mandelförmiger Bereich im Gehirn, ein Überbleibsel aus unserem Reptiliengehirn. Unser Angstzentrum. Laut einem ziemlich esoterischen Ratgeber meiner Mama, konnte man die Amygdala willentlich steuern – war sie nach vorne geklappt, war man mutiger und souveräner und weniger in Gefahr, reflexartig die Flucht zu ergreifen. Ich klebte mir also einen optimistischen Ausdruck aufs Gesicht und beteuerte mir selbst, dass ich jetzt alles zurechtrücken würde. Es lag in meiner Hand.
Ich pochte an Frau Gunnichs Tür. „Herein“, flötete es. Als ich eintrat, saß Frau Gunnich hinter ihrem riesigen Schreibtisch und lächelte mich über ihre Goldrandbrille hinweg an. Auf dem Schreibtisch lagen sorgfältig angeordnete Stapel, die ich dort hinterlassen hatte, alle in Klarsichthüllen und mit farbigen Büroklammern und bunten Post-Its versehen. Ein bemerkenswert hoher Stapel am linken Rand des Tisches fing kurz meine Aufmerksamkeit. Neue Bitten. „Sie wollten mich sprechen?“ Bildete ich mir es nur ein oder hörte ich einen Hauch von Unmut aus ihrer gewohnt fröhlichen Stimme heraus? Als hätte sie auf dieses Gespräch insgeheim gewartet und wäre jetzt entnervt, dass sie sich dem tatsächlich stellen muss? Aber vielleicht las ich da zu viel hinein. Amygdala nach vorne.
Ich lächelte und nickte. „Ja. Haben Sie einen Moment?“ Das war eine rhetorische Frage. Schließlich hatte ich den Termin schon am Morgen erbeten. „Selbstverständlich habe ich Zeit für Sie, Frau Jakob.“ Sie erhob sich lächelnd und deutete einladend auf den runden Konferenztisch, der neben dem massigen Schreibtisch und den vollen Regalwänden ihr geräumiges, aber erstaunlich anonymes, Büro dominierte. Andere Professor*innen hatten ihre Zimmer mit allerleih persönlichen Gegenständen, pseudowitzigen Postern, Theaterplakaten und Bildern angereichert. In Frau Gunnichs Büro hing nichts an der Wand. Ein Bild, das eine blaue Bergsilhouette zeigte, lehnte auf einem der halbhohen Schränke. Als wartete es seit Jahren darauf, endlich aufgehängt zu werden.
Als wir gemeinsam am Tisch saßen und sie mich erwartungsvoll anlächelte, war ich mir plötzlich sicher: Anton hatte Recht. Frau Gunnich hatte sich immer Zeit für mich genommen. Sie hatte mir keinen Vorwurf gemacht, als ich zum Mutterschutz abdampfte, und mir nie Steine in den Weg gelegt, wenn es darum ging, Lehraufträge zu verteilen. Sie unterstützte mich bei meiner Dissertation, hatte immer ein offenes Ohr und sich schon häufiger Arbeit damit gemacht, meine Bewerbungen für Stipendien zu prüfen. Sie hatte mir diverse Beurteilungen ausgestellt – alle exzellent – und sich dafür eingesetzt, dass ich eine unbefristete Stelle bekam. Mir stieg die Schamesröte ins Gesicht. Wie sollte ich anfangen? Sollte ich schon wieder um etwas bitten? Das kam mir jetzt, hier am runden Tisch mit Frau Gunnich, ziemlich anmaßend vor.
„Also, wie kann ich Ihnen helfen, Frau Jakob?“ „Mh“, druckste ich herum, „es geht um Michaels Stelle.“ Da – es war raus. Schon wieder blitzte in ihren Augen ein Funken dieses Missfallens auf. So, als hätte sie ein ähnliches Gespräch in der Vergangenheit schon einmal geführt. „Ja?“ „Ich hatte gehofft, dass ich die Stelle bekomme“, würgte ich hervor. Ich wollte es hinter mich kriegen, gleich fing mein Unterricht an. Frau Gunnich verzog beinah unmerklich den Mund. „Ich dachte, wir hatten ganz klar gesagt, dass wir Ihre Stelle nur entfristen, wenn Sie vorhaben, länger darauf zu bleiben?“ Ihre Stimme war noch einen Halbton höher, als sonst schon. Mir stieg das Blut in die Wangen. Das Argument traf mich unerwartet.
„Naja, ich bin ja auch schon seit zwei Jahren da…“, stammelte ich. Ich konnte es nicht fassen – das sollte jetzt der Grund sein? Frau Gunnichs Mund wurde schmal. „Wissen Sie, Frau Jakob, es war auch nicht abgesprochen, dass Sie sich so bald auf ein Stipendium bewerben. Das habe ich nur aus Kulanz Ihnen gegenüber unterstützt.“ Ich traute meinen Ohren kaum. Das Stipendium bei der Studienstiftung hatte sie selbst vorgeschlagen. Das Gespräch verlief überhaupt nicht so, wie ich es am Vormittag hunderte Male innerlich durchexerziert hatte. Ich versuchte einen Neuanfang: „Am Anfang meinten Sie, Sie würden mir gerne eine wissenschaftliche Stelle geben, wenn Sie eine hätten und da dachte ich, jetzt ist ja eine frei. Das würde mir helfen, schneller mit der Dissertation fertig zu werden und finanziell wäre es auch eine echte Hilfe.“ „Ach, verrechnet mit Ihren Lehraufträgen gibt sich das nichts“, winkte sie ab. Ich wurde rot. „Naja, ich habe ausgerechnet, dass das etwa zweihundertfünfzig Euro netto im Monat ausmacht“, bemerkte ich. „Ja, sehen Sie. Die sind ja schnell ausgegeben“, sagte Frau Gunnich.
War das ihr Ernst? Bei ihrem Professorinnengehalt mochten 250 Euro nicht ins Gewicht schlagen. Ich konnte damit schon fast Frejas Kita-Platz bezahlen! „Und Ihnen ist schon klar“, setzte sie nach, „dass ich von meinen wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen einen anderen Einsatz erwarte. Einen Nachmittag mehr in der Woche müssten Sie dann schon hier sein.“ Ich riss mich zusammen und nickte: „Ja, das habe ich mit meinem Mann schon abgesprochen.“ Ein Nachmittag mehr für meine Dissertation. „Aber, Frau Jakob, ich will nicht, dass Sie das eines Tages bereuen!“ Ich starrte sie an. „Wie meinen Sie das“, fragte ich leise. „Naja, das ist ein weiterer Nachmittag, den Sie nicht bei Ihrem Töchterchen sein können“, flötete Frau Gunnich und ihre grünen Augen blitzten. Da – Sie hatte meine eigene Tochter als Waffe gegen mich benutzt! Ich fühlte, wie ich in einen Abgrund stürzte.
„Sie glauben zwar vielleicht im Moment, dass Sie das möchten“, fuhr sie ungerührt fort, „aber im Nachhinein werden Sie mir dankbar sein, dass sie es nicht gemacht haben.“ Sie zog wissend die hellen Augenbrauen hinter der Goldrandbrille hoch. Ich musste mich zurückhalten, sie nicht anzuschreien: Was wusste sie denn vom Kinderhaben? Sie sah Kinder doch eher wie ein Hobby oder ein besonders pflegeintensives Haustier. (Sie verglich Freja ständig mit Hunden, Katzen oder Rabenvögeln – für die hatte sie ein besonderes Faible. „Wussten Sie, dass Raben bei einem Experiment genauso schlau waren wie fünf- bis siebenjährige Kinder?“ Deutlich schlauer eben als mein Töchterchen unter Drei.) Frau Gunnich lehnte sich ein wenig vor und lächelte mich wohlwollend an. „Glauben Sie mir, Frau Jakob, Sie sind perfekt als meine Assistentin. Sie würden sich doch langweilen, wenn ich Ihnen ab jetzt nur noch Rechercheaufgaben geben würde. Oder Korrekturen für meine Bücher. Oder Sie bitten würde, Bibliographien anzufertigen. Ich hatte von Ihnen nie den Eindruck, dass Sie sonderlich für die Wissenschaft brennen.“
Wie bitte? Unterstellte sie mir gerade tatsächlich mangelndes Interesse? Hielt sie mich nicht für wissenschaftliche Arbeit geeignet? Nach all den Bestnoten, die ich über die Jahre gesammelt hatte? Den Seminaren? Trotz all der Zeit und Energie, die ich meiner Dissertation opferte? Frau Gunnich verschränkte die goldberingten Hände im Schoß. „Ich weiß, was ich an Ihnen habe. Sie haben dieses Manager-Gen, Sie können den ganzen Lehrstuhl vorzüglich organisieren. Das kann wirklich nicht jeder. Und Sie können mir wunderbar zuarbeiten. Überlegen Sie mal, mit einer normalen Assistentin wäre das nie möglich! Deswegen habe ich immer schon Doktorand*innen als Sekretär*innen eingestellt. Ich nehme Ihren Job sehr ernst, Frau Jakob.“ Sie lächelte mich an. Super. Ich wurde ernst genommen. Solange ich Sekretärin blieb. Sie gab sogar zu, dass sie mich und meine Überqualifikation nach Strich und Faden ausnutzte. „Und Sie sind bisher die Beste auf der Stelle“, fügte sie mit Nachdruck hinzu. Ich war sprachlos. „Die Vorteile liegen doch auf der Hand“, fuhr sie fort, „Als Sekretärin sind Sie unbefristet angestellt – Sie können also auch noch ein Kind bekommen. Das passt doch ganz großartig! Also, ich verstehe wirklich nicht, warum Sie die andere Stelle haben möchten. Glauben Sie mir, so passt es viel besser.“
„Viel besser“, rang es in meinen Ohren nach. „Noch ein Kind.“ „Sie glauben das jetzt vielleicht.“ „Aber Sie werden mir dankbar sein.“ „Ein weiterer Nachmittag, den Sie nicht bei Ihrem Töchterchen sein können.“ „Ich hatte von Ihnen nie den Eindruck, dass Sie sonderlich für die Wissenschaft brennen.“ „250 Euro? Die sind ja schnell ausgegeben!“ „Sie sind perfekt als meine Assistentin!“ Während Frau Gunnichs Sätze durch mein Hirn geisterten, saß ich wie paralysiert auf meinem Stuhl. In einer entlegenen Region meines Hirns, sicher nicht der Amygdala, realisierte ich, dass ich jetzt aufstehen musste, wenn ich nicht zu spät in meinen Unterricht kommen wollte. Benommen erhob ich mich. Ich bekam kein Wort über die Lippen, und lief wie ferngesteuert durch den Raum, öffnete die Tür und stand dann da im muffigen Gang der neuphilologischen Universität, geplättet von dem Bild, das eine andere von mir hatte.
Im schummrigen Licht quetschte ich mich auf Zehenspitzen an den seitlichen Holzbänken vorbei. Von einigen Seiten warfen mir Frauen mit Perlenohrringen und gesetzte Männer im Anzug irritierte Blicke zu. Ich ignorierte das und hielt Ausschau nach Angelas blonder Mähne. Da vorne! Sie hatte sich unmerklich von ihrem Platz erhoben und winkte mir mit halbhoher Hand aus der dritten Stuhlreihe entgegen. Die alte Aula der Universität war ein geschnitzter Traum aus Holzvertäfelung, unterbrochen nur von einigen Gemälden aus dem 19. Jahrhundert und erleuchtet von runden Glasschirmen, die ebenso gut noch mit Gas betrieben sein könnten. Ich fühlte mich in meinem „kleinen Schwarzen“ und mit rotem Lippenstift ein wenig unpassend und lächelte entschuldigend, als ich an der großen Handtasche einer Dame im Trenchcoat hängenblieb. Schließlich vorne angekommen, zwängte ich mich noch an einem Herrn mit schnieker silberner Krawatte vorbei, der die Stirn in Falten zog, und ließ mich neben Angela auf den roten Samtstuhl fallen. „Wo ist Frau Gunnich“, raunte ich Angela zu. „Sie kommt erst später zum Empfang, sie hat jetzt noch ein Treffen“, flüsterte Angela zurück.
Ich richtete den Blick auf den Vortragenden hinter dem erhöhten Rednerpult und hatte Mühe, einen Sinn aus seiner Rede zu ziehen. Langsam dämmerte mir, dass das noch niemand „Wichtiges“ war, sondern nur der Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften oder so ähnlich. Ich entspannte mich. Ich hatte noch nichts verpasst und keinen schlechten Eindruck bei Frau Gunnich hinterlassen, da sie ja sogar noch später kommen würde. Wahrscheinlich hatte sie überhaupt keine Lust gehabt, sich die Vorträge anzuhören und absichtlich ihr Treffen auf den Termin gelegt, um eine gute Ausrede zu haben. Je länger ich versuchte, dem schlaksigen Mann auf der Bühne zu lauschen, desto weniger konnte ich es ihr verübeln. Dafür hatte sie ihre Mitarbeiterinnen geschickt; wir würden für sie die Stellung halten, bis es Zeit war, Schnittchen und Schampus zu verzehren.
Ein befreundetes Professorenpaar, Brigitte und Peter Neumann, erhielten heute den Karl-Jaspers-Preis der Universität Heidelberg. Ausschließlich geladene Gäste. Das Programm, das ein rosafarbener Zettel auf meinem leeren Nachbarsitz verriet, war angemessen trocken: Rede zweiter Bürgermeister der Stadt Heidelberg, Rede Rektor der Universität Heidelberg, Rede Dekan Philosophische Fakultät, Rede Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (aha, da waren wir also), Musikalischer Beitrag Chor des Anglistischen Seminars, Festrede Brigitte und Peter Neumann, Schlussrede, Musikalischer Beitrag Chor des Anglistischen Seminars. Ich hatte tatsächlich nichts verpasst – obwohl ich eine gute halbe Stunde zu spät war. Zum Glück war der Präsident am Ende seiner Lobrede angekommen. „Wir senken den Altersschnitt ja ganz erheblich“, sagte ich über den höflichen Applaus. Angela nickte mir nur vielsagend zu. Sie hatte sich mit schwarzem Jackett und dunkler Bluse ebenfalls ein wenig herausgeputzt.
Durch den Mittelgang schritten etwa zwanzig Chorsängerinnen und –sänger und postierten sich entlang der geschwungenen Holzballustrade neben dem schwarzen Flügel. Sie stimmten ein getragenes Lied an. Die Musik erfüllte den hohen Raum und ließ mich erahnen, wie hier vor hundert, zweihundert Jahren schon akademische Feiern begangen wurden. Ein bisschen war die Aula wie die große Halle in Harry Potter. Ok, keine schwebenden Kerzenleuchter, keine Decke, die den echten Himmel imitierte, und auch keine Haustische voller Zauberschüler*innen. Aber alt und ehrwürdig. Reich an Geschichte. Mein Blick wanderte zur Decke und ich betrachtete mit neuem Interesse, die runden Gemälde. Vier herrschaftlich wirkende Frauenfiguren. Allegorien vermutlich. Ich sah genauer hin. Die mit dem Richtschwert stand vermutlich für Jura. Die Bibel – Theologie. Die Schlange sah aus wie die der Apotheke, also Medizin, dann blieb noch… Philosophie. Genau: Schriftrolle und Globus. Alle Wissenschaften, dargestellt als starke Frauenfiguren. Passend zur Chormusik, die sich zu einem glamourösen Höhepunkt vorgearbeitet hatte, spürte ich ein Hochgefühl in meiner Brust anschwellen. Ich durfte hier dazugehören. In diesen alten Hallen. Vielleicht würde ich ja eines Tages selbst eine Festrede halten. Wir sollten die Wissenschaftswelt keinen alten Herrschaften überlassen. Mein Blick schwenkte rüber zu Angela, die den Chor beobachtete, ein kleines Lächeln auf den Lippen. Wir würden gemeinsam ein neues Kapitel starten.
Der Rest der Veranstaltung war so nüchtern, wie man erwarten konnte. Die Festrede war zwar erstaunlich interessant, aber die Inhalte blieben einfach nicht in meinem Kopf hängen. Ich genoss den zweiten Auftritt des Chors und machte mich dann zusammen mit Angela auf die Suche nach Frau Gunnich, die tatsächlich im Foyer auf uns wartete. Heute ohne ihre Goldrandbrille. „Ah, Frau Nagel und Frau Jakob. Ich habe uns etwas organisiert.“ Sie lächelte verschmitzt und hielt triumphierend eine Flasche Rotwein in die Höhe. „Los, besorgen Sie sich etwas zu essen!“ Sie konnte eine niedliche Art haben, sich um ihre Mitarbeiterinnen zu kümmern. Es gab vorzügliche Schnittchen. Eigentlich waren es kleine Gerichte, kunstvoll auf Löffeln und Schälchen drapiert. Angela und ich versuchten, möglichst viele davon auf unseren Händen zu balancieren, während Frau Gunnich uns beherzt Rotwein eingoss.
Ich hatte immer noch keine Gelegenheit gefunden, mit Frau Gunnich über die freie Stelle zu sprechen. Michael war nur noch etwa vier Wochen da – viel Zeit blieb also nicht mehr. Da er in Karlsruhe wohnte, war er heute Abend nicht gekommen, obwohl Frau Gunnich ihn pflichtschuldig eingeladen hatte. Vielleicht hatte er auch keine Lust gehabt. Wir plauderten höflich und lachten über Frau Gunnichs Scherze. Immer wieder traten graue Eminenzen an uns heran und tauschten ein paar Sätze mit Frau Gunnich. Eine ältere Dame wandte sich anschließend zu uns: „Wundervoll gesungen haben Sie. Ganz toll!“ Sie lächelte und drehte sich zu anderen wichtigen Menschen um. Angela und ich tauschten verdutzte Blicke. Es dauerte einen Moment, bis wir begriffen, dass uns die Frau für Mitglieder des Chors hielt. Tatsächlich war der Chor ganz in Schwarz gekleidet gewesen, fiel mir jetzt auf. Was sollten zwei junge Frauen sonst bei einer solchen Veranstaltung machen? Dasselbe passierte noch zwei weitere Male und Frau Gunnich machte sich einen Spaß daraus, die Leute auf eine falsche Fährte zu locken: „Ja, jaaa! Die beiden sind ganz tolle Musikerinnen!“ Angela und ich ertränkten das aufkeimende Schamgefühl in mehr Rotwein und lachten über Frau Gunnichs Augenzwinkern. Zum Glück war Herr Gunnich nicht anwesend – mit ihm Konversation zu machen, konnte sehr anstrengend sein.
Nach einigen weiteren Gläsern, Frau Gunnich hatte eine zweite Flasche aufgetrieben, war mir schon ganz schwummrig und ich beschloss, demnächst aufzubrechen. Als ich begann, mich bei Frau Gunnich für den Abend zu bedanken, hob sie abwehrend die Hände: „Aber Frau Jakob, ich wollte Ihnen doch noch jemanden vorstellen. Kommen Sie mit!“ Sie lotste mich an älteren Damen im altmodischen Kostüm und Herren mit schlechtsitzenden Anzügen vorbei. Am Sektstand waren zwei junge Frauen damit beschäftigt, leere Gläser in Kisten zu packen. „Frau Roth!“, flötete Frau Gunnich schon von Weitem. Eine dunkelhaarige Frau, etwas jünger als ich, hob den Kopf und lächelte. „Frau Roth, Sie müssen Frau Jakob kennenlernen, meine Assistentin.“ Sie schob uns beide zusammen. „Frau Jakob, das ist Frau Roth. Sie wird ab Juni die Stelle von Herrn Bradley übernehmen.“ Sie strahlte. „Ich bin mir sicher, dass Sie beide sich ganz wunderbar verstehen werden!“
Nele ist betrunken
Emma
Emma fühlt mit
Ich schickte ab und wischte ein paar Regentropfen von meinem Display. Arme Nele. Sie hatte so viel Energie in diese Assistentenstelle gesteckt. Ein Job, für den sie mit ihren top Noten und all den nutzlosen Praktika, durch die wir uns alle während unserer Bachelorjahre gequält hatten, von Anfang an überqualifiziert gewesen war. Ich fröstelte. Man konnte nicht meinen, dass schon Mitte April und damit eigentlich schönster Frühling hätte sein müssen. Statt sanft wärmender Sonne und milder Seeluft schickte das Meer in unregelmäßigen Abständen Regenschauer und eisige Windböen durch den Ort.
„Emma, bist du wahnsinnig? Was machst du denn da draußen?“ Kate streckte den Kopf durch die Tür ihrer zukünftigen Kunstgalerie und sah mich unter ihrem grauen Lockenschopf verwundert an. „Sorry, eine Freundin hat eine Krise, da musste ich mich schnell melden“, sagte ich und schlüpfte an Kate vorbei wieder nach drinnen. Sie legte mir den Arm um die Schultern und drückte mich kurz: „Ohje, die Ärmste. Dann mach‘ dir erst mal eine Tasse Tee.“ Damit schlang sie sich ihren breiten, orange-rot-gemusterten Schal enger um die Schultern und verschwand wieder im Hinterzimmer, wo sie seit Stunden auf ihre Bilder starrte und darüber nachdachte, wie sie diese in der Galerie anordnen wollte. Ich schmunzelte. Tee war in Irland die Antwort auf alles. Kalte Füße? Have a cup of tea. Schaf gestorben? Have a cup of tea. Lebenskrise? Tea!
Ich ging in die rechte, hintere Nische des großzügigen Raumes, die sich mit ihrer kleinen Kaffeetheke, einem gemütlichen, knallroten Ledersofa und einigen bunt zusammengewürfelten Tischen und Stühlen allmählich zu einem Kunstcafé inmitten des Galeriebetriebs mauserte. Ich knipste den Wasserkocher an und hielt nach meinen beiden Volunteer-Mitstreiter*innen Ausschau. Alicia saß auf einem großzügig ausgelegten Zeitungsteppich am Boden und bemalte ein Tischbein mit grün-gelben Kringeln. Sie hatte vor zwei Wochen spontan eine Leidenschaft fürs Möbel zimmern entwickelt und aus groben Brettern, die sie hinter unserem Cottage gefunden hatte, einen Tisch und zwei Hocker gebaut. Sie alle standen auf nicht ganz gleichlangen Beinen und wackelten ein bisschen, was ihnen dank Alicias liebevoller Bemalung aber niemand übelnehmen konnte. Mit langsamen Pinselstrichen hatte sie jedes Möbelstück ein wenig anders gestaltet. Ein Hocker hatte eine rote Sitzfläche mit gelben Punkten. Der andere sah aus als würden ihm feine Efeuranken an den Beinen hinaufwachsen. Und ihr Tisch bekam eben gerade geringelte Strümpfe. Ich nahm einen Schluck von meinem Tee und lächelte zu ihr hinüber. Sie hatte sich die langen blonden Haare zu einem losen Zopf gebunden. Eine Strähne war entwischt und klebte ihr in einem grünen Farbklecks an der Backe. Sie bemerkte meinen Blick und grinste zurück. Viel gemeinsam hatte ich mit der 21-jährigen Jurastudentin nicht – und doch waren wir irgendwo zwischen Farbeimern und Bodenbelägen so etwas wie Freundinnen geworden.
„Pass‘ doch auf, Ole, Jesus Christ“, dröhnte plötzlich Damiens Bariton durch die Eingangstür. Die beiden wankten gefährlich unter der massiven Holzskulptur eines aufgerichteten und bedrohlich brüllenden Braunbären, einem von Damiens wertvollsten Stücken, wie er mir am Vortag in einer langen Brandrede auf die Bildhauerei erklärt hatte. Ole war Alicias Freund, studierte im normalen Leben Elektrotechnik und hatte sich nach langem Zögern auf ein Urlaubssemester mit seiner Liebsten eingelassen. Zum Dank für seinen Wagemut stolperte er jetzt hilflos über die eigenen Füße und konnte nicht verhindern, dass der hölzerne Bär unsanft gegen den Türrahmen schrammte. Ich stellte meine Tasse ab und eilte den beiden zu Hilfe. Mit vereinten Kräften bugsierten wir das elend schwere Tier kreuz und quer durch den Raum bis sich Damien schließlich davon überzeugen ließ, dass es in der Mitte, wo das Sonnenlicht besonders schön hinfiel, doch am imposantesten wirkte. Während sich Ole ächzend die dünnen Oberarme rieb und im Kampf gegen Damiens letzte Zweifel noch die perfekte Ausrichtung zur Eingangstür an dieser Stelle anpries, vibrierte mein Handy in meiner Hosentasche. Vielleicht Neuigkeiten von Nele, schoss es mir durch den Kopf. Ich überließ Ole seinem Schicksal – schließlich war der Bär nur die erste von insgesamt neun Skulpturen, die in der Galerie ausgestellt werden sollten – und checkte neugierig meine Nachrichten.
Alexander! Ich runzelte überrascht die Stirn. Ich hatte seit Ewigkeiten nichts von ihm gehört. Mein letzter Kontaktversuch war unbeantwortet geblieben und hatte in einer durchgeheulten Nacht in einem muffigen Stockbett irgendwo in Galway geendet. Und jetzt meldete er sich aus dem Nichts. Einfach so. Verwirrt flüchtete ich ins Hinterzimmer, wo Kate noch immer grübelnd vor ihren großflächigen Aquarellbildern stand, und hoffte auf die Flut an Aufgaben, die ihr bei meinem Anblick üblicherweise aus dem Mund sprudelten. Hauptsache, ich musste mich jetzt nicht mit einer Antwort an Alexander befassen. Oder der Frage, was ihn wohl zu dieser Meldung aus heiterem Himmel bewegt hatte. Ich ließ den Blick über Kates Werke schweifen. Insgeheim war ich ja ein Kunstbanause, konnte mit Malerei überhaupt nichts anfangen (was ich als vermeintlich kulturinteressierte Geisteswissenschaftlerin natürlich nie öffentlich zugegeben hätte), aber Kates Bilder faszinierten mich. Auf großen Leinwänden deutete sie irische Landschaften an, die kargen Berge Connemaras, die dramatischen Küsten Donegals oder die geheimnisvollen Seen in den Tälern von Kerry, und ließ ihre Farben beherzt verschwimmen, sodass die Szenen unwirklich wirkten, fast abstrakt.
„Kann ich dir helfen?“, fragte ich vorsichtig, um sie nicht zu stören. Sie schwieg und beäugte kritisch ein besonders dramatisches Bild, das mich mit seinen steilen Klippen und peitschenden Wellen an mein Foto aus Kilkee erinnerte. „Hmmm“, machte sie schließlich. Mühsam riss sie sich aus ihren Gedanken. „Kannst du mir ein paar große Blätter Papier und einen Bleistift aus unserem Wohnzimmer holen? Ich will ein paar Skizzen machen“, bat sie und strich mit der Hand über den Rand der großen Leinwand.
Noch im Hinterzimmer der Galerie streifte ich meine Sneakers ab und schlüpfte dann durch einen provisorischen Vorhang in den Wohnbereich des Hauses. Kate und Damien hatten einen Großteil ihrer Wohnfläche zugunsten ihrer Galerie geopfert. Die ehemalige Küche mit großzügigem Esszimmer, sowie ein riesiges Wohnzimmer und ein Gästebad waren gewichen und zu einem großen Raum verschmolzen. Einzig eine neu eingezogene Wand teilte das schmale Hinterzimmer ab, das als Lagerraum und Gästetoilette diente. Von dort gelangte man direkt in das neue, winzig kleine Küchenkabuff, in dem meist Damien auf zwei mehr schlecht als recht funktionierenden Herdplatten jeden Abend ein leckeres Menü für uns alle zusammenimprovisierte.
Ich tapste den knarzenden Dielenboden entlang und streifte einen weiteren Vorhang zur Seite, der die paar Quadratmeter Küche vom Wohnzimmer trennte. Für Türen im geschrumpften Wohnbereich hatten Kate und Damien offenbar keine Energie mehr übriggehabt, vielleicht war ihnen auch das Geld ausgegangen. Suchend ließ ich meinen Blick an den deckenhohen Regalen entlang wandern, die unter der Last von Büchern, verstaubten Fotoalben und der beeindruckenden Schallplattensammlung des Künstlerpaars ächzten. Daneben stapelten sich Kisten voller Werkzeug und Malutensilien. Selbst der alte Röhrenfernseher stand auf einem Umzugskarton, der etwas verunsichert schien, ob er dieser Last wirklich standhalten wollte. Der Couchtisch ließ sich unter einem Berg von angefangenen Kohlezeichnungen, die Kate als neue Passion auserkoren hatte, nur erahnen. Hier ein leeres Blatt Papier und einen Bleistift zu finden, schien aussichtslos. Ich seufzte und ließ mich auf die abgewetzte Couch fallen, die etwas uninspiriert mitten im Raum stand und sich mit dem Kistenchaos ein wenig ins Gehege kam. Unsicher zog ich das Handy wieder hervor und öffnete den Chat mit Alexander.
Hey! Schön von dir zu hören…..
Ich stockte. „Schön von dir zu hören“ war eine maßlose Verzerrung der Tatsachen. Sein wochenlanges Schweigen hatte mich herb enttäuscht. Dass ich ihm nach all den Jahren offenbar so schnell so unwichtig geworden war, nagte an meinem Ego.
Ich holte tief Luft und schickte ab. Ungläubig beobachtete ich, wie das Wörtchen „online“ unter Alexanders Namen erschien und er sofort zu schreiben begann. Hatte er etwa auf meine Antwort gewartet?
Ich starrte auf meinen Bildschirm und stellte fest, dass mir Alexanders nüchterner Ton gefehlt hatte. Wieder und wieder las ich unsere kurze Unterhaltung durch, ein paar wenige Sätze, die mich packten und mit aller Macht zurückzerrten. Zurück auf Alexanders berüchtigte Wildledercouch, den Kopf auf seiner Brust, seinen Herzschlag im Ohr. Schließlich gab ich nach und ließ mir seinen Geruch in die Nase steigen, ließ ihn mich anlächeln, wenn er mir nach einem langen Arbeitstag seine berühmten Spaghetti servierte, ließ ihn meinen Nacken kraulen, während wir über den bodenlos schlechten Humor der neunten Staffel How I met your Mother lästerten. Beim Gedanken an diese Momente verzog ich das Gesicht. Mir fehlte diese Vertrautheit. Dieses Gefühl von Sicherheit, wenn man einen Menschen so gut kennt, dass man jede Geste zu deuten weiß, jedes noch so kleine Zucken um die Augen des anderen versteht. Mir fehlte mein altes Leben.
Mit einem energischen Surren spuckte mir mein Handy eine Nachricht von Ciarán aufs Display und hielt mich davon ab, in ein qualvolles Was-wäre-wenn zu versinken.
Da war er, der Gegenentwurf zur spaghettischweren Wildledercouchromantik. Mit Ciarán war alles neu und aufregend. Für ihn war ich die mutigste Frau der Welt, wie ich einfach so meine Zelte abgebrochen hatte und in ein fremdes Land gezogen war. Seine Blicke erzeugten eine schmeichelhafte Version meiner selbst, die ich mir nur allzu gern überzog wie einen weich gefütterten Kapuzenpulli.
Damit rappelte ich mich auf und beschloss, die dezente Mischung aus Heimweh und Liebeskummer, mit der Alexanders Nachrichten noch nachklangen, zu ignorieren. Kate wartete schon viel zu lange auf ihren Stift. Hastig suchte ich den kleinen Esstisch ab, der sich zwischen ein weiteres Schallplattenregal und ein altes Klavier zwängte. Dieses hatte Damiens Großvater angeblich im Jahr 1925 im zwielichtigsten Pub Killarneys erpokert und dem Klang nach zu urteilen seitdem nie wieder gestimmt. Heute diente es vor allem als Abstellfläche für Salate und Nachtisch, die auf dem heillos überfüllten Esstisch jeden Abend aufs Neue keinen Platz mehr fanden. Auch jetzt war die Tischplatte kaum zu sehen. Ich räumte etwa ein Dutzend Ausgaben der Irish Times auf einen Stapel und fand schließlich einen Kuli und einen karierten Din A4-Notizblock. Ich bezweifelte, dass Kate damit ihre Visionen für ihre Ausstellung zu Papier bringen konnte. Trotzdem hakte ich den Stift in der Ringbindung ein und klemmte mir den Block unter den Arm. Während ich mich durch die Vorhänge zur Galerie zurückkämpfte, stellte ich mein Handy auf lautlos. Genug digitale Dramen für heute.
„Was zur Hölle machst du da?“ – Wieder einmal fuhr mir diese Frage durch den Kopf. Manchmal klang sie verwundert, manchmal bewundernd, manchmal schlichtweg ungläubig. Gerade war eher letzteres der Fall. Ich stand hüfthoch im Gras. Irgendwo im Nirgendwo. Als Hobby für mein neues, sich selbst findendes Ich hatte ich wandern auserkoren. Das war naturnah und hielt fit. Ok, es war auch das einzige, was man ohne Auto dafür mit Wohnsitz ‚Allihies‘ tun konnte. Wanderschuhe anschnallen und loslaufen. Einfach querfeldein. Frei wie der Wind – bis man von wackeligen Stacheldrahtzäunen oder unerwarteten Felshängen aufgehalten wurde. Oder Grasfeldern wie ich heute feststellen durfte.
Ich blickte zurück, überlegte, ob ich umkehren sollte. Tatsächlich hatte ich es schon bis in die Mitte des sumpfigen Feldes geschafft. Schätzungsweise. Wo genau das unangenehm tiefe Gras aufhörte, das mögliche Löcher oder Gräben im Boden so sorgfältig verdeckte, konnte ich kaum abschätzen. Vorsichtig stakste ich weiter und balancierte auf einem Bein, bis mein anderer Fuß sicher war, dass er nicht ins knöchelverstauchende Verderben treten würde. Mich zu verletzen war keine Option, schließlich wusste niemand, wo ich genau war und ich hatte wahrscheinlich keinen Handyempfang. Beim Gedanken daran wurde mir mulmig wie es sich gehörte. Heimlich freute ich mich aber auch ein bisschen. Wie abenteuerlustig ich doch war! Ich hielt an und hob den Blick. Nur noch ein paar Meter, dann sah das definitiv wieder nach begehbarem Untergrund aus. Bestimmt.
Ich hob das rechte Bein und setzte den Storchentanz durch das Grasgestrüpp fort. Gut, dass mich niemand sehen konnte. Vor allem nicht Ciarán, der Barkeeper des einzigen Pubs in Allihies. Ein Ire gälischen Typs, dunkle Haare, schwarzer Bart, stechend blaue Augen. Letzten Samstag hatte sich außerdem herausgestellt, dass er singen und Gitarre spielen konnte. So schön kratzig hatte er Galway Girl ins Mikro geraunt, dass ich fast vom Barhocker geschmolzen wäre. Ja, so leicht und klischeehaft war ich zu begeistern. Seitdem bekam ich Herzklopfen wie ein liebeskranker Teenager, wenn ich an unser erstes und bisher einziges „Gespräch“ dachte. „Hey, what can I get you?“ – „Uhm….a…a pint of Smithwicks, please.” – “A pint of what?” (Mein deutscher Akzent hatte das Wort ‚Smithwicks’ offenbar zur Unkenntlichkeit verzerrt) – “Smithwicks.” (Betonung und große Anstrengung auf das ‚th‘ in der Mitte) – „Of course, love.“ (Spöttisches Schmunzeln seinerseits, beschämtes Erröten meinerseits). Ende der Szene. Streng genommen konnte man das wahrscheinlich nicht als Gespräch bezeichnen, eher als Wortwechsel – na gut, es war gerade mal eine gestotterte Bestellung – , aber er hatte mich love genannt. Da konnte man schon mal großzügig darüber hinwegsehen, dass das in Irland eine Anrede für jedes weibliche Wesen egal welchen Alters war und nichts mit persönlicher Zuneigung zu tun hatte.
Trotzdem bildete ich mir ein, dass da etwas zwischen uns war. Hatte er nicht auch am Samstag von der Bühne aus zu mir rübergeschaut? Hatte er nicht sogar gezwinkert? Aber was wusste ich schon, ich war erst seit sechs Wochen single. Wusste nichts über Signale oder Zeichen oder sonst irgendetwas, was mit Flirten zu tun hatte. Schließlich hatte ich fast meine gesamten 20er mit Alexander verbracht. Alexander. Sofort spürte ich ein kurzes Flackern in der Magengegend. Ich vermisste ihn, auch wenn ich es mir ungern eingestand. Die Gedanken, die mir dann kamen, rochen unangenehm nach Reue. Es hatte doch so viel gepasst zwischen uns, so viele Gemeinsamkeiten. Vielleicht war er tatsächlich die Liebe meines Lebens gewesen und es grenzte an Wahnsinn, dass ich unser gemeinsames Glück für ein paar Monate unbezahlten Möbelrückens im südirischen Hinterland weggeworfen hatte wie ein altes Paar Socken. Eigentlich. Vielleicht.
Ein Grasbüschel gab unter meinem linken Fuß nach und setzte meinem Sinnieren ein Ende. Ich geriet ins Wanken und versuchte mit rudernden Armen, mich abzufangen. Nach einigem Vor und Zurück und einem erschrockenen Quietscher, von dem ich wieder froh war, dass er lediglich eine kleine Gruppe Schafe oben am Hang aufschreckte, sonst aber ungehört blieb, landete ich schließlich rücklings im struppigen Grasteppich. „Geschieht dir Recht, wenn du so melodramatisch sein musst…die Liebe meines Lebens, gemeinsames Glück“, dachte ich mürrisch und rappelte mich auf. Ich setzte den Gedanken an die Männerwelt, ob verflossen oder zukünftig, ein Ende und konzentrierte mich auf mein Ziel: Oben, am Kamm des Bergs, müsste der Ausblick in die Bucht von Kenmare überragend sein. Das war der Plan.
Entschlossen stapfte ich weiter und hatte schließlich wieder festen Boden unter den Füßen. Schafe und wilde Ziegen tummelten sich auf den Hügelketten und nagten die Gräser zwischen den wenigen Büschen und den stacheligen Rhododendronkolonien bis auf die Wurzeln ab. Die Tiere standen für einen faszinierenden Gegensatz im Bergland Kerrys: Es war wild und schwer bewirtschaftet zugleich. Durch die endlosen Hügelketten zogen sich neben ein paar einsamen Zaunzeilen kaum Wanderwege oder Straßen. Einzig die Schafe bahnten sich behände ihre schmalen Pfade in die kargen Hänge und hinterließen den Fingerabdruck menschlichen Eingreifens in dieser sonst kaum erschlossenen Natur.
Genau diesen schmalen Pfaden folgte ich nun den Rest des Hangs hinauf. Die Schafe wussten schon, wo es sich am bequemsten lief. Ich schwitzte. Die Berge Kerrys waren weit entfernt von den Dimensionen eines „richtigen“ Gebirges wie den Alpen – und doch hatten sie ihre eigenen Mittel, um ihre Wandersleute herauszufordern. Mein Anstieg war steil und vom vielen Regen der letzten Tage ziemlich glitschig. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und nutzte hin und wieder einen Rhododendron-Flecken, um sicheren Halt zu finden. Diese wussten sich zu rächen und pieksten unerbittlich zu, falls ich auf die Idee kam, mich irgendwo festhalten zu wollen. Das machte für mich den Reiz des Wanderns hier aus. Man musste sich seine eigenen Wege suchen, immer wieder stehen bleiben, sich orientieren und an seiner Aufstiegsstrategie feilen. Ich umschiffte zwei frech aus dem Hang herausragende Felsbrocken und fand schließlich einen Schafspfad, der schnurstracks zum höchsten Punkt des Bergs zu führen schien. Zielgerade. Mit großen Schritten hechtete ich die letzten Meter hinauf und kraxelte über die Hügelkuppe.
Wie immer erstarrte ich einen Moment lang ehrfürchtig und nahm mir die Kopfhörer aus den Ohren. Diesen besonderen Moment, wenn sich der Blick öffnete und sich der Südwesten Irlands in all seiner fast kitschigen Schönheit vor mir aufplusterte, wollte ich ohne Elektronik im Schädel genießen. Ich setzte mich auf einen flachen Felsen und starrte in die Weite. Unter mir lag die schmale Meerzunge, die sich bis hinein nach Kenmare zwischen dem ‚Ring of Beara‘ und dessen großem und viel berühmterem Bruder, dem ‚Ring of Kerry‘, durchschleckte. Das Wasser glitzerte in fahlem Blau, als wollte es dem satten Grün der Bergketten um sich herum nicht die Show stehlen. Diese erstreckten sich in einem endlosen Meer von Anhöhen bis zum Horizont, wo sich die Bucht ausdehnte und in den Atlantik überging. Die berüchtigten ‚rolling hills of Kerry‘. Eine kühle Brise wehte mir um die Nase, die Sonne schien mir aufs Gesicht, ohne wirklich zu wärmen, es roch leicht nach Schafmist. ‚Das mache ich hier‘, dachte ich zufrieden und zog mein Handy aus dem Rucksack. Ein einzelner Balken signalisierte zaghaften Empfang, vielleicht gerade genug für eine Nachricht an Nele:
Emma erzählt von ihrem Leben in Allihies
Ich drückte auf den Senden-Button und schaute wieder hinunter in die Bucht. Die Nachricht lud eine ganze Weile, bevor sie sich behäbig dazu entschloss, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen. Meine Alleingänge in den Bergen hinter dem kleinen Cottage, in dem ich mit den beiden Schweden hauste, waren der Inbegriff von Freiheit für mich. Niemand sagte mir, wo ich langgehen musste, nicht einmal lose Farbkleckse, denen man sonst auf Wanderrouten folgte. Ein Freiheitsgefühl so mächtig, dass es mich manchmal fast gruselte. Dann klammerte ich mich an den einen zittrigen Balken, der mich mit etwas Glück eine Verbindung nach Hause spinnen ließ und mir für einen Moment die vertraute Rolle der besten Freundin, Schwester oder Tochter überstülpte. Ein virtuelles Heimkehren bevor die beiden grauen Häkchen hinter der Nachricht dazu aufforderten, mich wieder auf die Suche zu machen. Nach einem sinnvollen Weg zurück.
Nele
Ich schloss die Augen und atmete den frischen Frühlingswind ein, der sich in mein Zimmer geschlichen hatte. Die Luft war schwer, voller Pollen und Erdgeruch, und duftete schon ganz dezent nach Sommer. Die Vögel zwitscherten aufgeregt und eine Biene hatte sich durch mein Fenster verirrt und summte laut und orientierungslos herum. Ich öffnete wieder die Augen. Die Sonne schien warm auf meinen Rücken und kleine Staubflusen schwebten glitzernd über meinem Schreibtisch. Draußen hörte ich Freja rufen: „Papa! Papa, da ist ein Rotkähchen! Guck, so sieht es aus! Guck, Papa!“ Ich schaute aus dem geöffneten Fenster: Anton hockte auf dem Boden und hatte Freja zu sich aufs Bein gezogen. Gemeinsam beobachteten sie eine Hecke. Er redete leise auf sie ein und sie nickte ernsthaft. „Hat das Flügel, Papa? Warum hat das Flügel?“ Ich lächelte wehmütig und zwang mich, meinen Blick wieder auf meinen Laptop zu heften. Mein Nacken schmerzte schon wieder unangenehm. Irgendwann würde ich mir einen Bildschirm und eine Tastatur zulegen. Irgendwann.
Nächste Woche ging das Semester wieder los. Das bedeutete bei uns Ausnahmezustand. Nachdem die Semesterferien zunächst entspannt gestartet waren – keine Unterrichtsvorbereitung, juhuu – hatte sich das Blatt recht schnell gewendet. Das hatte mehrere Gründe: Erstens, Korrekturen. Hunderte von Klausuren waren auf uns eingeprasselt – Frau Gunnich hatte letztes Semester wieder zwei Vorlesungen gehalten; darunter die Einführungsveranstaltung mit 150 Erstsemestern. Dann kamen nach und nach die Hausarbeiten reingetröpfelt. Von Frau Gunnichs Hauptseminar – und meinen beiden Proseminaren. Ich hatte erst vor einer Woche die letzten Noten rausgeschickt. Die Korrekturen hatten mich ein paar Nacht- und Wochenendschichten gekostet. Dafür durften sich die Studis über ausführliche Begründungen ihrer Noten, inklusive Verbesserungsvorschläge freuen. Ich würde sie einzeln erwürgen, wenn ich rausfände, dass meine mühevollen Rezensionen in den Papierkorb wanderten (es war aber nicht unwahrscheinlich).
Schließlich begannen langsam die Anmeldungen für das kommende Semester und damit kam die Einsicht, dass das Sommersemester vorbereitet werden wollte. Frau Gunnich würde eine neue Vorlesung halten und bombardierte uns mit Bitten (Dringend!). Dazu kamen die üblichen Vorbereitungen für alle Kurse – Kopien für die Semesterapparate in der Bibliothek, neue Terminpläne, Ordner mit Lehrmaterialien für Frau Gunnich – und eine Flut an Studentenanfragen. Die letzte Woche hatte ich außerdem fast komplett damit verbracht, die Staatsexamenstermine für die Lehramtsstudent*innen neu zu planen. Sorgsam gepflegte Excel-Listen hatten die Professor*innen nicht davon abgehalten, ihre Termine kurzfristig noch umzuwerfen, was für mich einen koordinatorischen Super-GAU bedeutet hatte. Da ich für alle Beteiligten – Landeslehrerprüfungsamt, Studierende, Dozent*innen – die Anlaufstelle war, entlud sich jeglicher Unmut über die noch immer nicht feststehenden Termine natürlich an meiner Bürotür.
Zwischen all dem Trubel hatte ich überhaupt keine Zeit gehabt, meine eigenen Kurse vorzubereiten. Ich bot dieses Semester wieder ein Literatur-Proseminar an, dieses Mal zum Thema „Zeitgenössische Identitätsromane“. Außerdem plante ich ein brandneues kulturwissenschaftliches Seminar, was mich komplett überforderte. Die Namen waren mir alle ein Begriff: Roland Barthes, Pierre Bourdieu, Judith Butler, Michel Foucault, Jacques Lacan. Doch obwohl ich ihren Theorien schon unzählige Male begegnet war, warf ich alles durcheinander. Verwechselte theoretische Ansätze. Hatte komplette Blackouts. Wie sollte ich da vor kritischen Studierenden bestehen? In meiner Panik hatte ich eine ganze Bibliothek an Einführungsliteratur ausgeliehen und arbeitete mich durch die dicken Bände. Mein Semesterplan war noch ziemlich lückenhaft und, das musste ich mir selbst eingestehen, noch wenig überzeugend.
Meine Idee war, den Studis das Thema möglichst schmackhaft zu machen. Ich wollte, dass sie verstanden, was die ganzen Theorien mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun hatten. Das Problem war allerdings, dass mir diese Realität zunehmend fremd war. Ich wusste nicht genau, wann es passiert war, aber ich hatte tatsächlich die Seiten gewechselt: Von der Studentin zur Dozentin. Komischerweise fühlte es sich an wie ein Abstieg. Mein Alltag hatte mit dem der energiegeladenen, oder verkaterten, Erstsemester wenig gemein. Für sie war die Welt gefüllt mit Möglichkeiten. Meine Welt hatte sich unmerklich geordnet und stand jetzt ziemlich still. Es kam immer öfter vor, dass ich so etwas sagte, wie: „Weißt du noch, wie wir in Amsterdam waren? Das war… oh, krass! Das ist jetzt zehn Jahre her!“ Vor zehn Jahren hatte ich Abi gemacht. Vor zehn Jahren war ich schon zwei Jahre mit Anton zusammen gewesen. Vor zehn Jahren hatte ich mein Studium in Erlangen angefangen. Vor zehn Jahren war ich in meine erste WG gezogen. Hatte meinen ersten Joint geraucht. Für Erstsemester waren zehn Jahre ein halbes Leben. Für manche sogar mehr.
Ich hatte mich nie sonderlich mit Labels wie Generation Y identifiziert. Aber Fakt war, dass da vor mir eine neue Generation saß, die noch nie Kassette oder Schallplatten gehört hatte – höchstens auf dem Turn-Table –, die nie jemand anderes als Angela Merkel im Kanzleramt erlebt hatte, die andere Medien konsumierte und sich Informationen anders beschaffte als ich (zumindest vermutete ich das). Ich hatte keine Ahnung, welche Einstellung die „jungen Leute“ zu Sex hatten, oder zu Intimfrisuren. Ich wusste nicht, welche Musik man heute in den angesagten Clubs hörte und welche Locations in Heidelberg überhaupt noch offen hatten („Weißt du noch, damals im iPunkt in der Unteren Straße?“). Ich hatte den Anschluss verloren. Ich kam mir immer öfter richtig alt vor.
Als ich gerade die Frage wälzte, wie ich Marshall McLuhans Medientheorie auf soziale Netzwerke übertragen konnte (War Facebook noch ein Ding oder schon total out? Und wenn das Medium die Message war, funktionierte das bei sozialen Netzwerken überhaupt, wenn es nicht mehr einen Sender und viele Empfänger gab, sondern anders herum viele Sender und einen Empfänger?), pingte mein Handy. Angela.
Ich starrte auf mein Handy und sortierte meine Gedanken. Wenn Michael, neben Angela unser zweiter wissenschaftlicher Mitarbeiter, bald nicht mehr am Seminar war, konnte das nur Eins bedeuten: Dass ich seine Stelle bekam! Während ich von Glücksgefühlen durchflutet wurde, wählte ich den Chat mit Emma aus – ich musste das sofort teilen.
Nele teilt ihre News mit Emma
Emma
Ich suchte hektisch mit dem Daumen den Seitenrand meines Handys ab und drehte die Lautstärke von Neles Nachricht runter. Vorsichtig rückte ich ein Stück von Ciarán ab und drückte mich platt gegen seine Zimmerwand. Sein nur 90 Zentimeter breites Bett bot wenig Platz für private Korrespondenzen wie ich feststellte. Kaum begann Neles Aufnahme, mir ins Ohr zu plappern, spürte ich seinen kratzigen Bart am Hals. „Was machst du denn da?“, fragte er auf Englisch. Sein schwerer, irischer Akzent stellte mir die Nackenhaare auf. „Nichts, nichts, schlaf‘ ruhig weiter“, flüsterte ich, während ich Neles aufgeregter Stimme lauschte. „Ist da etwa jemand wichtiger als ich? Das gibt’s ja nicht“, scherzte Ciarán, schlang mir den kräftigen Arm um die Taille und drehte mich geschickt zu sich um. Ich lachte und ließ ergeben das Telefon mit der halb abgehörten Sprachnachricht auf seinen völlig überfüllten Nachttisch plumpsen. Das arme Ding fand auf dem Berg aus Ladekabeln, seinem umgekippten Wecker, drei Büchern und einer unwirsch aufgerissenen Packung Kondome keinen Halt und schlitterte krachend zu Boden. Wir ignorierten den Absturz und machten stattdessen da weiter, wo wir irgendwann letzte Nacht zu sehr später Stunde aufgehört hatten.
Am Vorabend hatte ich mich selbst ein wenig überrascht, als ich auf seine Frage, ob ich bei ihm schlafen wolle, mit „Ja“ geantwortet hatte. Wie alles in meinem Leben ging ich auch Dates normalerweise strukturiert an. Erstes Date: Abendessen oder Kaffeetrinken. Auf jeden Fall etwas, wobei man sich unterhalten konnte. Ein erstes Sondieren, ob man auf derselben Wellenlänge war. Zweites Date: Kino, Museum oder Ähnliches. Abklopfen, ob man seine Freizeit gemeinsam gestalten kann. Wenn’s gut läuft, vielleicht ein bisschen Knutschen zum Abschied. Auf jeden Fall kein Sex vor dem dritten Date. Das war meine eiserne Regel gewesen. Bis Alexander. Aber jetzt war alles anders. Ich war keine grünschnabeligen 21 mehr und befand mich im Land der verkorkst-charmanten Pub-Musiker. Außerdem hatte zwischen Alexander und mir bis zu unserer Trennung sechs Monate lang Eiszeit geherrscht. Sprich: Jede Faser meines Körpers hatte insgeheim auf diese Frage am Ende unseres Dates gehofft.
Ein denkwürdiger Abschluss für ein denkwürdiges erstes Rendezvous. Ciarán hatte mich nämlich zum ‚Gathering‘ mitgenommen, also zum Schafe zusammentreiben. Einige Tage zuvor waren wir über einem Pint Smithwicks, das ich dieses Mal auf Anhieb in verständlichem Englisch bestellt hatte, ins Gespräch gekommen. Ein tatsächliches Gespräch mit wechselseitigen Fragen und Antworten. Er wollte wissen, wo ich herkam und was ich in Allihies machte (wenn ich das so genau wüsste…). Ich berichtete von meinen Wanderungen und wie ich mir einbildete, eine Symbiose mit den Schafen und ihren Trampelpfaden zu führen. „Dann kannst du mir ja am Samstag beim Zusammentreiben helfen“, witzelte Ciarán. „Ja klar, und danach scher‘ ich dir die Viecher noch“, scherzte ich zurück. Absurderweise fand ich mich am Samstagnachmittag tatsächlich in den Bergen hinter Ciaráns Hof wieder und trottete gehorsam hinter einem Grüppchen Schafe her, während ich aus dem Augenwinkel fasziniert beobachtete, wie er seinen Hund den Hang hinaufschickte, um einen weiteren Teil der Herde einzukreisen.
Insgesamt erwies sich das ‚Gathering‘ als langwierige Prozedur. Drei Stunden lang stapften wir durch den Nieselregen, hielten Ausschau nach verloren gegangenen Lämmern und warteten bis Hütehund Charlie die verstreute Herde gebündelt bekam. Oder besser gesagt: Ich wartete, während Ciarán seinem Helfer kryptische Signale über eine flache Pfeife, die er sich zwischen die Vorderzähne klemmte, gab. Schließlich trieben wir knapp 300 Tiere – „297 müssen es sein“, hatte Ciarán gesagt – in eine Talsenke, wo sich ihr Stall befand. Die niedrigen ‚Sheds‘ aus Wellblech standen oft nicht neben den Wohnhäusern der Schafbauern, sondern an günstigen Orten in den Hügeln, so nah wie möglich bei den Weideflächen der Tiere.
Gekonnt manövrierten Charlie und Ciarán die Schafe durchs Stalltor, während ich deplatziert im Weg stand und hilflos mit den Armen fuchtelte. Die aufgescheuchte Herde galoppierte schnurstracks in eines der Gehege, die den Verschlag in verschieden große Quadrate unterteilten, und drängelte sich blökend zusammen. Am Ende passte kein Blatt mehr zwischen die dampfenden Schafe, so eng standen sie beisammen. Ciarán ließ prüfend seinen Blick über die weißen Rücken wandern. Er kannte jedes einzelne Tier, wusste, welches im letzten Jahr eine Totgeburt hatte, welches hinkte und welches gerne ausbüxte. „Das da hat Maden“, schnaubte er entnervt und zeigte auf ein zerzaustes Schaf in der Ecke. „Maden?“, fragte ich entsetzt. „Ja, die Mistviecher nisten sich im Fell ein und fressen sich dann in das Schaf. Wenn man sie nicht rechtzeitig behandelt, sterben sie“, erklärte Ciarán. Ich schauderte. Maden, igitt.
Ciarán schien das Ungeziefer kalt zu lassen. Er schwang sich über das Gatter, packte das kranke Schaf beherzt bei der Wolle und warf es über die Abgrenzung ins benachbarte Gehege. „Kannst du bitte da hinten das Türchen aufmachen?“, murmelte er im Gehen und zeigte vage in die hintere Ecke des Stalls. Ich hatte keine Ahnung, welchen der zahlreichen Durchgänge er meinte und wackelte planlos in die von ihm angezeigte Richtung, während er dem panischen Tier nachhechtete. Schließlich fand ich ein Türchen, das auf den breiten Mittelgang des Stalls führte und mühte mich hektisch mit dem verrosteten Riegel ab. „Ha!“, entfuhr es mir triumphierend, als dieser endlich zurück schnappte und das kleine Tor quietschend aufschwang.
Ciarán wischte sich die Schweißperlen an der eigenen Schulter ab, während sich das Schaf verzweifelt in seinem Griff wand, und schmunzelte. „Ich meinte das da“, sagte er und trat gegen die Verbindungstür zu einem weiteren, winzig kleinen Gehege am Ende des Stalls. Ich lachte entschuldigend. Meine Fähigkeiten im Umgang mit den flauschigen Paarhufern waren wohl noch ausbaufähig. Trotzdem lud mich Ciarán nach der erfolgreichen Notfallversorgung des madenkranken Schafs auf eine Tasse Tee zu sich nach Hause ein. Wir hängten die klammen Wollsocken an den Kamin, schlürften Schwarztee (mit Milch), futterten selbst gemachten ‚Apple Pie‘ von Ciaráns Mama und fabulierten stundenlang über Gott und die Welt. Wie in einem billigen Groschenroman. Aber so kam es, dass ich meine Datingregeln über den Haufen warf und nun in bärtiger Gesellschaft in den Tag startete.
Zwei wunderbar verschwitzte Stunden später schälte ich mich schließlich aus den völlig durcheinandergewirbelten Laken meiner Eroberung und tigerte kreuz und quer durch sein winziges Zimmer, um meine Klamotten zusammenzusuchen. Ciarán lebte noch in seinem Elternhaus – ein Umstand, den ich zuhause für einen 34-jährigen Mann als absolut inakzeptabel befunden hätte. Hier draußen im irischen Outback war das jedoch eher die Norm als die Ausnahme. Kinder, insbesondere Söhne, bequemten sich meist erst für eine zeitnahe Ehepartnerin unter ‚Mammy’s‘ Fittichen heraus. Da Ciarán neben seinem Job im Pub auch den Hof mitführte, machte es schon fast Sinn, dass er sich inmitten der Relikte seiner Kindheit irgendwie arrangiert hatte.
Amüsiert musterte ich die verstaubten Rugby-Medaillen, die an vergilbten Bändern von seiner Wand baumelten. Daneben hing ein zerknittertes Nirvana-Poster. Kurt Cobain, die Gitarre auf dem Schoß, genüsslich an einer Zigarette ziehend, in schwarz-weiß. Vorzeigeathlet trifft auf Möchtegern-Rockstar. Ciarán stieg in seine Jeans, zurrte den Gürtel fest und trat von hinten an mich heran. Er nahm mich in den Arm. „Thanks for staying, beautiful“, raunte er und drückte mir einen Kuss auf die Wange. Ich ließ mich kaum merklich gegen seine Brust sinken und genoss für einen Moment das fast übelkeitserregende Glühen in der Magengegend, das von seinen Berührungen ausgelöst wurde. Die Aufregung einer neuen Liebelei. Dann löste ich mich aus seinem Griff und küsste ihn hastig auf die Lippen. „Ich muss los, kannst du mich nach Allihies fahren?“, fragte ich und bändigte notdürftig meine zerzausten Haare zu einem wilden Knäuel im Nacken.
Ciarán setzte mich in der Ortsmitte ab. „Bis bald“, flötete ich und knallte die Autotür zu. Keine Zeit für Schwärmereien. Ich musste mich beeilen. Damien und ich wollten noch den Gartenzaun vor der Galerie streichen. Eilig marschierte ich die schmale Straße hinauf, vorbei am Pub und an dem kleinen Café, in dem ich mich an regnerischen Tagen so gern verkroch. Während ich durch den Ort spurtete, hörte ich Neles Nachricht nochmal ab. Ich schaute auf die Uhr. Zehn Minuten hatte ich noch Zeit, um mir den Sexgeruch von der Haut zu duschen, mich regenfest anzuziehen und die Pinsel aus dem chaotischen Nebenraum in unserem Cottage zu kramen. Genug Zeit, um auch noch zu antworten, dachte ich schulterzuckend und drückte den Aufnahmebutton.
Emma meldet sich bei Nele
Unschlüssig ließ ich den Button los, die Nachricht sendete. Sollte ich Nele von der Nacht mit Ciarán erzählen? Sie war seit unglaublichen zwölf Jahren mit Anton zusammen, hatte ihren sprichwörtlichen Deckel gleich beim ersten Versuch gefunden. Ich mochte Ciarán, ich fand ihn definitiv sexy, aber die großen Gefühle waren mit Sicherheit noch nicht im Spiel. Für den Moment ging es vor allem um körperliche Anziehung. Ob sich diese beiden Entwürfe von zwischenmenschlichen Beziehungen vertrugen…
Na, erzählt sie’s oder erzählt sie’s nicht?
Ich spurtete durch die alte Holztür unseres Häuschens, von der die rote Farbe in großen Fetzen abblätterte, kickte die Schuhe in die Ecke und sprang in Windeseile unter die Dusche. Ich wunderte mich ein wenig, dass ich Nele den interessantesten Teil des Dates unterschlagen hatte. Offenbar traute ich der Mutter einer zweijährigen Tochter nicht zu, dass sie hemmungslosen Sex im Kinderzimmer eines 34-jährigen Schafbauern gutheißen würde. Blitzschnell rubbelte ich mich trocken und schlüpfte in die ältesten Klamotten, die ich hatte. Während ich mich mit spitzen Zehen in meine Gummistiefel stieg, versuchte ich, meine vorurteilsbeladenen Gedanken zu zerstreuen. Ich würde es ihr schon noch alles ausführlich erzählen. Irgendwann.
Ich ließ den Aufnahme-Button los und WhatsApp sendete. Feierabend. Freja war heute total fertig gewesen – verständlich natürlich. Weil es Anton auch nicht so gut ging, war er mit ihr zuhause geblieben. Am Nachmittag hatte Anton dann allerdings Fieber bekommen. Ich war als Freja-Betreuung eingesprungen. Aber jetzt war sie im Bett. Hoffentlich ging das nicht wieder los mit der Kotzerei. Aber wenn Freja doch mal krank wurde, war sie in der Regel am übernächsten Tag wieder topfit. Die Hoffnung blieb also. Bei Anton war ich mir allerdings nicht so sicher.
Ich ließ den Blick schweifen. Das Wohnzimmer sah fürchterlich aus. In unserem Bestreben, Freja zu beschäftigen, hatten Anton und ich alle Register gezogen. Dass fast Dreijährige aber auch niemals einfach im Bett liegen konnten. Krankheit bedeutete nur eins: potentiell schlechte Laune. Also nichts wie her mit den Ablenkungen. Der Wasserfarbkasten balancierte auf einem Haufen Puzzle, die alle durcheinandergeraten waren. Zeitungspapier bedeckte den Boden und ein paar traurige Stöckchen, halb angemalt, lagen überall herum. Anton wollte damit unsere verschiedenen Tomatensorten markieren. Vor allem reihten sie sich ein in Frejas Beschäftigungs-Wunderkasten. Genau wie die Holzeisenbahn, ein Sammelsurium aus Nüssen und trockenen Nudeln, die neben den Holzklötzen Frejas Kaufladen bewohnten und jetzt auf dem Boden verteilt waren, weil Freja „gekocht“ hatte. Puppenkleider flogen herum, genau wie jede Menge Papierschnipsel, weil Freja jetzt die Schere bedienen konnte. Dicke Buntstifte rollten über den Boden, benutzte Taschentücher füllten die Lücken im Bodenbelag. In der Mitte thronte die Kotzschüssel für alle Fälle. Zwischen zwei Sesseln hatten wir mit einer Decke eine Höhle gebaut. Frejas Haus. Darin wurde nicht nur Essen zubereitet, sondern auch eingekauft, Post entgegengenommen und Aufträge erteilt. Mir kam Peter Fox in den Sinn: „Ist mir egal, ich kann nicht mit dem Dreck und ohne kann ich auch nicht. Bin gut drauf wie ne Horde Kinder ohne Aufsicht.“ Ich musste schmunzeln. Irgendwie war mir das Chaos heute egal.
Es war noch zu früh zum Schlafengehen und Lesen mochte ich weiß Gott nicht schon wieder. Ich verbachte ohnehin jede freie Minute hinter einem Einband. Meistens mit Stift in der Hand. Und Harry Potter konnte ich auch nicht mehr sehen. Okay, ich hatte alle sieben Bände durch. Mal wieder. Jetzt musste erst einmal ein wenig Zeit verstreichen, bis ich wieder zum Stein der Weisen griff. Was gab es noch? Netflix ohne Anton machte irgendwie keinen Spaß. Fernsehen hatten wir nicht. Und Emma hatte ich schon über Gebühr genervt. Ausgehen war nicht drin. Erstens: zu kurzfristig. Zweitens: mit krankem Kind und Mann unverantwortlich. Telefonieren? Um die Zeit war meine Schwester donnerstags beim Yoga. Mh. Aufräumen? Dazu fühlte ich mich dann doch nicht in der Lage. Ich hatte doch Feierabend!
Ich stakste vorsichtig über den bedeckten Dielenboden. Es knarzte vertraut. Meine Füße trugen mich zum Klavier, fast unsichtbar zwischen Kaufladen und Sessel-Höhle eingezwängt. Von mir selbst irritiert trommelte ich auf der Abdeckung herum – wann hatte ich das letzte Mal gespielt? Plötzlich entschlossen räumte ich einen Elefanten mit Nasenring, der vibriert, wenn man am Rüssel zieht, aus dem Weg und setzte mich auf den Hocker. Der Deckel des Klaviers war ziemlich verstaubt und ich wedelte ein paar Spinnweben davon, bevor ich die Abdeckung anhob. Meine Oma hatte gern Klavier gespielt. Sie hatte oft erzählt, dass sie als junges Mädchen aufgetreten war. Wo, hatte ich vergessen. Ich konnte mich vage erinnern, dass sie ab und zu den Deckel hochgeklappt und ein Lied angestimmt hatte. Was, wusste ich nicht mehr.
Meine Finger strichen über die kühlen Tasten und spielten wie von selbst eine kleine Melodie. Ich war überrascht, dass ich nach all den Jahren noch etwas zustande brachte. Suchend schaute ich mich nach Noten um und kramte aus einer alten Zeitungsbox ein paar an den Rändern vergilbte Seiten. Think of me. Ich glättete die zerknitterten Blätter und stellte sie auf das Notenpult. Probeweise spielte ich die ersten Töne und war erneut verblüfft: Meine Finger kannten noch die meisten Abläufe und flogen über die Tasten. Das Klavier war ziemlich verstimmt. Aber ich fand es so gerade besonders schön. Ich musste schlucken. Musik war so wunderbar. In meinen Augen sammelten sich Tränen. Ich blinzelte durch den Schleier und versuchte, die Noten in Melodien umzusetzen. Recall those days, look back on all those times, think of the things we’ll never do. Meine Finger tasteten sich voran bis zum letzten Akkord. But please promise me that sometimes you will think of me. Mittlerweile waren alle Dämme gebrochen und ich flennte einfach nur hemmungslos. Krass, was so ein bisschen Klavierspielen auslösen konnte! Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie sehr ich es vermisst hatte.
Emma „Urghs, Norovirus“, dachte ich angewidert und nahm einen Schluck von meinem Cider. Das war er, einer dieser Momente. Wenn sich die leise, aber beharrliche Sehnsucht nach einer eigenen kleinen Familie wegduckte und ich mein kinder- und seit neuestem partnerloses Dasein plötzlich ungemein schätzte. Ich saß am berühmten ‚Salthill Prom‘ von Galway in einem kleinen Pub direkt an der langen Promenade und hatte tatsächlich gerade Ishiguros Never let me go zu Ende gelesen. Eine Geschichte über menschliche Ersatzteillager, die sich einem vorgefertigten Lebensweg fügen mussten. Ich öffnete Neles E-Mail auf meinem Handy und lud das angehängte Word-Dokument herunter. Einen Dissertationstext auf dem Smartphone zu lesen war noch qualvoller als sowieso schon, aber ich war neugierig, welche Gedanken sich die Literaturexpertin unseres Freundeskreises dazu gemacht hatte.
Ich las ein paar Zeilen und blieb direkt am Ende des ersten Absatzes hängen: „Place (…) shapes and constraints the stories that are told, or, indeed, that could be told. (Bruner, „Life as Narrative“ 703)” Nachdenklich hob ich mein Pint wieder an die Lippen und stellte es ab, ohne zu trinken. Ich blickte aus dem Fenster. Das verpönte irische Wetter war mir gnädig gestimmt. Seit ich vor drei Tagen gelandet war, zeigte sich der Himmel wolkenlos und die Temperaturen kletterten auf bis zu 16 Grad. Eine leichte Brise warf übermütige, kleine Wellen gegen die felsige Abgrenzung der Promenade. Es wimmelte vor viel zu luftig gekleideter Sonnenanbeter*innen. Familien mit kleinen Kindern, eine Gruppe Teenager, vielleicht vierzehn Jahre alt, ein älteres Pärchen – sie alle hatten vermutlich ganz tief im Kleiderschrank gewühlt und ihre kaum getragenen Shorts, T-Shirts und Sandalen hervorgekramt. Frühling in Irland.
Ich grübelte weiter. Orte bestimmten also die Geschichten, die geschehen konnten, zogen Grenzen, gaben einen Kontext vor. So hatte ich das noch nie gesehen. Im Gegensatz zu den Figuren in Never Let Me Go war der Ort, an dem ich mich befand, für mich nicht festgeschrieben. Ganz im Gegenteil: Jetzt, wo ich den Roman fertiggelesen hatte, gingen mir die Ausreden aus, um darüber nachzudenken, wohin zur Hölle ich eigentlich wollte und was ich dann dort tun würde. Ich konnte gehen, wohin ich wollte. Die Insel, genau genommen die ganze Welt, standen mir offen. Wieder spürte ich, wie ich einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung meines bisherigen Lebensentwurfs ging. „Und Neles aktuellem Lebensentwurf“, schoss es mir durch den Kopf. Seit sie ihr Elternhaus übernommen hatte, war sie ‚verortet‘. Alle weiteren Ereignisse, oder auch Geschichten, in ihrem und Antons Leben würden sich um diesen Ort herum entwickeln. Sie hatte ein richtiges Zuhause. Ich nippte an meinem Cider, unsicher, ob ich das beneidenswert oder einengend fand.
Die Tür des Pubs öffnete sich quietschend und ein schmaler, junger Mann mit Brille und Pferdeschwanz kam herein, sah sich kurz um und lief dann zielstrebig zu einem Tisch am Fenster, wo bereits zwei Frauen und ein weiterer Typ, alle ungefähr in meinem Alter, saßen. Es gab ein großes ‚Hallo‘, der Gute hatte es wohl entgegen aller Erwartungen überraschend doch geschafft. Vielleicht war er in der Arbeit aufgehalten worden, hatte schon abgesagt. Aber jetzt war er da. Er erinnerte mich an Jonathan. Während ich die Gruppe von meinem einsamen Tischchen in der Ecke beobachtete, wurde mir zum ersten Mal klar, dass ich allein war. Allein auf Reisen. Das hatte ich noch nie gemacht. Australien, Japan, Mexico – ich hatte schon einige Ecken der Welt gesehen, aber immer in Begleitung von Freund*innen. Jetzt saß ich da mit meinem einsamen Pint. Vogelfrei und verloren zugleich.
Gedankenverloren verkroch ich mich hinter meinem Irland-Reiseführer und blätterte ziellos darin herum. Irgendwie war mir nicht nach Stadtleben. „Back to the roots“, dachte ich. Raus aufs Land. Ich drehte eine weitere Seite um und stockte. Ein großes Foto zeigte eine dramatische Küstenlandschaft. Knorrige Felsen, brausende Wellen, ein endloser grüner Hügelteppich. Eine enge Straße passte sich bereitwillig an die störrischen Buchten der Halbinsel an. Der Ring of Beara unten im Südwesten. Kerry. Kurzentschlossen nahm ich mein Handy zur Hand und rief workaway auf, eine Webseite für Freiwilligenarbeit. Menschen, die Hilfe mit Kinderbetreuung, Farmarbeit oder was auch immer brauchten, trafen auf Reisende, die bereit waren, ein paar Stunden am Tag auszuhelfen. Dafür gab’s in der Regel Kost und Logis. Noch in Deutschland hatte ich mich registriert, jetzt machte ich mich auf die Suche nach meinem ersten ‚Host‘. Nach wenigen Minuten wurde ich fündig. Ein Künstlerpaar auf eben jenem Ring of Beara suchte jemanden, der es beim Einrichten seiner neuen Galerie mit Café unterstützen würde. Mit flinken Fingern formulierte ich eine Nachricht an die beiden, versuchte möglichst freundlich und enthusiastisch zu wirken, und schickte ab. Ich spürte ein leichtes Flattern in der Magengegend. Meine Irland-Story hatte begonnen.
Nele
Emma erzählt Nele von ihrem ersten Ziel in Irland
Ich zupfte die Kopfhörer aus den Ohrmuscheln und schaute mich suchend nach Freja um. Sie war gerade darauf konzentriert, Sand mit einer gelben Plastik-Eiswaffel in ein rotes Flugzeugförmchen zu schaufeln. Ein Sammelsurium an weiteren bunten Plastikbehältern wartete noch darauf, befüllt zu werden. Wir hatten heute ausnahmsweise mal an die Sandelsachen gedacht. Yay. Ich wandte mich wieder meinem Smartphone zu. Emma war online. Sollte ich sie anrufen? Aber die Gefahr, jederzeit unterbrochen zu werden, machte die Vorstellung unbequem. Und wozu hatten wir so schlaue Geräte?
Nele auf dem Spielplatz
Freja war vom Bauch abwärts von einer feuchten Sandschicht bedeckt. Die Matschhose hatten wir natürlich wieder vergessen. Genau wie Wechselkleidung. „Da ist der Fail“, dachte ich. Allerdings brachte das trübe Aprilwetter einen unschätzbaren Vorteil mit sich: Der Spielplatz war relativ leer. Keine Muttis mit Dinkelvollkorn-Brezelchen. Keine Omis mit Sakrotan-Tüchern. Nur wir und der Matsch. Freja bibberte. Ihre Hände, dick eingesandet, waren Eisflossen. Na super. Ihre Nase lief so stark, dass der Rotz schon über ihre Lippen geflossen war. Vom Norovirus zur Erkältung in unter drei Tagen. Gratulation, Mama. „Komm, meine Liebe“, seufzte ich. „Wir gehen nach Hause in die Badewanne.“ Auf dem Weg – Freja auf dem Arm, das Laufrad und die Sandsachen unbeholfen unter den Arm geklemmt – begegneten wir einer Mami, die ihr etwa zweijähriges Kind im besten Boogaboo zum Spielplatz fuhr. Das Kind war so dick eingepackt, dass die Arme mit den Fäustlingen unnatürlich vom Körper abstanden. Die beiden starrten uns an. Ich starrte wütend zurück. Mein Rücken ächzte unter der Last. Freja war super schwer. Ich setzte sie ab und bearbeitete sie fünf Minuten lang, ob sie nicht selbst laufen könne. Nope. Nach ein wenig Geschrei, viel Rotz und einigen interessierten Passanten, gab ich mich geschlagen – und ich nahm den Heimweg wieder auf. Gut, dass nächsten Montag wieder Yoga war.
Frejas Atem war tief und gleichmäßig. Kein Rasseln, kein Röcheln, kein Rotz. Sie hustete. Naja – fast. Ich lauschte ihr noch eine Weile und genoss die Ruhe. Es duftete schwach nach Frejas Shampoo und ihrem unverkennbaren Babygeruch. Sie strömte eine Art Schlafhormon aus, dass mir die Glieder ganz schwer wurden. Dazu mischte sich der Geruch von feuchter Schafswolle und süßer Honigmilch. In diesem kleinen Zimmerchen war die Welt in Ordnung. Scheinbar hatte die heiße Wanne wirklich ihren Sinn erfüllt. Freja war ganz friedlich gewesen zu Hause. Hatte sich anstandslos ausgezogen und in der Wanne brav mit ihren Entchen gespielt (und deren ekelhaften Ausstoß ins Wasser geblasen – Badeenten waren so mit das Unhygienischste, was man sich vorstellen konnte). Sie hatte sich sogar die Haare waschen und kämmen lassen ohne großes Brimborium. Hatte ihr Müsli aufgegessen, ihre Zähne putzen lassen und nach zwei Büchern zugelassen, dass ich das Licht ausmachte. Sie hatte mich an sich rangezogen, mich umklammert, mir einen dicken Knutscher auf die Wange gedrückt und gesagt: „Jetzt kannst du auch gut schlafen.“ Dann hatte sie sich an mich geschmiegt und war schließlich am Ende des zweiten Lieds („Misty Mountains“) eingeschlummert. Traumhaft.
Ich schälte mich vorsichtig unter der Decke hervor. Freja murmelte leise vor sich hin, atmete dann aber ruhig weiter. Meine Füße waren schon ganz kalt, weil sie unten rausgeguckt hatten. Auf Zehenspitzen tapste ich aus dem Zimmer und drückte vorsichtig die Tür ins Schloss. Klick. Aufatmen. Ich legte den Kopf in den Nacken und drückte die Schulterblätter zusammen. Es knackte. Dabei fiel mir ein, dass die Küche noch ein einziger Sauhaufen war. Ergeben trottete ich die knarzende Treppe hinunter. Bis ich das Gröbste abgespült, verräumt, gewischt und entsorgt hatte, war es schon wieder halb zehn. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mein Kapitel zu überarbeiten. Emma hatte mir ein paar Kommentare zurückgeschickt. Sie fand unter anderem verwirrend, wie ich den Begriff des Topos verwendete. Der Topos war bei mir das System der räumlichen Relationen im Roman, das hatte ich von Juri Lotman. Ich bezog Topos allerdings nicht nur auf die Orte, in denen sich die Figuren bewegten, sondern auch auf deren Fantasie- oder Sehnsuchtsorte. Nach dieser Logik konnten Orte, die weit voneinander entfernt lagen, im Text ganz nah aneinander rücken, getrennt nur durch ein paar Zeilen oder Zeichen. Im Grunde fand ich das gut, musste aber zugeben, dass das ganze Konzept von Raum, und Bewegung im Raum, dadurch schwammig wurde. Konnte ich das Problem heute lösen? Unwahrscheinlich.
Ich ließ mich aufs Sofa im Wohnzimmer plumpsen und starrte vor mich hin. Anton war noch immer bei der Arbeit. Mal wieder hatte ich keinen Antrieb, ein Buch in die Hand zu nehmen oder auf einen Bildschirm zu glotzen. Stattdessen richtete ich heute mein Augenmerk auf das Bücherregal – Ikea Typ Ivar. Geschätztes Alter: knapp 30 Jahre. Erstaunlich, wie lange es schon durchgehalten hatte. Mich beschlich der Verdacht, dass die Bücher und Fotoalben mit zur Stabilität beitrugen. Ich stand auf und zog wahllos ein Album mit rosa-grün geschecktem Einband heraus. Ich schlug es auf. 8. Buch für Lore und Nele.
Wie immer, wenn ich etwas in Händen hielt, das meine Mama geschrieben hatte, fühlte ich einen kleinen Stich. Das erste Bild zeigte mich mit meiner Schwester Lore, Hand in Hand vor dem geschmückten Weihnachtsbaum. 24. Dezember 1991. Ich schaute nochmal genau hin. Hinter den Zweigen lugte Ivar hervor. Meine Schwester und ich trugen beide fürchterliche Kleider, die wir ziemlich sicher von unserer Großtante aus Paris geschenkt bekommen hatten – der Versuch, sich für Heiligabend festlich herauszuputzen. Ich blätterte weiter. Unser Garten. Die Zäune, Wege und Beete nicht krumm und schief, sondern frisch angelegt. Mein Kinderzimmer. Gelbe Bettwäsche mit bunten Herzen. Der Teppich im Wohnzimmer, bevor meine Eltern den Dielenboden wieder freigelegt hatten. Meine Schwester, wie sie mich als Jungfrau Maria verkleidete. Unsere Gasse. Das Kopfsteinpflaster ungewohnt verfugt, jeder Stein fest verankert. Da: Ivar gefüllt mit Büchern und einem alten Röhrenfernseher.
Ich hob den Blick. Anstelle des Fernsehers prangte dort jetzt ein Flachbildschirm verbunden mit dem World Wide Web. Viel hatte sich nicht geändert. Die Sofas waren damals nigelnagelneu gewesen. Statt verknautscht sahen sie straff aus und waren ein paar Nuancen heller. Meine Oma und mein Opa! Erstaunlich, die beiden hatten bis zuletzt so ausgesehen, wie auf dem alten Foto. Ich, wie ich Omas Lippenstift ausprobierte. Wie alt war ich da? Ich rechnete kurz nach. Ich musste in etwa in Frejas Alter sein. Ich starrte mein junges Ich an und versuchte, Ähnlichkeiten zu entdecken. Das Grinsen. Die Augenpartie. Ich fand einen Eintrag meiner Mama: Liebe Nele! Du hast viel Charme aber des Öfteren bist Du mit deinen 2 ½ auch umwerfend eigensinnig! Da, wieder dieser kleine Stich.
Es war schon merkwürdig, wie sich das Rad weiterdrehte. Vor nicht allzu langer Zeit, war ich es, die im Garten im Sandkasten buddelte. Und es war meine Mama, die versuchte, in Bildern einzufangen, wie ihre Töchter Tag für Tag größer wurden. Sie selbst war nur selten im Bild – hatte sich nur dadurch verewigt, von ihrem Gegenüber angestrahlt zu werden, wenn sie den Auslöser drückte. Hatte den Farbfilm zum Entwickeln gebracht, jedes Bild mit Prittstift aufgeklebt. Und hier und da kommentiert. Hatte die Historie unseres Familienlebens in zwanzig dicken Bänden festgehalten. Und nun war es an ihren Töchtern, etwas zurückzugeben. Etwas von ihr in die Welt zu tragen. Mein Blick schweifte über die Wände, die sie mit roten Lilien verziert hatte. Über die Bilderrahmen, in denen sie einige unserer schönsten Werke ausgestellt hatte. Über die Tonfiguren und Vasen, die sie auf den freigelegten Eichenbalken arrangiert hatte. Alles ihr Werk.
Ich seufzte. Alexander war fast aus den Socken gekippt, als ich ihm eröffnet hatte, dass ich meinen Job hinschmeißen würde. Für seine Verhältnisse zumindest. Er ließ sich ja selten zu Gefühlsausbrüchen hinreißen, aber das hatte er offenbar nicht erwartet. Er blickte mich fragend an: „Und dann?“ Ich brauchte einen Moment, um meinen Mut zusammenzusammeln: „Dann geh‘ ich für eine Zeit nach Irland.“ Schockiert stellte ich fest, dass seine Augen glasig wurden. Waren das Tränen? „Dann brauchen wir die Wohnung also nicht.“ Ich war mir fast sicher, dass das Tränen waren, die sich da hinter Alexanders Lidern aufstauten. Ich spürte wie mein Herz ein bisschen brach. Mir wurde übel. „Erstmal nicht, nein.“ Er schaute weg, presste die Lippen zusammen. „Hm. Ok.“ Ich legte beide Hände auf seine Knie. „Nur für ein paar Monate, Alex. Ich will nur ein bisschen durchatmen. Und dann machen wir weiter.“ Er rückte seine Beine von mir ab, sodass meine Hände herunterglitten. „Joa. Schauen wir dann mal.“ Wieder einmal saßen wir auf seiner Wildledercouch. Das Epizentrum unserer Beziehung wie es schien. Er stützte seinen Ellenbogen auf die Rückenlehne und presste seine Stirn gegen seine Handfläche. „Ich will damit nicht sagen, dass ich das mit uns beenden will“, sagte ich hilflos. Er starrte auf die Fingerspitzen seiner anderen Hand. „Ok.“
Damit hatten wir es erst einmal belassen. Alexanders Enttäuschung saß mir noch in den Knochen und doch konnte ich mir nicht helfen – ich freute mich tierisch. Am Morgen war ich schnurstracks in Rainers Büro marschiert. Er saß an seinem Schreibtisch, eine Tasse Kaffee neben der Tastatur, und war vertieft in die morgendliche E-Mail-Flut. „Guten Morgen, kann ich dich kurz sprechen?“, hatte ich mit fester Stimme gefragt und war einfach eingetreten, ohne zu klopfen. Sein Blick hellte sich auf. „Emma. Klar, komm’ rein!“ Rainer nahm sich immer Zeit für seine Leute, das musste man ihm lassen. Ich schnappte mir einen Stuhl und setzte mich ihm gegenüber. „Mir ist klar geworden, was ich will“, sagte ich. Mein Chef lächelte erwartungsvoll. Ich sah ihm an, was er dachte: Sie nimmt die Teamleitung an. Ist doch klar. Ich holte kurz Luft und fuhr fort: „Nur leider hat das nichts mit dieser Agentur zu tun.“ Rainer verschluckte sich an seinem Kaffee. „Wie bitte?“, hustete er. „Ich kündige“, sagte ich und hatte Mühe, ein kleines Grinsen zu unterdrücken. „Bist du wahnsinnig? Wie kommst du denn da drauf?“ Rainer riss die Augen auf und starrte mich mit leicht geöffnetem Mund an. „Ich will nach Irland“, erklärte ich schulterzuckend. „Dann nimm‘ doch Urlaub! Wieso willst du denn kündigen???“ So ging das noch eine Weile hin und her. Am Ende verstand er einigermaßen, was mich antrieb. Ich war jung, hatte noch keine Verantwortung im Leben, hatte Geld angespart. Kurz vor Feierabend reichte ich mein Kündigungsschreiben bei HR ein. Eine unscheinbare Din A4-Seite, drei knappe Sätze und ich war frei. Quasi. Die Kündigungsfrist war vier Wochen. Statt eine Broschüre über die E-Mobilitätsziele eines unserer Kunden für meine Kollegin Korrektur zu lesen, hatte ich nach der Mittagspause bereits nach Ryanair-Flügen Richtung Dublin gesucht. Der Günstigste lag bei 36,99 Euro ab „München West“, diesem flughafengewordenen Größenwahn der Billigairline. Was Ryanair großspurig „München West“ nannte, war eine einsame Start- und Landebahn im südbayerischen Niemandsland.
Jetzt saß ich in meinem Lieblingscafé am Erlanger Schlossplatz und zückte die Kreditkarte. Ich würde das buchen. Ernsthaft. Mein Herz hüpfte. Ich verdrängte Alexanders tränengefüllte Augen sowie Charlottes bittersüße Umarmung, als ich ihr von meinen Plänen erzählte. „Das klingt toll“, hatte sie gesagt. „Aber du wirst mir so fehlen.“ Ich versetzte mich innerlich an den ‚Salthill Prom‘, Galways berühmte Strandpromenade, stellte mir den salzigen Fischgeruch der Westküste vor und begann, meine Daten in die Buchungsmaske bei Ryanair einzugeben. Mein Herz hüpfte erneut, als ich das Kästchen für „Nur Hinflug“ anklickte. Nur Hinflug. One-way nach Irland. Ungläubig beobachtete ich, wie meine Finger meine Kreditkartendetails abtippten. Haja, wieso nicht….
Nele
Unsere Identität basiert maßgeblich auf den Geschichten, die wir über uns selbst erzählen. In meiner Arbeit möchte ich diese identitätsstiftende Funktion von Erzählungen näher untersuchen. Meine These ist, dass Erzähler*innen durch ihre Geschichten „mögliche Leben“ entwerfen. „Möglich“ insofern, als unsere narrativ konstruierten Selbstbilder immer im Spannungsfeld von subjektiven Bedürfnissen und sozio-kulturellen Zwängen und Konventionen ausgehandelt werden müssen. Ich kaute ungeduldig auf einem der 10.000 Kulis herum, die meinen Schreibtisch bevölkerten. Ich bastelte mal wieder an einer Bewerbung für ein Promotionsstipendium, diesmal bei der Studienstiftung des deutschen Volkes. Jene verlangte von mir, ungezählte Stunden intensiver Recherche, kleinstteiliger Analyse und philosophischer Ergüsse in ein Abstract von 150 Wörtern zu pressen. Heraus kam ein Geschwurbel, das einigermaßen vielversprechend klang, aber kaum verbergen konnte, dass ich den eigentlichen Sinn meiner Arbeit selbst noch nicht durchdrungen hatte. Ich seufzte. Wieder mal.
Dabei durfte ich mich nicht beschweren: Es war Donnerstag und die Woche war quasi schon geritzt. Die diversen Bitten, die am Anfang der Woche noch unüberwindlich erschienen waren, hatten sich mittlerweile aufgeräumt. Nicht einmal die Gunnichs schafften es, eine Armada von insgesamt sieben Mitarbeiter*innen durchgängig voll auszulasten. (Nicht gezählt waren hierbei natürlich die Mitarbeiter*innen von Albert Gunnich – ich konnte mir vorstellen, dass die noch weniger oft in den Genuss von Arbeitsmangel kamen.) Meine Seminare hatte ich für diese Woche ebenfalls schon rum. Übernächste Woche waren Semesterferien und somit musste ich auch nicht mehr viel für den Unterricht vorbereiten. So kam ich in den seltenen Luxus eines Bitten-freien Vormittags, den ich meiner Dissertation widmen konnte.
Das war Teil des Deals: Frau Gunnich hatte mich mit dem Versprechen geködert, dass ich wie eine richtige wissenschaftliche Mitarbeiterin behandelt würde. Ausgenommen natürlich bei Lohn und Titel. Leider, leider war nun mal gerade keine Mitarbeiterstelle frei gewesen. So hatte ich mich mit der Anstellung als Sekretärin abgefunden – trotz eines Masters mit Notenschnitt 1,0. Ich hatte zu dem Zeitpunkt schon gewusst, dass ich schwanger war, es aber selbstverständlich für mich behalten. Und war einfach nur froh, direkt nach dem Abschluss eine Festanstellung gefunden zu haben. Die Lehraufträge waren auch Teil des Deals. Es hörte sich schließlich verdammt viel besser an, wenn man erzählte: „Ich arbeite bei der Uni. Ich habe dort auch zwei Lehraufträge.“ Anstatt zu sagen: „Ich arbeite als Sekretärin von Frau Gunnich. Punkt.“ Natürlich waren die Lehraufträge miserabel bezahlt. Abgerechnet wurde auf selbstständiger Basis: Rente, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung – Fehlanzeige. Wenn ich die Stunden mit rein rechnete, die ich für die Seminarplanung, die Stundenvorbereitung und die Korrektur der vierzig, fünfzig Hausarbeiten aufwendete, bekam ich regelmäßig schlechte Laune. Mindestlohn war das lange nicht. Zum Glück konnte ich einiges Studienmaterial von meiner Dissertation zweitverwerten, was den Aufwand allerdings nur geringfügig schmälerte. Ein Stipendium musste her. Das sah gut aus und würde mich in die komfortable Lage versetzen, meine volle Arbeitskraft in die Doktorarbeit fließen zu lassen. Wo auch immer das letztlich hinführen sollte.
In der Hoffnung, Inspiration zu finden, schnappte ich mir wohl zum hundertsten Mal diesen Vormittag mein Handy. Keine Nachrichten. Ich scrollte durch meine Chats und blieb an der letzten Konversation mit Emma hängen. Halt mich auf dem Laufenden. Ich streifte meine Turnschuhe ab und machte es mir auf dem Drehstuhl so bequem wie möglich – ein Vorteil, wenn man ein riesengroßes Einzelbüro hat.
Keine Antwort. Zwei graue Häkchen zeigten, dass die Nachricht angekommen war, noch nicht gelesen. Klar, Emma war ja auch im Büro. Im Gegensatz zu mir versank sie wahrscheinlich gerade wieder bis zum Haaransatz in Arbeit. Schade, ich hatte mich auf ein wenig Abwechslung gefreut. Ich nahm den Kuli und knabberte weiter daran herum, während ich durch unseren Chatverlauf wischte. Schon komisch. Ich hatte Emma schon von Anfang an um ihren Job beneidet. Sie hatte einen richtigen Job! Nicht so etwas Halbgares, wie ich. „Ich promoviere“ – das klang beeindruckend, aber auch irgendwie weltfremd. Je näher man hinsah, desto weniger glamourös war es. Und niemand glaubte im Traum daran, dass sich der Aufwand am Ende auszahlte. Promovieren – das bedeutete, gebildet aber arm zu sein. Am Ende der Laufbahn stand das Bild eines verhärmten Professors mit wirrem Haar. Wenn man ein Mann war. Als Frau blieb einem ja noch, einen Ingenieur oder ITler zu heiraten. Es gab natürlich Ausnahmen – siehe Frau Gunnich. Die Tür dahin hatte ich allerdings geschlossen, als ich mich dazu entschieden hatte, ein Kind in die Welt zu setzen.
Emma wiederum hatte bewiesen, dass weltfremde Geisteswissenschaftler*innen wie wir durchaus auf dem regulären Arbeitsmarkt gefragt waren. Gut, vielleicht war sie auch weniger weltfremd als ich. Das hatte sich schon bei den Praktika während der Unizeit abgezeichnet. Sie war nicht wie ich im Theater, beim Film, im Kunstverein. Mal hier, morgen da. Überall reinschnuppern. Alles verwerfen. Nein: Sie war den ordentlichen Weg gegangen. Praktikantin, Werkstudentin, Angestellte. Geradlinig. Ohne Schnörkel. Effizient. Mein Werdegang war hingegen chaotisch. Unberechenbar. Planlos.
Und jetzt das: Sie kündigte. Ich beneidete sie schon wieder. Um die Klarheit mit der sie den Entschluss gefasst hatte. Einfach so. Einfach ausbrechen. Einfach mal nach Irland fahren. Sorgen machen musste man sich nicht. Nicht bei Emma. Sie war taff – sie fand schon was anderes, keine Frage. Sie hatte die Aussicht, sich ein paar nette Monate zu machen. Einfach ihr Gespartes auf den Kopf zu hauen. Und schließlich als gefragte Fachkraft im besten Alter, frisch erholt wieder in den Jobmarkt einzusteigen. Ich hatte die Aussicht, irgendwann in den kommenden Jahren meine Doktorarbeit abzugeben, um dann festzustellen, dass sich außerhalb des Elfenbeinturms der Uni die Uhren weitergedreht hatten. Herzlichen Glückwunsch.
Lustlos starrte ich wieder auf meine Bewerbung. In einer Zeit von Facebook und LinkedIn, in der sich das Individuum ständig neu erfinden, selbst präsentieren und optimieren muss, ist die Frage, wie Menschen aus dem unendlichen Strom von Erfahrungen und Eindrücken Sinn und Identität ziehen, wieder hochaktuell. Ein fürchterlich langer Satz. Verschwurbelt. Verkopft. Aber ein gutes Zitat hatte ich noch gefunden: „In the modern world, the self is a reflexive project that a person is expected to ‘work on.’“ (McAdams, Identity and the Life Story 202) Das war’s, produktiver wurde es vermutlich heute nicht. Vielleicht sollte ich lieber mit Angela einen Kaffee trinken gehen.
Emma
Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche, als Alexanders Haustür hinter mir zufiel. Zum letzten Mal, so wie’s aussah. Ich schlang mir die Träger meiner Stofftasche über die Schulter und sah aus dem Augenwinkel das Sammelsurium unserer frisch verendeten Beziehung unter meinem Arm verschwinden. Ein Buch. Eine Gesichtscreme. Ein paar Wollsocken. Die Kaffeetasse, die mal seine gewesen war, die sich aber inzwischen so selbstverständlich in meine Handflächen schmiegte, dass Alexander wollte, dass ich sie behielt. Er wusste eben, dass ich einen Spleen mit Tassen hatte. Die meisten mochte ich nicht, ich hatte immer die eine Lieblingstasse, für die Hängeschränke durchwühlt und Spülmaschinenprogramme unterbrochen wurden, wenn es sein musste. Groß und bauchig war sie vorzugsweise. Jetzt lag Alexanders hellgrüne Kaffeetasse zwischen all den anderen Dingen, mit denen sich mein Leben in seins ausgebreitet hatte, und rieb sich die weißen Punkte wund. Alexander und ich hatten Schluss gemacht. Einfach so. Beim Gedanken daran fühlte ich aktuell nichts. Mein Gehirn saß stumpf zwischen meinen Ohren und versuchte nicht einmal, die Bedeutung der letzten zwei Stunden zu umreißen. Ich zog mein Handy aus der Tasche und sah eine Nachricht von Nele aufblitzen. Huhu! Na, wie ist die Lage? „Haha, gute Frage“, dachte ich und beschloss, mir eine ruhige Ecke im Park zu suchen, um das zu beantworten. Nicht nur für Nele, auch für mich selbst. Ich warf den Beutel mit meinen Habseligkeiten in meinen Fahrradkorb, der sich immer noch unsicher zur Seite neigte. Alexander wollte mir Kabelbinder geben, damit ich das klapperige Ding endlich festzurren konnte. Eigentlich. Mir kamen kurz die Tränen, aber ich schüttelte trotzig den Kopf. „Du kannst dir deine eigenen scheiß Kabelbinder kaufen, dafür brauchst du wohl keinen Typen“, schnarrte es in meinem Kopf. Damit schwang ich mich aufs Rad und kurvte zügig die Straße hinunter. Das war das Schöne an Erlangen. Alles lag so nah zusammen. Kompakt ordneten sich die vielen Einbahnstraßen in rechten Winkeln gegeneinander an. Innerhalb von zehn Minuten erreichte man mit dem Fahrrad alles, was die Stadt zu bieten hatte. Manche mochten das provinziell nennen. Ein Akademiker-Loch, zwiegespalten zwischen den Aperol-Spritz-trinkenden Siemensmitarbeiter*innen, die mit hochgekrempelten Hemds- und Blusenärmeln nach Feierabend das Theaterviertel bevölkerten, und den Heerscharen an Student*innen, die bewaffnet mit Hornbrillen und Jutebeuteln den näheren Umkreis der Uni-Bibliothek umschwärmten und in endlosen Kaffeepausen so taten als würden sie die Welt verstehen. Ich parkte mein unscheinbares Damenrad zwischen den betont alten Drahteseln, bestückt mit hölzernen Weinkisten anstatt Fahrradkörben, und den Hollandrädern der Jura- und BWL-Fraktion und wickelte mein Fahrradschloss um den Hinterreifen. Der halbherzige Versuch das Unvermeidbare zu verhindern. In den letzten vier Jahren waren mir drei Räder gestohlen worden. Seitdem nahm ich jedes Mal, wenn ich mein treues Transportmittel irgendwo zurückließ, leise Abschied für den Fall, dass ich zu Fuß nach Hause gehen müsste. Trotzdem mochte ich Erlangen. Irgendwo im Spannungsfeld zwischen Piefigkeit und Studentendienstagen mit Bier für 1,80 Euro hatte ich mein erstes Zuhause weg von Daheim gefunden.
In einer schattigen Nische abseits der wuseligen Versuche meiner Miterlanger*innen, ihr Bedürfnis nach Natur und frischer Luft mit einer halben Stunde im Park zu befriedigen, fand ich eine leere Bank und ließ meine Tasche auf den Boden plumpsen. Die hellgrüne Tasse landete mit einem dumpfen ‚Klonk‘ im Kies. Ich setzte mich und blickte durch die Zweige eines Buschs – oder kleinen Baums, ich wusste so gar nichts über Pflanzen – hinüber zur großen Liegewiese in der Mitte unserer Stadtoase, dem wahrscheinlich sozialistischsten Ort Erlangens. Während sich sonst Restaurants, Bars und Cafés klar entweder an Student*innen oder an Siemensianer*innen richteten, mischten sich hier Slackline-balancierende Philosophiestudent*innen, Tupperdosen-klappernde Großstadteltern und rülpsende Alkoholiker*innen auf engstem Raum. Letztere waren zugegeben eher eine Randerscheinung in einer Stadt, die auf einem dicken Steuerpolster thronte. Aber vielleicht kam mir das auch nur so vor in meiner überprivilegierten Bildungsblase.
‚Genug lamentiert‘, beschloss ich und holte das Handy wieder hervor. Na, wie war die Lage? Ich begann zu tippen, hielt nach zwei Sätzen aber inne. Ließ sich das Ende einer sechseinhalbjährigen Beziehung, nein das Ende einer bis dato gesetzt scheinenden Version des Rests meines Lebens, wirklich in einer Textnachricht zusammenfassen? Ich löschte die beiden Sätze wieder und überlegte, Nele anzurufen. Aber dann würde ich meine Situation unmittelbar diskutieren müssen, bekäme eine direkte Reaktion auf etwas, das ich selbst noch nicht begriffen hatte. Mein Daumen schwebte über dem Aufnahmezeichen in unserem Chat. Vielleicht konnte ich ihr einfach davon erzählen, mit dem Mikrophon meines Telefons als Abstandhalter zwischen uns. Vielleicht konnte ich so meine Welt neu ordnen, ganz in Ruhe. Mein Daumen zuckte zweifelnd. Eigentlich fand ich Sprachnachrichten ja albern. Unsere Generation schien nicht mehr in der Lage, einfach miteinander zu reden, wir kommunizierten immer über drei Ecken. Schrieben sogar Textnachrichten mit der Frage, ob man mal eben anrufen könne. Wie dämlich. Bevor meine Gedanken wieder abdriften konnten, drückte ich schulterzuckend den Aufnahme-Button. Was soll’s:
Emma erzählt Nele von den neuesten Entwicklungen
Senden. Ich bin jetzt arbeitslos und single. Wenn mir drei Monate zuvor jemand gesagt hätte, dass das schon bald meine Antwort auf die Frage ‚Na, wie ist die Lage?‘ sein würde, hätte ich vermutlich am Geisteszustand meines Gegenübers gezweifelt. Jetzt hatte ich genau das ausgesprochen. Und nicht irgendwem gegenüber, sondern Nele. Ausgerechnet Nele. Die einzige meiner Freundinnen in einer unerschütterlich stabilen, fast schmerzhaft perfekt wirkenden Beziehung. Verheiratet. Kind. Sie hatte es geschafft. Hatte sich ihr eigenes kleines Universum gezimmert, in dem alles seinen Platz hatte und jeder seinen Platz finden konnte. Sie und Anton waren für mich der Inbegriff eines modernen Paars. Unterstützten sich gegenseitig, respektierten die Bedürfnisse des anderen, hielten sich den Rücken frei, um trotz Pärchenglück und Familienpflichten noch eigenständige Personen bleiben zu können. Ich beneidete sie um die wohlig-warme Gemütlichkeit, die die beiden ausstrahlten – auch, wenn ich wusste, dass sie sich das hart erarbeiten mussten. Sie hatten die schwierigen Studentenjahre in verschiedenen Städten, in denen man sich so leicht aus den Augen verliert, überstanden. Und hatten dann Neles Kindheitszuhause, voll beladen mit Erinnerungen und der Geschichte ihrer Familie, zum Ort ihrer gemeinsamen Zukunft erklärt. Das beeindruckte mich. Sie wirkten so – angekommen. Beim Gedanken an die enge Eckbank in der Küche der Jakobs, auf der sich unsere Freundschaft regelmäßig in Form von grübelnden Gesichtern über komplizierten Strategiebrettspielen oder spitzen Ellbogen am überbevölkerten Frühstückstisch Ausdruck verschaffte, musste ich schlucken. Mein eigenes kleines Universum war zum Greifen nah gewesen. Ein Lebensentwurf mit klarem Ziel: arbeiten, Nest bauen, vielleicht bald heiraten. Unsere eigene Eckbankwelt hatte uns schon zugeblinzelt, so kurz standen wir davor. Jetzt beobachtete ich mich dabei, wie ich diesen Weg Schritt für Schritt verließ und zunehmend ins Leere starrte. Kein Job mehr, kein Partner und im tiefsten Inneren war mir schon klar, dass ich auch die WG aufgeben würde – auch wenn ich mir das noch nicht eingestehen wollte.
Die beiden Häkchen neben meiner Sprachnachricht färbten sich blau und holten mich in die schattige Wirklichkeit des Stadtparks zurück. Nele hatte meine Nachricht gehört. Ich sammelte meine Stofftasche auf und warf sie kurzentschlossen in den nächsten Abfalleimer. Ich hatte mich offenbar für eine neue Richtung entschieden, da half jetzt alles Grübeln nichts. Es war Zeit, meine Sachen zu packen. Ich sah mich nochmal um. Eine ältere Frau mit zwei kleinen Schoßhunden schlenderte zwischen all den verschiedenen sozialen Grüppchen auf der Liegewiese durch. Ich hatte sie schon oft beobachtet. Scheinbar ging sie jeden Tag mit ihren beiden Fiffis hier Gassi. Ich blickte ihr einen Moment lang nach. Dann legte ich mir Musik auf die Ohren und machte mich auf den Heimweg. Meine Tage in Erlangen waren angezählt.
Sex war einfach immer eine gute Idee. Ich lag auf dem Sofa und war einfach zufrieden. Drei Stunden vorher hatte Freja einen Zwergenaufstand am Abendbrottisch gewagt und ich hatte sie unzeremoniell ins Bett verfrachtet, ohne selbst einen Bissen gegessen zu haben. Als ich blinzelnd gegen das grelle Licht die Treppe runterstolperte, kam Anton gerade erschöpft von der Arbeit. Ein Bauherren-Ehepaar ging ihm gerade besonders auf die Nerven, weil es beratungsresistent war und immer in letzter Sekunde alle sorgsam durchdachten Pläne wieder über den Haufen warf. Wir ließen uns gemeinsam auf das zu enge Sofa plumpsen und erzählten uns Kopf an Kopf von unserem jeweiligen Tag. Mein vormittägliches Ringen mit Kognitiver Narratologie und die nachmittäglichen Kämpfe mit Freja inklusive deren missglückte Kacka-Pipi-Versuche. Seine Stories von besagten Bauherren, die ihr Geld besser in eine psychotherapeutische Eheberatung gesteckt hätten als in ein Architekturbüro. Nachdem der erste Frust von der Seele war, schwiegen wir uns gemütlich eine Weile an. „Ich hab’ Hunger“, stellte ich fest. Anton grinste mich an. „Wir haben noch Fischstäbchen im Eisfach!“ Guilty pleasures. Wir produzierten eine Wagenladung Fischstäbchen mit Ketchup und Mayo. Geil. Im Eisfach entdeckten wir auch noch eine vergessene halbe Schale Vanilleeis, noch vom Weihnachtsessen. Megageil. Ich kratzte gut einen Zentimeter Eiskristalle ins Spülbecken, füllte großzügig zwei Müslischalen und schnippelte eine etwas angemackerte Banane darüber. Anton schmolz eine halbe Tafel Bitterschokolade, die er geschenkt bekommen hatte und die niemand mochte. Banana-Split. Hammergeil. Wir schauten eine Folge Dr. Who und vernichteten dabei unsere Beute. Dann verkeilten wir unsere Extremitäten zu einem großen Knäul und ließen Netflix die nächste Folge abspielen. Der perfekte Freitagabend. Nach der Hälfte der Folge befreite ich mich aus dem Knoten und verschwand kurz ins Bad.
Als ich zurückkehrte war Anton nackt. Ich musste so lachen, dass ich beinahe die Treppe wieder hinten runtergefallen wäre. Er grinste verlegen und hob entschuldigend die Schultern. Tja. Und dann hatten wir einfach richtig schönen Sex. Es lohnte sich immer und ich wunderte mich jedes Mal, dass wir nicht öfter auf die Idee kamen. Jetzt hatte ich mir Antons viel zu großen Bademantel übergeworfen und mich mit einem Buch auf das Sofa gekuschelt. Anton zockte in seinem Zimmer. Ich kontrollierte reflexartig mein Handy. 22:41 leuchtete es mir entgegen. Noch immer recht früh. Ich drückte mich glücklich noch ein bisschen tiefer in die Kissen und schlug mein Buch auf. Harry Potter. Zur Feier des Tages. Ich konnte dieses ganze Literaturzeugs ja nicht auch noch in meiner Freizeit lesen. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich ein Blinken. Eine Nachricht. Ferngesteuert griff ich zum Handy. Emma.
Wir tauschten noch eine Weile Belanglosigkeiten und den neuesten Tratsch aus, dann wünschten wir uns eine gute Nacht. Das Handy vibrierte. 23:45. Ich hatte irgendeinem Mechanismus im Telefon gesagt, dass das meine Schlafenszeit war. „Don’t judge me“, murmelte ich und ließ mich noch ein wenig tiefer ins Sofa sinken. Emma konnte einem echt leidtun. Sollte sie doch nach Irland fahren. Die Idee hatte was. Eine Weile sann ich über die paar wilden Tage nach, die wir gemeinsam dort verbracht hatten. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Herber Whiskey und eiskalter Atlantik. Durchtanzte Partynächte und eine lange Wanderung an den Klippen, mit schneidendem Wind in den Haaren. Boah, ich hatte auch Lust, mal wieder da hinzufahren. Ich vergrub mich unter meiner etwas muffigen Alpakadecke. Irgendwann demnächst. Bald.
Emma
Haja, wieso nicht. Ich legte das Handy aus der Hand und blies die Backen auf. Mein halb leerer Thai-Curry-Teller stand verlassen neben dem Klippenfoto auf dem Nachttisch und hüllte mein Zimmer in einen sanften Kokosmilchdunst. Ich konnte nicht glauben, dass ich den Gedanken an Irland nicht sofort weggefegt hatte. Ihn sogar in einer Whatsapp-Nachricht an Nele formuliert und ihm damit offiziell eine Daseinsberechtigung erteilt hatte. Irland, mein “Sehnsuchtsland” wie Rosamunde Pilcher es vermutlich ausdrücken würde. Vor sieben Jahren hatte ich ein Semester lang in Dublin studiert. Ok, „studiert“. Um ehrlich zu sein, sah ich das University College Dublin nur sporadisch von innen – außer, um zweimal die Woche beim schnuckeligen Cathal aus Galway Irisch zu lernen. Die paar Fetzen, die hängen blieben, beeindruckten wiederum andere schnuckelige Iren auf unseren ausgedehnten, Smithwicks-schweren Touren entlang der Dubliner Camden Street, wo sich ein Pub ans andere reihte. Neben den durchzechten Nächten an der Seite bärtiger Rugby-Spieler bestand mein Auslandssemester vor allem aus Schlafen und Friends schauen. Meine Tage begannen selten vor 12 Uhr mittags, der universitäre Lerneffekt war minimal. Ob das nun die persönlichkeitsbildende Erasmus-Erfahrung war, die meine Eltern und Professor*innen erwarteten, sei dahingestellt. Fakt war, dass ich in diesen sechs Monaten in Dublin, einer Hauptstadt, die sich anfühlte wie ein Dorf in zu großen Schuhen, mein Herz an Irland verlor. Immer wieder kehrte ich für Urlaube zurück, fuhr mit Nele und Charlotte die Westküste entlang, verbrachte ein Wochenende mit Alexander in Belfast, spazierte mit meiner Schwester die Grafton Street in Dublin entlang und schwelgte gemeinsam in Erinnerungen. Auch sie hatte Jahre vor mir einige Monate in der Stadt verbracht. Irland, unser “Sehnsuchtsland”.
Ich ließ mich auf den Rücken fallen und starrte an die Decke. Einatmen. Ausatmen. Vorsichtig ließ ich zu, dass sich der Gedanke erneut in meinem Kopf formte: „Ich will zurück nach Irland.“ Ich spürte ein freudiges Prickeln in der Magengegend. Die Idee schien glasklar. Die einzige logische Konsequenz. Abgesehen davon, dass sie nicht unlogischer sein konnte. Ich würde befördert werden, war dabei, meine Karriere voranzutreiben. Und meine Beziehung. Alexander und ich hatten eine Wohnung gefunden. Potenziell zumindest. Auf eine Insel am Rande Europas abzuhauen war in dieser Situation nicht unbedingt sinnvoll. Ich setzte mich wieder auf, machte das Handy an und las noch einmal Neles Nachrichten. Ich find’s gut. Ich besuch‘ dich in Irland. Ich bezweifelte, dass ihr Ratschlag durchdacht gewesen war. Dass ihr klar war, was ich alles aufgeben müsste, um das durchzuziehen. Ich wusste es ja selbst noch nicht. Und trotzdem. Die Leichtigkeit, die Selbstverständlichkeit ihrer Nachricht – Ich besuch‘ dich – ließen die Idee realistisch erscheinen. Machbar.
Ich schälte mich aus dem Bett und lief hinüber zu meinem Regal in der Ecke, das als unerbittliches Schandmahl jeden, der es nicht eh schon wusste, darauf aufmerksam machte, wie unordentlich ich sein konnte. Auf den oberen beiden Brettern mischten sich wild Bücher und DVDs. Mein Blick fiel auf die zahlreichen Staffelboxen verschiedener amerikanischer Sitcoms. Von How I met your Mother bis Gilmore Girls – Serien, die ich jetzt auf Netflix schaute. Alexander hatte Recht, mal wieder. Ich war wirklich nicht besonders abenteuerlustig, was mein Entertainmentprogramm anging. Bis vor nicht allzu langer Zeit schleppte mich Alex regelmäßig ins Kino. Wollte meinen Horizont erweitern. Tatsächlich war ich ihm dankbar dafür. Ich hatte einen Bachelor-Abschluss in Medien- und Filmwissenschaft, kannte aber die wichtigsten Klassiker der Filmgeschichte nicht. Das Schweigen der Lämmer, zum Beispiel, nie gesehen. Genauso wenig wie Pulp Fiction oder Star Wars. Dafür hatte ich im Grundstudium ein Semester lang Apocalypse Now von vorne bis hinten durchanalysiert. In Redux-Version. Ich musste kurz lachen, als ich mich daran erinnerte, wie Nele und ich an einem herrlichen Sommernachmittag stundenlang in der abgedunkelten Bude unseres Kommilitonen Olli festgesessen waren, eingehüllt von dichten Marihuana-Schwaden, und verzweifelt versuchten, mit ihm ein sinnvolles Handout für unser Referat zusammenzustellen. Thema: „Psychedelik in Apocalypse Now: Die Rolle von Wahn und Wahnsinn in der Figurengestaltung“. Nele und ich hatten keinen blassen Schimmer, worauf der Dozent dabei hinauswollte. Olli fabulierte ununterbrochen vor sich hin, den Joint fest zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt, und gestikulierte wissend mit beiden Händen, während er sprach. Er war überzeugt, dass er das Thema voll erfasst hatte. Er war ja auch angehender Regisseur. Da fällt es eben leicht, einen Film auf eine andere Ebene zu heben. Diese wunderbare Kunst. Irgendwann ergaben Nele und ich uns unserem Schicksal und rauchten einfach mit. Arbeiteten an unserer eigenen Psychedelik, anstatt der von Apocalypse Now.
Kopfschüttelnd wendete ich mich dem dritten Regalbrett zu. Neben einem weißen Korb, in dem sich sämtliches Papierzeug von Geburtstagskarten bis Gehaltsabrechnungen ineinander verkeilten, fand ich einen Notizblock. Wie immer, wenn ich etwas durchdenken wollte, musste ich eine Liste machen. Selbst wenn diese nur zwei Punkte haben würde – ich musste diese vor mir sehen, um mich ordnen zu können. Ich ging zum Schreibtisch und wühlte unter einem Berg ungelesener Zeitungen nach einem Kugelschreiber. Noch so ein Mahnmal. Sorgfältig gefaltete Ausgaben der Süddeutschen, die bewiesen, dass ich gerne eine Version meiner selbst erschaffen würde, die bestens informiert war über Politik und Weltgeschehen. So wie Charlotte. Und Jonathan. Aber ich kam einfach nicht zum Lesen, obwohl ich eh schon nur die Wochenendausgaben bekam. Mit Stift und Block bewaffnet setzte ich mich schließlich zurück auf mein Bett. Die Knie angewinkelt, den Rücken an die Wand gelehnt, begann ich zu schreiben. Überschrift: „Irland“. Sehr kreativ. Ich steckte mir den Kuli zwischen die Zähne und überlegte. Wenn, dann würde das mehr als eine einwöchige Urlaubsreise werden. Ich notierte:
Job kündigen (?)
WG (?)
Auto
Alexander….(?)
Da war es. Mein Leben in vier Stichpunkten. Ich schloss die Augen und stellte mir das Unvorstellbare vor. Was, wenn ich alles aufgebe? Wieder überraschte ich mich selbst. Ich fühlte mich als hätte ich nach langem Suchen endlich das richtige Puzzleteil gefunden. Das passt.
„Emma, Rainer will dich sprechen.“ Linda wieder, die Büroassistentin. Nicht schon wieder, dachte ich und wappnete mich für einen weiteren Sturm selbst auferlegten Wahnsinns. Drei wunderbare Tage lang hatte ich das Gefühl gehabt, meine To-Do-Liste unter Kontrolle zu haben. Keiner der aufgeführten Punkte machte Sperenzchen, alle saßen brav an Ort und Stelle und warteten geduldig darauf, abgehakt zu werden. Die Wichtigsten ganz oben, die mittel-wichtigen darunter und ganz unten all die armen Aufgaben, die seit Monaten vor sich hinwaberten und allmählich unangenehm faulig zu riechen begannen. Ich lief den Gang entlang und betrachtete eingängig den anthrazitfarbenen Teppich. Ein bleiernes Band ins Verderben, dachte ich.
Zu meiner Überraschung war Rainer bester Laune, als ich sein Büro betrat. Er strahlte mich an: „Da ist sie ja, mein bestes Pferd im Stall!“ Ich lachte unsicher. „Was ist denn mit dir los?“, fragte ich verwirrt. Wir setzten uns in seine Sofaecke, die immer so tat als wäre ein Meeting informell, aber gleichzeitig eine unbiegsame Autorität ausstrahlte. Ich strich mit der Hand kurz über die kalte, schwarze Oberfläche meines Sitzpolsters und legte sie dann in meinem Schoß ab.
„Du hast super Arbeit geleistet, du weißt schon, mit dem Event“, begann Rainer, während er mir ein Glas Wasser reichte. „Ich hatte gerade ein Feedbackgespräch dazu mit unserem Kunden. Sie hätten dich gerne als Hauptansprechpartnerin, Emma. Key Account. Ich kann dich zur Teamleitung machen.“ Ich sah ihn überrascht an. Damit hätte ich nicht gerechnet – nicht nach den vielen Momenten der letzten Wochen, in denen die Welt gefühlt der sicheren Apokalypse entgegensteuerte, weil der neue Veranstaltungsort keine Stehtische mit Hussen in der korrekten Farbe des „Corporate Designs“ zur Verfügung stellen konnte oder das Zitat in der Pressemitteilung, das auf Deutsch für hervorragend befunden wurde, auf Englisch plötzlich nicht mehr zusagte. „Ist das dein Ernst?“, fragte ich. Rainer lächelte. „Du hast bewiesen, dass du mit schwierigen Situationen klarkommst. Du hast dir den Arsch aufgerissen – und harte Arbeit zahlt sich aus.“
Ich lauschte in mich hinein und wartete darauf, dass ich mich zu freuen begann. Das waren gute Neuigkeiten. Ich hatte mir den Arsch aufgerissen – und jetzt ging meine Karriere in die nächste Phase. So sollte es sein. Key Account klang gut, nach Erfolg und Gehaltserhöhung. „Was denkst du, Emma? Das ist doch genial, oder?“ Rainer war euphorisch. „Ich weiß, das ist unser schwierigster Kunde, aber wenn du das ein Jahr lang durchhältst, stehen dir alle Türen offen. Garantiert.“ Ein Jahr. Ein Jahr, und dann stehen alle Türen offen. Fragte sich nur, wohin die führen würden. Ich gab die Warterei auf mein eigenes Glücksgefühl auf. „Ob ich mir das antun soll?“ Mit einem hölzernen „Haha“ signalisierte ich halbherzig, dass ich nur witzelte.
Rainers Gesichtsausdruck wurde ernst. Er zog die Augenbrauen zusammen und schaute mich eindringlich an, beugte sich sogar ein wenig vor. „Alles in Ordnung, Emma? Freut dich das gar nicht?“ Ich wand mich innerlich. Ich war krankhaft harmoniebedürftig, hasste es, zu widersprechen. „Doch, klar freue ich mich über das positive Feedback“, sagte ich zögernd mit einer kurzen Pause zwischen ‚mich‘ und ‚über‘. „Aber?“, fragte Rainer. „Ähm…“ Ich versuchte, Zeit zu gewinnen und wusste nicht genau, wofür. Natürlich freute ich mich. Wie sollte man sonst eine Beförderung aufnehmen? Ich hob den Kopf, um Rainer anzulächeln. Die kleine Bewegung strengte mich an. Mir war es noch nicht gelungen, die Schwere loszuwerden, die der Stress des Veranstaltungsprojekts auf meinen Kopf gelegt hatte. „Nee, klar, das ist super“, sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihm. „Ich bin wohl einfach ein bisschen urlaubsreif.“ Rainer nickte verständnisvoll. Mit dieser Aussage konnte er etwas anfangen. Urlaubsreif zu sein war schick im Agenturumfeld. Wer Urlaub brauchte, hatte viel Stress gehabt. Wer viel Stress hatte, arbeitete viel und wer viel arbeitete, war offensichtlich wichtig. Die Formel funktionierte – Hauptsache, man kam nicht auf die Idee, tatsächlich Urlaub zu nehmen. „Pass‘ auf“, sagte Rainer, wieder voller Elan. „Geh‘ ins Wochenende und denk‘ darüber nach. Du musst das natürlich nicht machen, du kannst auf deiner aktuellen Stelle bleiben. Überleg‘ dir in Ruhe, was du willst – und wir reden am Montag darüber.“ Erleichtert verließ ich sein Büro. Ich hatte Zeit gewonnen. Jetzt musste ich nur noch rausfinden, wofür ich die brauchte.
„Und was machen Sie beruflich, Frau Lorenz?“ Die Immobilienmaklerin lächelte mich freundlich an und umklammerte bestimmt ihr Klemmbrett mit der einen Hand, den Kulli in der anderen gezückt. „Ich arbeite in einer PR-Agentur, unbefristeter Vertrag“, antwortete ich brav. Überleg‘ dir in Ruhe, was du willst. Das Gespräch mit Rainer klang mir noch in den Ohren, aber ich zwang mich, mich auf die Dame mittleren Alters mit den krausen, braunen Locken zu konzentrieren. Kaum hatte ich das Büro meines Chefs verlassen, hatte Alexander mich angerufen. Das tat er sonst nie während der Arbeit. Leicht beunruhigt war ich rangegangen. Hoffentlich war nichts passiert. „Emma, ich hab‘ eine Wohnung, die wir uns ansehen können“, rief er. Seine Stimme klang aufgekratzt. „Aber wenn, dann gleich heute Abend, hast du Zeit?“ Ich schluckte etwas überrumpelt. Plötzlich waren unsere Pläne keine digitale Fantasie auf irgendwelchen Immobilien-Webseiten mehr, sondern manifestierten sich konkret in einer Wohnung – die existierte, und frei war. „Hallo?“ Alexander wurde ungeduldig, klang nicht mehr freudig, sondern direkt wieder angenervt. Ich räusperte mich. „Klar hab ich Zeit, ich freu‘ mich“, sagte ich und war froh zu merken, dass das nicht gelogen war.
Und jetzt standen wir also da – in einer kahlen Wohnung, die unsere erste gemeinsame werden könnte. Drei Zimmer. Balkon. Alles da. Die Maklerin nickte zufrieden und notierte etwas auf ihrem Klemmbrett. Unbefristet angestellt, vermutete ich. „Schauen Sie sich ruhig noch mal in Ruhe um“, schlug sie vor. Ihren Namen hatte ich schon wieder vergessen. Frau Meyer. Oder Müller. Ich war so schlecht mit Namen. Grübelnd ließ ich den Blick schweifen. Vielleicht war’s auch Schmidt. „Wie findest du die Einbauküche?“ Alexander riss mich aus meinen Gedanken und marschierte voran in den benachbarten Raum. Die Küchenzeile wirkte, als würde sie auf keinen Fall Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen. Weiße Fronten aus billigem Holz. Schmale silberne Griffe an den Hängeschränken. Geschlossene Hängeschränke, so gar nicht schwedisch. Das hatten wir eigentlich nicht gewollt. „Passt doch, oder?“, meinte ich unbestimmt. Alexander zuckte die Schultern. „Ist halt nix besonderes, aber ist ok.“
Wir schlenderten weiter ins Schlafzimmer – klein, aber ausreichend. Es war, als würde die Wohnung präzise die Linie des Annehmbaren treffen. Ein perfekter Kompromiss. Ich stellte mich neben Alexander und strich ihm mit der Hand über den Rücken. „Wir könnten uns ein großes Bett kaufen“, meinte ich augenzwinkernd. Er lächelte mich kurz an, wurde dann aber wieder ernst: „Am besten mit zwei Matratzen, das ist besser für den Rücken.“ Da war sie wieder, die Matrix der Rationalität. Recht hatte er natürlich. Und trotzdem meldete sich wieder der winzige Stich zwischen meinen Rippen. Ich ignorierte sowohl den Stich als auch Alexander und ging zurück ins Wohnzimmer. Die Maklerin – ich hatte beschlossen, dass sie Frau Meyer hieß – empfing uns strahlend. „Na, ist das nicht eine tolle Wohnung für ein junges Paar?“ Ich fand es ein wenig seltsam, von uns selbst in der dritten Person zu sprechen, nickte aber freundlich und trat auf den geräumigen Balkon hinaus. Er ragte in den Hinterhof des Gebäudekomplexes. Eine alte Kastanie streckte ihre kahlen Äste fast bis ans Geländer. Die Abendsonne stemmte sich dagegen und warf lange, krakelige Schatten an die Hauswand. Hier war genug Platz für einen Tisch und zwei Stühle, vielleicht sogar eine Bank oder ein kleines Sofa. Der perfekte Platz zum Wein schlürfen, tratschen, lesen. Die Wohnung war schön, keine Frage.
„Und, was denkst du?“, fragte Alexander, als wir ins Auto stiegen. „Super“, antwortete ich und verdrehte die Augen über mich selbst. In letzter Zeit sagte ich ganz schön oft ‚super‘. „Besonders der Balkon hat mir gefallen“, fügte ich hastig hinzu. „Ja, und bezahlbar ist sie auch“, sagte Alex. Er drehte den Zündschlüssel und legte den Rückwärtsgang ein. „Ich bin mir nur nicht sicher“, begann er zu grübeln, während er aus der engen Parklücke am Straßenrand rangierte, „ob man wirklich gleich die erste Wohnung nehmen sollte, die man sich anschaut. Und gescheite Parkplätze gibt’s auch nicht.“ Ich verdrehte wieder die Augen, dieses Mal über ihn. Alexander fand immer ein Haar in der Suppe. Ich ließ ihn in Ruhe ausparken und sagte erstmal nichts.
Erst als wir auf die Autobahn auffuhren, hakte ich nach: „Warum sollten wir nicht die erste Wohnung nehmen, wenn sie uns doch gefällt?“ Er zuckte die Schultern. „Ich weiß auch nicht. Vielleicht gibt’s noch was Besseres.“ Schweigend fuhren wir zurück. Er setzte mich an meiner Wohnung ab. Normalerweise übernachteten wir am Wochenende beieinander, aber Alex wollte sich noch mit Arbeitskollegen treffen. „Am Montag müssen wir Bescheid geben, überleg’s dir halt“, sagte er, bevor ich ausstieg. Ich nickte. „Okay, danke, dass du das organisiert hast. Die Wohnung hat mir wirklich gut gefallen“, versicherte ich und beugte mich zu ihm. Etwas steif drehte sich Alexander zu mir und gab mir einen knappen Abschiedskuss. „Bis morgen!“, verabschiedete ich mich und kletterte aus dem Auto. Alex winkte und fuhr davon.
Ich seufzte. Die Wogen schienen geglättet zu sein. Alles verlief wieder nach Plan. Ich war erleichtert – glaubte ich zumindest. Die Schwere in meinem Kopf war inzwischen in die Magengegend gewandert und ließ sich nicht mehr richtig zuordnen. Ich beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken und sperrte die Haustür auf. Erstmal Abendessen, vielleicht waren die Mädels ja zu Hause. Ich malte mir schon aus, wie ich ihnen bei einem Teller Pasta von der Wohnung erzählen würde, als ich die Tür zu unserer WG öffnete und enttäuscht feststellte, dass das Ganglicht aus war. Niemand zuhause. Ich hängte meine Handtasche an die Garderobe, warf meine braune Lederjacke achtlos darüber und ging in die Küche, um meine Vorräte zu prüfen. Nichts da, nicht einmal Tomatensoße. Eine einsame Karotte lag in meinem ansonsten leergefegten Kühlschrankfach. Ich schnaubte. Also auch keine Pasta.
Schicksalsergeben griff ich zum Handy und rief beim Thai-Imbiss meines Vertrauens an. „Nummer 14 wie immer?“, fragte die freundliche Dame am anderen Ende der Leitung. „Ja, wie immer. Dankeschön“, murmelte ich und kramte schon mal nach meinem Geldbeutel. Das rote Chicken Curry war zwar kein Gourmetgenuss und ich wollte gar nicht wissen, welche antibiotikaverseuchten Kreaturen dafür ihr Leben hatten lassen müssen, aber dafür wurde es innerhalb von fünfzehn Minuten geliefert. Auf „Kim’s Asia Box“ war Verlass und ich wusste, wovon ich sprach. Etwa dreimal die Woche retteten mich meine unermüdlichen Freunde aus dem dampfenden Imbisswagen im Industriegebiet vor dem Hungertod, wenn sich im Büro mal wieder alle erfolgreich davon überzeugt hatten, dass absolut keine Zeit für Mittagspause war.
Gedankenverloren kaute ich auf einem gummiartigen Stück Hähnchen herum. Ich saß im Bett und ließ eine Folge Friends laufen, ohne wirklich zuzuschauen. Überleg’s dir halt. Diesen Satz hatte ich heute zweimal gehört. Überleg‘ dir was du willst. Ich ließ den Satz auf mich wirken. Mein Blick schweifte vom Fernseher hinüber zu meinem Nachttisch und blieb an dem Foto aus Kilkee hängen. Ich hörte auf zu kauen. „Ich will nach Irland“, dachte ich und runzelte erstaunt die Stirn.